Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vult hörte Klothars Stimme und lief aus der Mooshütte her, worin er aus Verdruß seine alte Kunst, mit seinem Ich eine prügelnde Stube vorzustellen, getrieben hatte. Walt stand an der Statue der Vestalin, die den Kopf senkte, als wär' er ihr Ehemann. Der Flötenist, auf eine noch geistigere Schlägerei treffend, als seine gewesen, sah aus allem, daß Walt seine adelige Hülse und Raupen-Haut abgesprengt habe und als feste unbewegliche Puppe da hänge. Er bat sich sogleich vom Grafen einige Erklärung des Unwillens aus.

»Sie liegt in der Sache« – versetzte, ohne ihn anzusehen, dieser – »nur begreif' ich nicht, wie man keck genug dieselbe Person aufsuchen kann, deren Briefe man lieset, man usurpiert und man in falsche Hände spielt, die ausdrücklich darin verbeten wurden.« – »O ich habe nichts gelesen« – sagte Walt – »ich habe nichts getan; aber ich erdulde gern das härteste Wort, da ich ein solches Unglück über Sie gebracht«, sagte Walt und zog im Krampf der Hand einen kurzen Theaterdolch aus dem menschenfeindlichen Überrock und schwang ihn unbewußt. Der Graf bog sich ein wenig zurück vor dem Sack-Stilett: »Was soll das?« sagt' er zornig. – »Herr Graf,« fing Vult sehr stark an, »auf mein Ehrenwort, er hat nichts gelesen, sag' ich, ob ich gleich nicht weiß, von was die Rede ist. – Gottwalt, besieh', was du in der Hand hast!« Glühend stieß dieser die Waffe in die Scheide der Tasche.

»Herr van der Harnisch,« wandte Klothar sich zum Flötenspieler, »von Ihnen hab' ich mir eine besondere Erklärung auszubitten, inwiefern Sie mir diesen Notar unter fremdem Namen präsentieren konnten.« – »Ich stehe zu jeder da« – versetzte Vult – »als meinen Freund und Verwandten gab ich ihn – das bleibt er – ich konnt' ihn auch als mutmaßlichen Gesamt-Erben der van der Kabelschen Erbschaft präsentieren. Ist sonst noch eine Erklärung nötig?« – »Ich würde sie fordern,« versetzte der Graf, »wenn ich nicht eben in den Reise-Wagen stiege.« – »Ich bin erbötig, nachzusteigen und darin auseinanderzusetzen oder überall«, sagte Vult und ging dem Grafen beleidigt nach, der auf seinen Wagen mit stolzer Kälte zuschritt. »O hör' auf mich, schone mich,« bat Walt, »du weißt nicht, was ich ihm genommen.« –

»Der Narr soll nicht hitzig reden, und du bist auch einer«, fuhr er den Notarius an. »Herr Graf, Sie sind mir noch Antwort schuldig«, sagte Vult. »Gar keine; aber ich frage: sind Sie beide Brüder?« sagte Klothar.

»Vater und Mutter müssen Sie fragen, nicht mich«, sagte Vult. Der unglückliche Notar konnte matt den Sargdeckel nicht aufstoßen, zu welchem hinunter er die polternden Zurüstungen zu einem Duelle über seinem Kopfe hörte. »Wenn Sie niemand unter falschem Titel präsentiert haben als sich selber, so brauch' ich keine Erklärung; von Bürgerlichen forder' ich keine«, sagte der Graf und saß im Wagen. Vult ließ die Türe nicht schließen und rief noch hinein: »Können denn nicht die zwei Narren von Adel sein – oder gar drei?« Aber der Wagen rollte fort, und er blieb mit vergeblicher Tapferkeit zurück.

Walt konnte erdrückt dem Menschen kein Glück nachwünschen, dem er das größte genommen; nicht einmal im Herzen wagt' er es, Wünsche auszudenken. Ohne Worte schlich er mit dem stillen Bruder aus dem verlornen Eden-Garten. Vult sah den Bruder unter der innern tiefhängenden Wetterwolke gebogen gehen; aber er sprach kein Wort zum Trost. Walt nahm dessen Hand, um sich an ein Herz anzuhalten, und fragte: »Wer kann mich noch lieben?« Vult schwieg und hielt seine Hand nur schlaff. Walt entzog sie; das steife scharfe Schweigen hielt er für eine Strafpredigt gegen seine Versündigung. Er ging weinend durch die lustigen Abend-Gassen, neben einem Bruder, um dessen eifersüchtige Brust die Tränen wie versteinernde Wasser nur Stein-Rinden ansetzten.

»Warum hast du mich beschützen wollen?« sagte Walt. »Ich war ja nicht unschuldig. Weißt du alles mit dem Briefe?« Vult schüttelte kalt den Kopf; denn Walts frühere Erzählungen davon waren, wie alle seine von sich, aus blöder Demut zu karg und unbestimmt gewesen, als daß Vult sein altes, von der Welt gewecktes historisches Talent, jede Begebenheit rück- und vorwärts zu konstruieren und zu der kleinsten eine lange Vergangenheit und Zukunft zu erfinden, sehr dabei hätte zeigen können. Walt hatte von diesem Hoftalent nichts an sich; er sah und strich in einem fort ein Faktum malend an; und weiter bracht' ers nie.

Walt erzählt' ihm nun das unglückliche Übergeben von Winas Brief an ihren Vater. »Ei Teufel!« – rief Vult verändert, denn er erriet nun alles und erschrak über die Verwicklung, in welche er den Bruder gezogen – »Schuppe dich droben bei mir ab.« – »Ja,« – sagte Walt – »und ob ich gleich kein Unglück wollte, so hätt' ich doch die Absicht nicht haben sollen, den Vater und die Braut zu sehen. Ach, wer kann denn sagen im vielfach verworrenen Leben: ich bin rein. Das Schicksal hält uns« (fuhr er auf der Treppe fort) »im Zufalle den Vergrößerungsspiegel unserer kleinsten Verzerrung vor – Ach, über dem leisen leeren Wort, über sanften Klängen steht eine stille bedeckte Höhe, aus der sie einen ungeheuern Jammer auf das Leben herunter ziehen.«Ein Wort, ein Glockenton reißet oft die Lauwine ins Fallen.

»Schäle dich nur zuvörderst aus dem Hunds-Meinau heraus«, sagte Vult sanfter, als sie ins stille, von Mondlicht gefüllte Zimmer traten. Schweigend hob der Notar den Kotzebuischen Zuckerguß, wie ein Strom sein Eis, tat sanft den Überrock und Koadjutor-Hut ab und strich die Locken wieder aus. Als Vult im Mondlicht dem betrübten Schelm das dünne Nankingröckchen wie einen Gehenkten am Aufhäng-Bändchen hinlangt' und er es überhaupt überlegte, wie lächerlich der Bruder mit dem Korkwams der Verkleidung auf dem Trocknen sitzen geblieben: so dauerte ihn der getäuschte stille Mensch in seinen weiten Steifstiefeln unsäglich, und ihm brach mitten im Lächeln das Herz in zwei Stücke von – Tränen entzwei. »Ich will dir« – sagt' er, sich hinter ihn wie hinter ein Schießpferd stellend – »das Zöpflein machen. – Nimm aber das Zopfband zwischen die Zähne; das eine Ende.«

Er tats fast verschämt. Als Vult gar das weiche Kräuselhaar unter die Finger bekam und den brüderlichen Rücken vor sich hatte – der sehr leicht den Menschen auf einmal tot, fern und abwesend darstellt und durch diese Linienperspektive des Herzens das fremde mitleidig bewegt –: so hielt er dem Kopfe den Zügel des Haares ganz kurz am Genick, damit Gottwalt sich nicht umkehren könnte, weil er ihm mit fast schwerer Stimme (weinen konnt' er in solcher Stellung frei und lustig, wie er wollte) die Frage tat: »Gottwalt, liebst du einen gewissen Quoddeus Vult noch?«

In der Stimme lag etwas Gerührtes. Walt wollte sich eiligst herumwerfen, aber er wurde an den Haaren gehalten. »O Vult, liebst du mich denn noch?« rief er weinend und ließ das Zopfband fahren.

»Mehr als jeden und alle Spitzbuben hienieden,« – versetzte Vult und konnte schwer reden – »und darum krächz' ich wie ein Hund und wie ein Weib. Beiße wieder aufs Zopfband!« – Aber der Notar fuhr schnell herum und wurde schneeweiß, als er Tränen über das Wellen schlagende Gesicht des Bruders rinnen sah: »O Gott! was fehlt dir?« rief er. – »Vielleicht nichts oder so etwas,« sagte Vult, »oder gar Liebe. So fahr's nur heraus, das verfluchte Wort, ich war eifersüchtig auf den Grafen. Es ist nicht sauber vom Bruder, sagt' ich mir, daß er so reviert und jagt, da man ihm mehr zugetan ist als allen Menschen, die der Satan sämtlich hole, und von welchen ich in der Tat so schlimm denke als irgendein Kirchen-Vater, ein griechischer oder römischer. Er muß nur nicht denken, mich mit lumpiger Geschwister-Liebe abzufinden. Mein junges Leben steht schon sehr trocken da, die Freihäfen der Liebe hat ihr Meer verlassen – und keine Katze kann hinein und ankern – Bruder, ich hatte oft einige Tage voll Ohrenbrausen, Nächte voll Herzgespann – Der Donner, ich weinte einmal abends gegen halb 12 Uhr« – –

Er mußte aber innen halten, die Unterlippe des bestürzten Notars zog ein heißer schwerer Liebesschmerz tief herunter. »Was betrübt dich so?« fragte Vult. Walt schüttelte – schritt weit auf und ab – nahm bald ein Glas, bald ein Buch in die Hand – sah nichts an – schauete in den hellen Mond und weinte heißer. »So sei es gut!« sagte Vult; »wir wollen die alten sein«, und umarmte ihn, aber Walt riß sich bald los. Endlich faßt' er sich und sagte schmerzlich: »Muß ich denn alles unglücklich machen? Du bist heute der dritte Mensch. Die drei Wachskinder in meinem Traum.«

Vult fragte, um ihn von den Schmerzen abzuführen, dringend nach dem Traum. Ungern, eilig erzählte Walt: »Verhüllte Gestalten gingen vor mir vorbei und fragten mich, warum ich nicht jammerte und nicht blaß würde. Eine nach der andern kam und fragte. Ich zitterte vor einer ungeheuern Entschleierung. Da flogen drei bildschöne Kinder aus Wachs vom Himmel, sie blickten freundlich, grüßten mich. Gebt mir die weißen Händlein und zieht mich hinauf, sagt' ich. Sie taten es, aber ich riß ihnen die Arme mit der Brust aus, und sie fielen tot herunter. Und schon als ich erwachte, sah ich noch einen fernen dunklen Leichenzug, der auf den Knien weiterzog. Der Traum ist eingetroffen.«

Vult, dem der zornige Schmerz wie weggezaubert war, machte jetzt alle Anstalten zur Kur des fremden; er stellte ihm alles auf der leichtern Seite vor, klagte den giftigen Schmollwinkel in seiner linken Herzenskammer an, in welchem ein Schmoll-Kobold und Werwolf hause und feurig blicke, zog das Silber von den Giftpillen ab, die er bisher in seine Billette eingewickelt hatte, und machte sein Naturell bekannt, das ohne tüchtigen Zank nicht traktabel werde, wie die Haubenlerche allezeit singe, wenn sie keife, und schwur, Walt sei nicht der erste, dem er mit diesem Seelen-Pips beschwerlich falle, sondern der letzte; denn dessen grenzenlose Leutseligkeit stelle ihn gewiß davon her.

Aber Walt wollte wenig Vernunft annehmen, hielt alles für opfernde Zartheit und warf ein, daß ihn Vult ja eben gegen den Grafen so feurig beschirmt und bisher zu diesem sogar den Weg gebahnet habe. »Aus Gift, Schatz,« sagte Vult, »und einigem Stolz dazu, nur darum. Hier,« – fuhr er fort und holte den mit zwei Siegeln verschlossenen Brief hervor – »lies den Beweis, ich habe dich voraus gerechtfertiget, und mich besonders.«

Der Notarius machte aber das Blatt nicht auf, er sagte, er glaubte aufs Wort und verstehe ihn endlich, und jetzt sei ihm wieder um vieles besser. Vult ließ es dabei und drückte sich dem Bruder mit der lang verschobenen heißen Umarmung an das Herz, die seinen wilden Geist erklärte.

Und der Bruder wurde glücklich und sagte: »Wir bleiben Brüder.«

»Nur einen Freund kann der Mensch haben, sagt Montaigne«, sagte Vult.

»O! nur einen«, sagte Walt – »und nur einen Vater und nur eine Mutter, eine Geliebte – und nur einen, einen Zwillings-Bruder!«

Vult versetzte ganz ernsthaft: »Jawohl, nur einen! Und in jedem Herzen bleibe nur die Liebe und das Recht.«

»Spaße wieder wie sonst, ich lache gewiß, so gut ich kann« – sagte Walt – »zum Beweise deiner Versöhnung; dein Ernst durchschneidet sehr das Herz.«

»Wenn du willst, so kann wohl gescherzt werden« – sagt' er – »Und nein! Bei Gott nein! – Wenn die Kamtschadalen glauben – nach Steller –, von zwei Zwillingen habe jederzeit der eine einen Wolf zum Vater: so bin ich wahrlich dieser Wolfs-Bastard-Mestize-Mondkalb, du schwerlich. Jetzt, da wir alle klar über die Verwicklung sprechen können, darf ich dir sagen, daß du durchaus rein und recht gegen den Grafen gehandelt; nur daß du zu wenig Egoismus hast, um irgendeinen zu erraten. Klothar hat fast großen – wahrlich, ich greife heute niemand an, sondern schlage dir nach – Aber die Philosophen, junge gar, wie er, sind doch bei Gott den Augenblick egoistisch. Menschenliebende Maximen und Moralien sind, weißt du, nur Scherwenzel; ein Licht ist kein Feuer, ein Leuchter kein Ofen; dennoch meint sämtliches philosophisches Pack das Deutschland hinauf und hinab, sobald es nur sein Talglicht in das Herz trage und auf den Tisch setze, so heize das Licht beide Kammern zulänglich.«

»Lieber Vult« – sagte Walt mit der allerzärtlichsten Stimme – »erlasse mir die Antwort; ich darf heute am wenigsten über den unglücklichen Klothar aburteilen, dem ich das Schönste genommen, und der nun einsam in der Nacht hinreiset mit nächtlichem Herzen in nächtliche Zukunft. Du bist rein, nicht ich; du kannst sprechen.«

»So sprech' ich,« sagt' er, »der Philosoph hat sich diesen Abend gehäutet; und das bedeutet, wenns Spinnen tun, klares Wetter. Apropos! häute dich, aber besser und physisch!« – Das tat Walt; jener hielt ihn, als er sich zum Entkleiden auf den Stiefelknecht stellte. »Wie lächelt der Mond«, sagte Vult, »im Zimmer herum!« – Darauf setzte er hinzu: »Stelle dich in den süßen Schein und nimm wieder das Band-Ende zwischen die Zähne; jetzt flecht' ich dir dein Zöpflein mit ganz andern Empfindungen und Fingern als vorhin, pompöser Krauskopf!« – Darauf schieden sie ruhig und liebreich.

Ende des zweiten Bändchens


 << zurück weiter >>