Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Antritt der Reise
Am Morgen sah er auf der Schwelle reisefertig noch einmal seine dunkle westliche Stube an, darauf sogar in die Kammer hinein und flog mit zwei liebreichen Blicken, die einen Abschied bedeuten sollten, und mit einem an den Turm, dem der Tod noch kein Schnupftuch zugeworfen, freudig auf einen leeren Platz am Tore hinaus, wo er sich überall umsehen und unter den vier Holz-Armen eines Wegzeigers bei sich festsetzen konnte, wohin er gegenwärtig gedenke, ob nach Westen, Norden, Nordosten oder Osten; aus Süden, dem Stadttor, kam er aber her.
Seine Hauptabsicht war, den Namen der Stadt gar nicht zu wissen, der er etwa unterwegs aufstieß, desgleichen der Dörfer. Durch eine solche Unwissenheit hofft' er ohne alles Ziel unter den geschlängelten Blumenbeeten der Reise umherzuschweifen und nichts zu begehren so wie zu besehen, als was er eben habe – in einem fort bei jedem Tritte anzukommen – sich in jedes goldgrüne Lust-Wäldchen zu betten, und ständ' es hinter ihm – in jeder Ortschaft selber den Namen der Ortschaft zu erfragen und darüber sich ganz heimlich zu ergötzen – und dabei, bei solchen Maßregeln in einem solchen Strich Landes, der vielleicht mit Landhäusern, Irrgärten, Tharanden, plauischen Gründen vorher, Bergschlössern voll heruntersehender Fräuleins-Augen, Kapellen voll aufgehobner Beter-Augen und überhaupt mit Pilgern, Zufällen und Mädchen ordentlich übersäet sein konnte, in romantische Abenteuer von solcher Zahl und Güte hineinzugeraten, als er freilich nie erwarten wollen.
»Mein guter Unendlicher in deinem blauen Morgenhimmel,« betete er in seiner durchdringenden Entzückung, »lasse doch die Freude dasmal nichts vorbedeuten.«
Er hatte sich in acht genommen, an den Wegweiser hinaufzusehen, der wie ein Affe vier Arme hatte, um nicht etwa an den abgewaschenen Armröhren einer Stelle ansichtig zu werden, von welcher die Zeit, besonders die Regenzeit, den Namen der Post-Stadt noch nicht rein weggerieben hatte. Am welt- und geistlichen Arm-Paar wär' er diese Gefahr nicht gelaufen, sondern dieses zeiget allgemeiner ins Blaue.
In Norden lag Elterlein; in Osten standen die Pestitzer oder Lindenstädter Gebürge, über welche die Straße nach Leipzig – auch eine Lindenstadt – weglief; zwischen beiden nun nahm der Notar den Weg, um die Höhen, hinter welchen die holdselige Wina jetzt rollte oder ruhte, niemals aus den Augen zu verlieren, welche bald aus Blumenkelchen, bald aus Wolken auf Gebürgen trinken wollten. – Ein Glück ists für den gegenwärtigen Beschreiber der Reise und des Reisenden, daß Walt selber für sein und des Flötenisten Vergnügen ein so umständliches Tage- oder Sekunden-Buch seiner Reise gleichsam als ein Opfer- und Sublimier-Gefäß des Lebens vollgefüllt, daß ein anderer weiter nichts zu tun braucht, als den Deckel diesem Zucker- und Mutterfasse auszuschlagen und alles in sein Dintenfaß einzulassen für jeden, der trinken will. Der leidende Mensch hat einen erfreueten nötig – der erfreuete in der Wirklichkeit einen in der Poesie – und dieser, wie Walt, verdoppelt sich wieder, wenn er sich beschreibt.
»Fast wollt' ich hoffen,« so fängt Walt das Sekunden- und Terzienbuch an Vult an, »daß mein liebes Brüderlein mich nicht auslachen werde, wenn ich meine unbedeutende Reise nicht sowohl in deutsche Meilen als russische Werste abteile, welche als bloße Viertelstunden freilich sehr kurz sind, aber doch nicht zu kurz, ich meine für einen Menschen auf der Erde. So wie es nicht auszukommen wäre mit dem flüchtigen Leben, wenn man es, statt an Minuten- und Stunden-Uhren, lieber an Achttage- oder gar Säkular-Uhren abmäße, gleichsam einen kurzen Faden an ungeheuern Welt-Rädern: so möchte man, zumal wenn ein Reich es tut, dem es am wenigsten an Raum fehlt, das russische, dieselbe Entschuldigung haben, wenn man, da der kleine Fuß und der Schuh des Menschen sowohl sein eignes Maß als das seiner Wege ist, für bloße Fußreisen die Werste zum Wegmesser erwählt. Die Ewigkeit ist ganz so groß als die Unermeßlichkeit; wir Flüchtlinge in beiden haben daher für beide nur ein kleines Wort, Bruder: Zeit-Raum.«
Als er seine erste Werste nordöstlich antrat, Winas Gebürge und die Früh-Sonne zur Rechten und mitlaufende Regenbogen in den betaueten Wiesen zur Linken: so schlug er die Hände als Schellen einer morgenländischen Musik gegeneinander vor Lust und wurde so leicht und behend von sich selber dahingetragen, daß er kaum aufzutreten brauchte! Läuferschuhe und Hosensäcke der Ohnehosen geben dem Menschen, wenn er sonst lange Stiefel und kurze Hosen trug, fast Flügel. Sein Gesicht war voll Morgenluft, und ein Orient der Phantasie war in seinen Blicken gemalt. Sein sämtliches Münzkabinet oder Studentengut hatt' er eingesteckt, als Surplus- und Operationskasse, um an dieser Geld-Katze einen Schwimm-Gürtel für alle Höllen- und Paradieses-Flüsse zugleich zu haben. Er bewegte sich durch das widerstrebende Leben so frei wie der Schmetterling über ihm, der nichts braucht als eine Blume und einen zweiten Schmetterling. Der Kunststraße, woran er einen ganzen Klumpen Reformatoren und Weg-Frotteurs stampfen und klopfen sah, ging er aus dem Wege, weil er sich nicht damit plagen wollte, entweder einen Morgengruß lang durch sie hinzuziehen, oder den nämlichen lächerlich immer von neuem zu sagen und doch wohl falsch abzusetzen. Hügelauf, Talein lief er in nassen Gras-Blüten und verlor und erhielt abwechselnd die Stadt, von welcher er indes wünschte, daß er sie endlich einbüßte, weil ihm sonst immer nicht recht war, als sei er fort.
Er mußte noch zwei starke Werste zurücklegen, ehe sie hinter den Obsthügeln unterging. Noch war ihm nichts Besonders unterwegs begegnet als der Weg selber, als er seinen Gruß einem Menschen, dessen Gesicht ein Schnupftuch zuband, im Fluge zuwerfen konnte. Er ging so lange fort, bis er glauben durfte, der Mann habe sich umgesehen, und er könn' es auch, ohne zusammenzustoßen. Aber eben sah jener her. Er ging wieder weiter und blickte um – der Bandagist seinerseits auch. Als ers zum drittenmal tat, merkte er, daß der Mann trotzig stehen bleibe, und daß ihn die Rücksicht gar verdrüße. Da ließ ihn Walt laufen und stehen.
Er stieß bald – so wuchsen die Abenteuer – auf drei alte Frauen und eine blutjunge, welche mit hochaufgetürmten Körben voll Leseholz aus einem Wäldchen kamen. Auf einmal standen sie alle in gerader Linie zugleich hintereinander still, die schweren Körbe auf den schief-untergestellten Stecken auflehnend, die sie vorher als Badinen getragen. Sein Herz machte viel daraus, daß sie, wie Protestanten und Katholiken in Wetzlar, ihre Ferien und Feiertage des Gehens gemeinschaftlich abtaten, um beisammen zu bleiben und fort zu reden. Nie entwischte seinem Auge die kleinste Handvoll Federn oder Heu, womit sich der Arme die harte Pritsche in der Wachtstube seines Lebens etwas weicher bettet und sich die Marterbank auspolstert. Ein liebender Geist spüret gern die Freuden der Armen aus, um darüber eine zu haben; ein hassender aber lieber die Plagen, seltener um sie zu heben, als um über die Reichen zu bellen, die er vielleicht selber vermehrt.
Herzlich gern wollt' er den Fracht- und Kreuzträgerinnen einige Groschen Trage-Lohn auszahlen; er schämte sich aber vor so vielen Zeugen einer warmen Tat. Darauf schob ein Mann einen Karren voll hoher klappernder Blechwaren daher; sein Töchterchen war als Vorspann vorgelegt; beide keuchten stark. Es zwang ihn, sich mit dem Karrenschieber zusammenzuhalten und sich auf die eine Waagschale zu stellen, den Kärrner auf die andere. Da er nun sogleich bemerkte, wie sehr er mit seinen Glückslosen und Zuckerhüten den Kärrner überwiege – der alten Holzweiber nicht einmal zu gedenken –; da er finden mußte, daß sein freies fliegendes Fortkommen, gegen das träge Karren- und Stunden-Rad des Mannes gemessen, mehr der freudigen leichten Weise beikomme, wie die Großen reisen: so wurd' er rot über seinen Reichtum und Stand – er sah die Weiber noch halten und lehnen – er lief zurück mit vier Gaben und eilig davon.
»Bei Gott,« schreibt er in sein Tagebuch, um sich ganz zu rechtfertigen, – »der armselige flüchtige Sinnen-Kitzel einer bessern Nahrung, welchen etwan ein paar geschenkte Groschen bereiten können, und überhaupt der Genuß, der kann nie der Anlaß werden, daß man die Groschen so freudig hinreicht; aber die Freude, die man dadurch auf einen ganzen Tag lang in ein ausgehungertes Herz und in seine welken, kalten, engen Adern auswärmend hineingießet, dieser schönste Himmel anderer Menschen ist doch wohl wohlfeil genug damit erkauft, daß man selber einen dabei hat.« Hier kramt er weitläuftig seinen alten Traum von dem Glücke eines reisenden Mylords aus, auf einmal durch eine offne volle Hand ein ganzes Dorf unter Brei und Fleischbrühe zu setzen und in ein Elysium langer Erinnerung.
Mit drei Himmeln im unschuldigen Gesicht – noch einen mehr hatt' er auf den Gesichtern hinter sich gelassen – glitt er leicht von Tautropfen zu Tautropfen. – Das Herz wird wie ein Luftschiff durch den Auswurf des schwersten Ballastes, des Geldes, so leicht, so schnell, so hoch. Indes traf er ziemlich spät in dem nur vier kleine Werste entlegenen Härmlesberg ein. Denn überall saß und schrieb, oder stand und sah er oder las alles – jede Inschrift einer Steinbank – und wollte keine Kleinigkeit übergehen, sie müßte denn Bevölkerung, Stallfütterung, Wiesenwuchs, Lehmboden und dergleichen betroffen haben.
»Drinnen will ich,« sagt' er zu sich, »da ich doch einem großen Herren ähnlich scheinen soll, mein déjeûner dinatoire einnehmen« und trat in den Krug.