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Entwicklungen der Reise – und des Notariats
Der Notar glaubte wie ein erwachter Siebenschläfer eine ganz umgegossene Stadt zu durchtreten, teils weil er einige Tage daraus weggewesen, teils weil eine Feuersbrunst, obwohl ohne Schaden, da gehauset hatte. Noch in den Gassen blieb er auf Reisen. Auch zog das Volk, durchs Feuer aus der Alltäglichkeit aufgerissen, gescharet hin und her, um das Unglück zu besehen, das hätte geschehen können. Walt lief zuerst zum Bruder mit dem größten Drange, dessen Neugierde unglaublich zu spannen und zu stillen. Vult empfing ihn ruhig, sagte aber von sich, er sehe erhitzt aus und gebe das glühende Gesicht der Feuers-Not schuld. Der Notar wollte ihn sofort mit den erlebten Reise-Wundern in die Höhe schrauben und droben erquicken; er schickte daher die lockendsten Ankündigungen voraus, indem er sagte: »Bruder, ich habe dir Sachen zu melden, in der Tat Sachen« – »Auch ich«, unterbrach Vult, »bin mit einigen sieben Wundern der Welt versehen und kann erstaunen lassen. Nur erst das erste! Flitte genas! Noch staunt und starret die Stadt.« – »Unter dem Lazarus-Tor sah ich ihn schon am Schalloch stehen«, versetzte Walt, eilig wegredend. – »Das ist ganz natürlich«, fuhr jener fort. »Denn der Doktor Hut, ein wahrer Chapeau wie wenige, hat ihn wieder auf die Hinter-Beine gebracht, so daß der Testator sich selber beerbt als allernächster Anverwandte und du so wenig bekommst als der Rest. Wie freilich darüber die alten Ärzte, besonders die ältesten, welche in jeder Stadt als ein wahrer Rat der Alten einen Alterserlaß (veniam aetatis) nicht von 20, sondern von allen irdischen Jahren dem jüngsten erteilen und so die Sterblichkeit der Einwohner köstlich mit der Unsterblichkeit verknüpfen, wie sie, sag' ich, darüber, daß ein so junger Wicht einen nicht ältern herstellte, außer sich sein müssen: dies kann man ganz natürlich noch wenig oder nicht bestimmen, bevor gar eine bekannte Arbeit von Flitte gedruckt und bekannt geworden. Es hat nämlich der Elsasser eine schwache Danksagung ein paar Male umgearbeitet, worin er im Reichs-Anzeiger (Doktor Hut schießt die Inserats-Gelder her) mitten vor der Welt Huten gerührt genug dankt und beteuert, nie könn' ers ihm lohnen, was ein so wahres Gefühl ist, da er nichts hat.«
Walt konnte sich nicht länger eindämmen: »Liebstes Brüderlein,« begann er, »wahrlich mehr deinen Einfällen als deinen Berichten horcht' ich zu; denn das, was ich dir zu erzählen... Deinen Brief nämlich mit dem Wunder-Traum hab' ich wirklich und in der Tat empfangen; aber was wäre bloß dies? Eingetroffen ist er von Punkt zu Punkt, von Komma zu Komma; höre nur!«
Er legte ihm jetzt die Spiel-Wunder zum ersten Male vor – dann (wegen der verworrenen Wellen der alles heranschwemmenden Flut) – zum zweiten Male. Kein Abenteuer, selber das schlimmste, ist je so selig zu erleben als zu erzählen. Ja, er hätte beinahe von Winas liebendem Blick unter dem Wasserfalle in seinem Sturm den Schleier gehoben, hätt' er nicht auf dem ganzen Wege, mit Wina an einer Hand und mit Vulten an der andern, das Wichtigste vorläufig bedacht und sich die stärksten Gründe eingeprägt gehabt, daß er durchaus Wina in den General einkleiden müsse und Empfindungen, obwohl nicht Tatsachen, unterschlagen; so gern er auch in das einzige ihm vom Leben aufgeschloßne Herz die beiden Arme seines in Liebe und in Freundschaft geteilten Stroms ergossen hätte.
»Aus deinen Abenteuern in Bezug auf meinen Brief«, sagte Vult, »mach' ich eben nicht das Meiste – ich lege dir nachher eine sehr gute Hypothese darüber vor –, hingegen in Jakobinens ›Stell-dich-ein‹ säh' ich mit Freuden klärer.« Walt erzählte dann den Nachtbesuch ganz wahr, hell und leicht und vergaß keine einzige Empfindung dabei.
»Nichts will ich leichter erklären«, fing endlich Vult an. »Kann denn nicht ein Kerl, der alle Verhältnisse weiß, dir durch Wälder und Felder immer drei Schritte nach- oder vorgeschlichen sein – mit der Flöte geblasen haben – deinen Namen in den Krügen und Hotels vorausgesagt – die kleinste Sache bestellt und angestellt, z.B. mit dem Bilderhändler und dem Quodlibet und dessen quod deus vult est bene factus, statt factum – und so fort? Was den Brief anlangt, so war er ja in meinem Namen und Stil so leicht zu schreiben, unterwegs aufzugeben, darin alles zu weissagen, was man eben selber vollführen wollte, das Geld aber eine Minute vorher einzugraben!« – »Unmöglich!« sagte Walt. »Und vollends der Larvenherr?« – »Hast du die Larve etwa in der Tasche?« sagte Vult. Er zog sie hervor. Vult drückte sie vor das Gesicht, funkelte ihn darhinter mit Zorn-Augen an und rief wild mit bekannter Stimme des Larvenherrn: »He? Bin ichs? – Wer seid ihr?« – »Himmel, wie wäre denn das?« rief der erschrockene Walt. – Sanft hob Vult die Larve ab, sah ihn ganz heiter an und sagte: »Ich weiß nicht, was deine Gedanken über die Sache sind; ich sentiere, daß sowohl der Larvenherr und Flötenspieler als auch ich und der Briefschreiber dieselben Personen sind.« – »Mein Verstand steht still«, sagte Walt. »Kurz, ich wars«, beschloß Vult. Aber der Notar wollte seiner eigenen Bestürzung nicht recht glauben: »Etwas Wunderbares«, sagte er, »steckt gewiß noch hinter der Zauberei; und warum hättest du mich überhaupt so sonderbar hintergangen?«
Aber Vult zeigte, daß er ihm einige Lust zuwenden, ja einige Unlust ersparen wollen. Er fragte schelmisch-blickend, ob er nicht zur rechten Zeit seine Maske ins Zimmer geworfen, ehe Jakobine die ihrige fallen lassen. Endlich sagte er gerade heraus, die Klausel des Testaments, welche für Fleisches-Sünden um halbe Erbschaften bestrafe, sei allgemein bekannt, und Walt sei leider stets sehr unschuldig, auf nichts aber werde in einer Aktion öfter und besser geschossen als auf Schimmel wegen der Farbe der Unschuld – die sieben Erben decken, wie kluge Feldherrn, ihr Lager mit Morast – »kurz,« beschloß er, »wie Taubenhändler wahrhaft betrügen und zwei Täubinnen oft für ein ordentliches Paar Ehetauben ausgeben: hätte man es mit dir und der Aktrice nicht ebenso machen können, wär' ich dir nicht nachgereiset?« – Da wurde der Notar blutrot vor Scham und Zorn, sagte: »O garstig über die Maßen« – setzte unter dem Umherfahren nach dem Hute hinzu: »In diesem Lichte steht ein armes Mädchen bei dir? Und dein eigner Bruder dazu?« – lief fort – sagte wild weinend: »Gute Nacht; aber bei Gott, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll« – und ließ keiner Antwort Zeit. Vult ärgerte sich fast über den unvermuteten Zorn.
»Ich, ich?« – wiederholte Walt auf der Gasse innigst-verletzt – »ich hätte mich versündigen sollen an einem Tage, wo mir Gott den rührendsten Reise-Abend bescherte und die fromme Wina mir so nahe lebte? – Das wolle Gott nicht!« –
Als er aber in sein Stübchen trat: überflog ihn eine ganz besondere Seligkeit und zehrte den Schmerz auf: – eine neue Empfindung wird an einem alten Orte lebendiger; – es war Winas guter Blick unter dem Wasserfalle, der jetzt ein ganzes Leben wie ein Morgenlicht golden überstrahlte und alle Taublumen darin blitzen ließ. Vieles um ihn war ihm nunmehr zu eigen geworden so wie neu: der Park unten, in dessen Gängen er sie einmal gesehen, und Raphaela im Hause, die ihre Freundin war, gehörten unter die Habseligkeiten seiner Brust. Selber seinen eignen Roman Hoppelpoppel kannte er kaum mehr, auf so neue Gemälde des liebenden Herzens stieß er jetzt darin, von denen er erst diesen Abend recht faßte, was er neulich etwa damit haben wollen; nie fand ein Autor einen gleichtöniger gestimmten Leser als er heute. Er bauete sich sogleich ein zartes Bilderkabinet für die Gemälde von den Auftritten, die Wina vermutlich diesen Abend haben könnte; z.B. im Schauspielhause, oder in den Leipziger Gärten, oder in einer gewählten Gesellschaft mit Musik. Darauf setzte er sich hin und beschrieb es sich mit Feuerfarben, wie ihr etwa heute sei in Glucks Iphigenie auf Tauris; dann machte er selige Gedichte auf sie; dann hielt er die Papiere voll Eden ins Talglicht und verkohlte alles, weil er, sagt' er, nicht einsehe, mit welchem Rechte er ohne ihr Wissen so vieles von ihr offenbare ihr oder andern.
Als er zu Bette ging, verstattete er sich, Winas Träume sich zu erträumen. »Wer kann mir verbieten,« sagt' er, »ihre Träume zu besuchen, ja ihr sehr viele zu leihen? Ist der Schlaf vernünftiger als ich? O sie könnte im wilden Wahnsinn desselben ja recht gut träumen, daß wir beide unter dem Wasserfalle ständen, verbunden aufflögen in ihn, umarmend hinschwämmen auf seinem flüssigen Feuergolde und zum Sterben herabstürzten mit ihm und vergöttert still nun weiter flössen durch die Blumen, in den Strahlen, sie mit ihrer Welle in meine schimmernd, und wir so uns ineinander verrönnen in das weite hohe blaue reine Meer, das sich über die schmutzige Erde deckt. Ach, wenn du so träumen wolltest, Wina!« – Dann sah er auf dem Kopfkissen recht hell und scharf – weil nachts in der wilden Zeit des Vortraums vor der Seele alle blasse Bilder junge Lebensfarben annehmen und die Gestalten blitzende Augen öffnen – das liebe, milde Auge Winas vor sich aufgetan und wie einen Mond, den der Tag zum Wölkchen verdünnte, am Nachthimmel herrschend strahlen; und er sank in das liebe Auge, wie ein Frommer in das Auge, unter welchem man Gott abbildet. Wie leicht und dünn ist ein Blick und ein erinnerter! Kaum das Alpenröschen ist er, das der Mensch von der höchsten Stelle seines Lebens herunterbringt. Aber doch hält der Mensch unter der Masse von Massen und Weltkugeln sich gern an die kleine, die ein Augenlid bedeckt, an einen verhauchten, kaum entstandenen Blick – und auf dem himmlischen Nichts ruht sein Paradies mit allen Bäumen fest! So sind Geister; denn da die Unsichtbarkeit ihre Welt ist, so ist ein Nichts leicht ihre Sichtbarkeit!
Am Morgen lag Sonnenschein und Seligkeit um ihn her. Alle Blüten zu Zankäpfeln waren abgefallen. Die Morgenstunde hat Gold, aber das reinste, im Mund; die Sonne scheidet das in Schlacken vererzte Gemüt; das finstere Übermaß, besonders des Hasses, hört auf. Walt sah sich um im Morgenlicht, fand sich wie von einem Arm aus den Wolken durch alle übereinander stehenden Wolken des Lebens durchgehoben ins Blau – Wer liebt, vergibt, wenigstens den Rest dem Rest; er fragte sich, wie er denn gestern, gerade am Heimkehr-Feste, so gegen den armen Bruder aufbrausen können.
»Ja wohl den armen Bruder,« fuhr er fort; »denn er hat gewiß keine Geliebte, deren Liebesblick ihm wie ein Lebensbrennpunkt im Herzen bleibt.« Nun ging er ganz ins Einzelne und stellte sich – nach seinem Instinkte, der ihn stets in die fremde Seele trieb und in ihr über sie hinzuschauen zwang – an Vults Stelle, wie dieser nichts habe, nichts wisse (vom Wasserfalle nämlich), wie er alles oder vieles so sehr gut meine, besonders für Walt, wie er nur herrschsüchtig hart verfahre usw.
In dieser Gesinnung beschloß er, zum Bruder zu gehen und kein Wort zu sagen über die Essig-Sache, sondern bloß mit seiner Hand eine schon in Mutterleib verknüpft gewesene anzufassen und einiges gelassen zu besprechen, besonders was die bevorstehende Wahl eines neuen Erbamts betreffe.