Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 35: Chrysopras

Träumen – Singen – Beten – Träumen

Am Freitage darauf, wo Wina wiederkommen sollte, sprang er, ohne an sie zu denken, so innig-vergnügt aus dem Bette in den Tag, als wär's ein Brauttag. Er wußte keinen Grund, als daß er die ganze Nacht einen immer zurückflatternden Traum gesehen, wovon er kein Bild und Wort und nichts behalten als einige anonyme Seligkeit. Wie Himmelsblumen werden oft Träume durch die Menschennacht getragen, und am Tageslicht bezeichnet nur ein fremder Frühlingsduft die Spuren der verschwundenen.

Die Sonne blitzte ihm reiner und näher, die Menschen sah er wie durch einen Traum der Trunkenheit schöner und werter gehen, und die Quellen der Nacht hatten seine Brust mit so viel Liebe vollgegossen, daß er nicht wußte, wohin er sie leiten sollte.

Zu Papier sucht' er sie anfangs zu bringen, aber kein Streckvers und kein Kapitel gelang. Er hatte einen Tag wie nach einer vertanzten Nacht: man will nichts machen als höchstens Träume, und auch nichts anderes haben – alles soll sanft sein, sogar die Freude – sie soll nicht mit Windstößen an den Flügeln reißen, still sollen die ausgestreckten Schwingen das dünne Blau durchschneiden und durchsinken – nur Abendlieder will der Mensch sogar am Morgen, aber kein einziges Kriegslied, und ein Flor, aber ein hellgefärbter, bezieht und dämpft die Trommel des Erden-Tobens.

Walt konnte nichts anders machen – »nur heute kein Instrument, das gebe Gott!« wünschte er – als einen Spaziergang in das Van der Kabelsche Hölzchen, das er einst erben kann, und wo er den entfremdeten Grafen zum erstenmale auf der Erde gesehen. Um ihn flogen, gingen, standen Träume aus tiefen Jahrhunderten – aus Blüten- und Blumenländern – aus Knabenzeiten – ja, ein Träumchen saß und sang im spannenlangen grünen Weihnachts-Gärtchen der Kindheit, das sich der kleine Mensch auf vier Rädern am Faden nachzieht. Siehe, da bewegte vom Himmel sich ein Zauberstab über die ganze Landschaft voll Schlösser, Landhäuser und Wäldchen und verwandelte sie in eine blütendicke Provence aus dem Mittelalter. In der Ferne sah er mehrere Provenzalen aus Olivenwäldern kommen – sie sangen heitere Lieder in heiterer Luft – die leichten Jünglinge zogen voll Freude und voll Liebe mit Saitenspielen in die Täler vor hohe goldbedeckte Burgen auf fernen Bergspitzen – aus den engen Fenstern sahen ritterliche Jungfrauen herunter – sie wurden herabgelockt und ließen in den Auen Zelte aufspannen, um mit den Provenzalen ein Wort zu reden (wie in jenen Zeiten und Ländern, wo die Erde noch ein leichtes Lustlager der Dichtkunst war und der Troubadour, ja der Conteur sich in Damen höchsten Standes verlieben durfte) – und ein ewiger Frühling sang auf der Erde und im Himmel, das Leben war ein weicher Tanz in Blumen.

»Süße Freudentäler hinter den Bergen,« sang Walt, »ich möchte auch hinüberziehen in das morgenrote Leben, wo die Liebe nichts verlangt als eine Jungfrau und einen Dichter – ich möchte drüben in wehender Frühlingsluft mit einer Laute zwischen Zelten mitgehen und die stille Liebe singen und schnell aufhören, wenn Wina vorbeiginge.«

Darauf kehrte Walt in sein Kämmerchen zurück, fand aber, mit seiner geographischen und historischen Provence in der Brust, so wenig Platz darin, daß er mit einiger Kühnheit – denn die Poesie hatt' ihn sehr gleich und frei gemacht – in Neupeters Park hinabspazierte, wo er Floren, mit Früchten wie eine Pomona beschwert, in den Wurf kam und die Hand gab. Dem Dichter glänzet die ganze Welt, doch aber eine herzogliche, königliche Krone matter als ein schöner weiblicher Kopf unter Krone und Herzogshut, oder als ein anderer, der nichts aufhat als den Himmel über sich; er ist bescheiden, wenn er einer Fürstin, und aufgerichtet, wenn er einer Hirtin die Hand gibt; nur zu den Vätern beider lässet er sich oft gar nicht herab.

In einer Laube fand er ein Strumpfband. Ein italischer Vers – denn Raphaela verstand welsch, obwohl er nicht – und ihr Name war darauf gestickt. Da er an diesem geistigen Morgen merkte, daß er einen provenzalischen Ritter und Poeten zugleich in sich verbinde: so faßt' er den freien Entschluß, das Strumpfband – denn er hielts für ein Armband – selber Raphaelen, die er brieflesend schleichen sah, mit einigen bedeutenden Worten zu überreichen. Er legte das Band weich vorn auf die flache Hand wie auf einen Präsentierteller und trug es ihr zart mit der Wendung entgegen – die er aus vielen andern über weltlichen Arm und Arm aus den Wolken ausgelesen –: »er sei so glücklich gewesen, ein schönes Band der Liebe zu finden, eine Sehne an Amors Bogen, gleichsam den größern Ring an schöner Hand, und er wisse nicht, wer glücklicher sei, der, so ihn abzöge, oder der ihn anlegte.« Raphaela errötete beschämend-verschämt, nahm das Band, steckt' es schnell ein und ging stumm fort; Walt dachte: fast ein gar zu zartes Gemüt!

Er brachte noch viel von seiner Morgenfreude an die Wirtstafel: als er zu seinem Erstaunen da erfuhr – was er schon längst gewußt –, daß an der Juden-Vigilie, am Freitag, die Katholiken fasteten. Er legte Messer und Gabel neben den Teller hin. Keinen Bissen – und wär' er aus dem Reichs-Ochsen in Frankfurt bei der Kaiserkrönung ausgeschnitten gewesen – hätt' er noch an die Zunge heben können. »Ich will nicht köstlich schwelgen«, dachte er – betagtes Vaccinefleisch war aufgesetzt –, »in der Stunde, wo eine so wohlwollende Seele wie Wina darben muß.« – Wie eine Ehefrau hatte er bei der Gleichgültigkeit gegen eigene Eß-Entbehrungen ein weinendes Erbarmen über fremde. Er dachte nach und fand es immer härter, daß die Kirche auch Nonnen fasten ließe, nicht die Mönche allein; da es vielleicht schon genug wäre, wenn nur Spitzbuben, Spieler, Mörder nichts Rechts zu essen hätten.

Er ging in die Kopierstube zum General, nicht nur mit dem völligen Wunsche, das Mädchen zu sehen, das heute – an seinem romantischen Tage – eine Märtyrin gewesen, sondern auch mit der Gewißheit, sie sei von Elterlein zurück und erscheine. Während er mit unsäglichem Vergnügen einen äußerst frechen Brief einer gewissen Libette, wie er nur aus der moralischen LutetiaDiesen Namen Kotstadt trug sonst Paris in unbildlicher Beziehung. voll Epikurs-Ställe kommen kann, ins Reine schrieb – denn er schmeckte in diesen Freudenkelchen nur den Abendmahlswein der geistigen Liebe und keinen geschwefelten –, so drang aus den halboffnen Zimmern kein Laut in sein Kabinet, den er nicht zu einer Ankündigung einer Erscheinung zitternd machte. Wie in weiten dichten Waldungen ferne lange Töne hier und dort romantisch durchklingen: so kamen ihm einzelne Akkorde auf dem Fortepiano – Rufe des Generals – Antworten an Wina vor – Endlich hört' er wirklich Wina selber im nächsten Zimmer mit ihrem Vater vom Singen sprechen. Er glühte bis zur Stirn hinauf und bückte den unruhigen Kopf fast bis an die Feder nieder. Sie hatte jenen innigsten, herzlichsten, mehr aus der Brust als Kehle heraufgeholten Sprachton, den Weiber und Schweizer viel häufiger angeben als andre Leute.

Indem der General eintrat und Walt flammend fortkopieren wollte: hatt' er das Unglück, daß das Mädchen Singnoten aus dem Kabinette fliegend wegholte, ohne daß er vor lauter Zartheit etwas gesehen hatte, wenn man nicht die weiße Schleppe zu hoch anschlagen will. Bald darauf fing im zweiten Zimmer ihre Singstimme an – »O nein doch,« rief der General durch die offnen Türen, »den letzten Wunsch von Reichard meint' ich.«S. 10 in Reichards Lieder-Sammlung, worin manche das zehntemal besser klingen als das erstemal, und Dichter und Komponist meistens ihr gegenseitiges Echo sind.

Sie brach ab und fing den begehrten Wunsch an. »Singe«, unterbrach er sie wieder, »nur die erste und letzte Strophe ohne die ennuyanten.« Sie hielt innen, mit Fingern über den Tasten schwebend, und antwortete: »Gut, Vater!«

Die Verse heißen:

Wann, o Schicksal, wann wird endlich
Mir mein letzter Wunsch gewährt:
Nur ein Hüttchen, klein und ländlich;
Nur ein kleiner eigner Herd;
Und ein Freund, bewährt und weise,
Freiheit, Heiterkeit und Ruh'!
Ach und Sie, das seufz' ich leise,
Zur Gefährtin Sie dazu.

Vieles wünscht' ich sonst vergebens;
Jetzo nur zum letztenmal
Für den Abend meines Lebens
Irgendwo ein Friedens-Tal;
Edle Muß' in eigner Wohnung
Und ein Weib voll Zärtlichkeit,
Das, der Treue zur Belohnung,
Auf mein Grab ein Veilchen streut.

Wina begann, ihre süße Sprache zerschmolz in den noch süßern Gesang, aus Nachtigallen und Echos gemacht – sie wollte ihr liebewarmes Herz in jeden Ton drängen und gießen, gleichsam in einen tönenden Seufzer; – den Notar umfing der lang geträumte Seelenklang mit der Herrlichkeit der Gegenwart so, daß ihn das heranrollende Meer, das er von fernen rollen und wallen sah, nun mit hohen Fluten nahm und deckte. Der General sah unter dem Singen die Kopie des frechen letzten Briefes mit einiger witziger Heiterkeit auf dem Gesichte durch und fragte lächelnd: »Wie gefällt Ihnen die wilde Libette?« – »Wie der jetzige Gesang, so wahr, so innig und so tief gefühlt«, versetzte Gottwalt. – »Das glaub' ich auch«, sagte Zablocki mit einem ironischen Mienen-Glanz, den Walt für Hör-Verklärung nahm.

»Was sind so Ihre vorzüglichsten Notariats-Instrumente bisher gewesen?« fragte der General. Walt gab viele kurz und schleunig an, sehr verdrüßlich, daß er sein Ohr – wie sein Leben – zwischen Gesang und Prosa teilen sollte. Ob er gleich sich so weniger Seelenkräfte und Worte dabei bediente, als er nur konnte: so war für Zablocki doch kein Mensch – weder aus Wetzlar noch Regensburg oder aus irgendeinem schriftstellerischen bureau des longitudes et des longueurs – zu lang, zu weitschweifig, sondern bloß zu abrupt. »Ich glaube,« fuhr Zablocki fort, »Sie machten auch einige Sachen für den Grafen von Klothar?«

»Keine Zeile«, versetzte Walt zu eilfertig; er war völlig von den schönen Tönen weggespült und begriffs nicht, daß der General, der selber diese schönen Laute vorgeschrieben, sie über platte verhören wollte. »O Gott, wie kann ein Mensch nicht im harmonischen Strome untersinken, sondern daraus noch etwas vorstecken, besonders die Zunge? Ist das möglich, zumal wenn es einen so nahe angeht wie hier den verwaisten General?« – Walt glaubte nämlich, der General, der von der Frau und auch von der Jugend geschieden war, habe solche und ähnliche Zeilen wie

Jetzo nur zum letztenmal
Für den Abend meines Lebens – –
Und ein Weib voll Zärtlichkeit – –

bloß als Nachtigallen-Darstellungen eigener Seelen-Klagen singen lassen. Es konnte ihn weit mehr rühren – zumal da es auch viel reiner war –, wenn er Ton-Sprüche auf fremde Leiden und Wünsche, als wenn er sie auf eigne bezog; und darum war ihm der vergebliche Anteil an Zablocki so unlieb.

Vult aber, dem er alles vortrug, sprach später den Weltmann mit diesen Worten frei: »Er ist an Hof-Konzerte gewöhnt, mithin an Taub-Bleiben – Wie Cremen ist das Weltleben gleich kalt und süß; – indes hat der Weltmann oft viel Ohr bei wenig Herz (wie andere umgekehrt) und behorcht wenigstens die Form der Tonkunst ganz gut.«

»Keine Zeile«, hatte Walt eilfertig gesagt. – »Wieso?« versetzte Zablocki. »Mein Gerichtshalter sagte mir gerade das Gegenteil.« Hier entfuhren Walten die Tränen; – er konnte nicht anders, die letzten Sang-Zeilen hatten ihn mit- und weggenommen; die Scham über die unwillkürliche Unrichtigkeit trug weniger bei: »Wahrhaftig« – versetzt' er – »das meint' ich eben; denn die Schenkungs-Akte wurde unterbrochen – die ersten Zeilen schrieb ich natürlich.« Der General schrieb die Verwirrung des gerührtesten Gesichts nicht der schönern Stimme zu, sondern seiner eignen – brach gutmütig mit den Abschiedsworten ab, daß er auf einige Wochen das Kopieren einstelle, weil er morgen mit seiner Tochter nach Leipzig auf die Messe reise. Hier hörte das Singen auf und Walts kurzes Entzücken.


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