Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 55: Pfefferfraß

Leiden des jungen Walts – Einquartierung

Der Notarius konnte eine ganze Nacht lang weder schlafen, noch seinen Bruder lieben; sondern der Zorn war sein Traum, und das nächtliche Auftürmen zankender Gründe erhitzte ihn zuletzt dermaßen, daß er, wenn Vult sich an dessen Bett gewagt hätte, vielleicht fähig gewesen wäre, ihm zu sagen: »Ich rede nun anders mit dir, Bruder; setze dich aber nicht aufs scharfe Bettbrett, sondern mehr auf die Kissen herein!« – Unbegreiflich und unverzeihlich fand er dessen Kraft, Menschen ins Gesicht hinein zu martern, den armen Flitte und ihn selber. Schon öfters hatt' er bei der Weltgeschichte versucht, in jene mächtigen Schnee- und Gletscher-Männer, welche mitten unter dem Hasse eines ganzen Hofs und Volks heiter glänzen und gedeihen, sich so gut poetisch zu versetzen als in andere Charaktere; aber es hatte nie besondern Erfolg – er wäre ebensogut einer Statue durch den Mund ins Herz gekrochen. Ihm griff schon ein Menschen-Antlitz in die Seele, und wär' es punktiert an der Puppe eines Nachtschmetterlings erschienen, oder wächsern an der Puppe eines Kindes; er hätte beide nicht kalt eindrücken können mit dem Daumen.

Er stieg aus dem Bette in einen platt-gemähten Herbsttag; denn er wollte, wie er pflegte, lieben und der süßesten Empfindung kaum mächtig sein; fand aber nichts Brauchbares dazu, sondern nur die Zuckersäure der vorigen Zuckerinsel. Jetzt stellte er sich, da es sein erstes Zürnen war, recht dazu an. Ein Herz voll Liebe kann alles vergeben, sogar Härte gegen sich, aber nicht Härte gegen andere; denn jene zu verzeihn ist Verdienst, diese aber Mitschuld.

Darauf machte er sich auf den matten Weg aufs Rathaus, um da, wie bisher, sich für seine Erbamts-Sünden wacker abstrafen zu lassen. Der Spaßvogel Flitte, jetzt sein gestriger Unglücksvogel, war schon da – denn er hatte fast nichts auf der Erde als Zeit –; samt Paßvogeln, dem Buchhändler. Walt sah so liebegießend dem Elsasser ins Auge, als hätte dieser sich für ihn verbürgt; nie warf irgendein Fegfeuer auf den Gegenstand, der es für ihn schuldlos angezündet, vor seiner Seele irgendeinen gelben häßlichen Widerschein; vielmehr freuete er sich recht, allein im Fegfeuer zu stehen und den Fremdling rein aus den Flammen anzuschauen.

Der Testaments-Ober-Vollstrecker, Herr Kuhnold, eröffnete nach der siebenten Klausel – möchte doch jeder Leser das Testament aus dem Buche herausgeschnitten, broschiert, immer neben sich haben – den geheimen Artikel des Reguliertarifs, der rechtmäßig zu öffnen war. In der Tat war darin auf jeden französischen Germanismus, den Flitte von ihm an Eides Statt berichten würde, ein Tag verspäteter Erbschaft zur Schulstrafe gesetzt. Flitte erwiderte darauf, »er wisse niemand, der so viel Organ für französische Sprache besitze, so wie Kalligraphie dafür, als Herrn Walt, und er entsinne sich keines erheblichen Fehlers.« Walt griff nach dessen Hand und sagte: »O wie schön, daß ich mir Sie so immer dachte! Aber meine Freude ist nicht so uneigennützig, als sie scheint, sondern noch uneigennütziger.« Der Ober-Vollstrecker wünschte ihm erfreuet Glück – desgleichen der Buchhändler – und jener bat ihn um die Wahl des neuen Erbamtes.

Es ist sehr schlimm für diese Geschichte, daß die Welt nicht die sechste Klausel »Spaßhaft und leicht mags« auswendig kann, auf welcher doch gerade die Pfeiler des Gebäudes stehen. Der Notar wußte sie ganz gut, und der Buchhändler am besten. Als Walt in dem Seelen-Rausche über die schönste Rechthaberei, die es gibt – sich nämlich nicht in guten Voraussetzungen von Flitte geirrt zu haben –, nicht sogleich das Erbamt erlesen konnte, das er bekleiden wolle: trat Paßvogel zu ihm und erinnerte ihn an den Buchstaben e der Klausel, welcher sagt: »Er soll als Korrektor 12 Bogen gut durchsehen.« – »Trefflich genug!« sagte Walt, verstand und erklärte sich dazu; – in das vom Nacht-Zorne zerfressene Herz flossen die kleinsten Ergüsse menschlicher Milde balsamisch-heilend ein.

Außerhalb der Ratsstube fand er auf einmal sein Herz um- und dem Bruder wieder zugewandt; Flitte war gerechtfertigt, er selber entschuldigt, und er verzieh in Massen, bloß weil er so viel – Recht gehabt. Nachdem er eilig seinem geängstigten Vater den schönen Ablauf seines Wochenamtes geschrieben hatte: so machte er sich ernsthafter an seine alte Versetzung ins fremde Ich und fragte: »Kann denn Vult seine Handlungen nach andern Grundsätzen zuschneiden als nach seinen eigenen? Und wollt' er denn anders als ich selber, eben für mich handeln? – Jeder begehrt von andern Gerechtigkeit und dann noch ein wenig Nachsicht dazu; ei gut, so geb' er andern auch beides, und das will ich tun.« Er fand zuletzt in Vults Stoßkraft eine Ergänzung seiner eigenen weichwolligen Außenseite; die Freundschaft und Ehe wird, so wie ein Fernrohr, durch Zusammensetzung erhobner und hohler Gläser gemacht.

Was half aber sein aufgetanes Herz? Niemand ging hinein. Liebes-schamhaft harrte er, daß Vult nur eine Viertels-Elle von einer weißen Friedensfahne flattern ließe, um sogleich mit Liebesaugen in die fremde Seele einzuziehen; aber nicht einen Fingerbreit davon streckte dieser aus, sondern er schickte ihm Ausschweifungen für den Hoppelpoppel ohne ein Wort dazu. Walt sandte ihm mehrere Kapitel, die er in seinem Herzenskloster um so leichter aufgesetzt, da ihn Paßvogel noch immer auf den ersten Korrekturbogen warten ließ, so wie die Stadt ihn auf irgendein Notariats-Instrument, das ihn hätte stören und bereichern können. Ihnen fügt' er bloß zwei Streckverse bei:
 

I.

Meine ganze Seele weint, denn ich bin allein; meine ganze Seele weint, mein Bruder!

II.

Ich sah dich, und liebte dich. Ich sah dich nicht mehr, und liebte dich. So muß ich dich immer lieben, ich mag nun frohlocken oder weinen tief im Herz.
 

Einen Tag darauf schickte ihm Vult die ausgearbeitetsten Ausschweifungen zu und gedachte des Genusses kurz, den ihm jetzt Walts Hoppelpoppel oder das Herz zuführe, da jedes Kapitel mit wahrer Kunstwärme erschaffen sei und überfeilt – und schrieb noch, er selber schreibe zwar eifriger als je, dürfe aber nicht entscheiden, wie glücklich – und schrieb weiter nichts. »Nun denk' ich,« – sagte Walt zu sich – »weiß ich recht gut, woran ich bin, ich bin fast sehr unglücklich – es ist vorbei mit dem Himmel, der sich hier auftat für mein Armen-Auge – Auf ewig ist mir der Bruder begraben und eingesenkt – Tritt er etwan einmal vor mich, so, weiß ich wohl, ists ein Antlitz grimmig verzogen, und mich wird schaudern durch mein Herz. O mein Bruder, wie schön war es einst, als ich dich noch umarmte und zwar weinen mußte, aber ganz anders!«

Darauf schrieb er wieder ein gutes Kapitel am Romane, schickt' es ihm mit folgendem, hier ganz mitzuteilendem Briefe:
 

Bruder!

Hier! – – – – – – –

Dein Bruder
G.

Vult versetzte nichts darauf. Gottwalt erzürnte sich nach der Terzien-Uhr; dann hatt' er wieder lieb nach der Turm-Uhr. Nur die Träume drangen mit ihren greulichen aufgerissenen Larven in seinen Schlaf, jede mußte wie ein Bruder aussehen, der ihn marterte auf einer unabsehlichen Folterleiter, auf der er ausgespannt lag von Stern zu Stern.

An einem November-Nachmittage ging er in das Wirtshaus zum Wirtshaus, wo er ihn, wie bekannt, nach einem langen Lebens-Winter gefunden hatte, wie einen Mai. Der herrnhutische Wirt prügelte eben, da er eintrat, die Wirtin aus dem Gasthofe hinaus, warf ihr seinen Jungen nach und schrie: wär' er kein Christ, so würd' er sie anders behandeln; so eben zähm' er sich, und kein böses Wort komme aus seinem Maule. Walten kannt' er gar nicht mehr, als dieser um das vorige, jetzt zugemauerte Oberzimmer anhielt, wo er im July geschlafen hatte. Teils Würste, teils Flachs auf Stroh waren darin auseinandergebreitet. Er entfloh auf den herrnhutischen Gottesacker, wo er einstens, als die Sonne unter- und der Bruder aufging, so froh und so neu geworden. – Aber die Bäume waren, anstatt begrabne Gerippe laubig zu bedecken, selber steilrechte geworden – dabei schneiete es regnerisch – mehr das Gewölke als die Sonne ging unter – und Abend und Nacht waren schwer zu sondern. Der Notarius sah aus wie der eben regierende November, der, noch weit mehr dem Teufel als dem April ähnlich, nie ohne die verdrüßlichsten Folgen abtritt.

Von da trug er sich verarmet – fern von jenem reichen Morgen, wo er neben dem reitenden Vater zu Fuße hergelaufen – zurück in die Stadt. Als er über die kalt wehende Brücke ging und nichts um ihn war als die öde dunkle Nacht: so flogen zwei dicke Wolken auseinander – der helle Mond lag wie eine Silberkugel einem weißen Wolkengebürge im Schoß, und der lange Strom wand sich erleuchtet hinab. Auf dem Wasser kam etwas herabgeschwommen wie ein Hut und ein Ärmel. »Geht es durch die Brücke unter mir durch,« sagte Walt, »so nehm' ichs für ein Zeichen, daß auch mein Bruder so von mir dahingeht; stößt es sich an die Pfeiler, so bedeutet es etwas Gutes.« Er fuhr zusammen, da es unten wieder hervorkam; endlich fiel ihm ein, daß wohl gar ein ertrunkener Mensch unter ihm ziehen könne, ja Vult selber. Er sprang herunter ans Ufer herum, wo sich das schwimmende Wesen in eine Bucht voll Buschwurzeln verfangen hatte. Mühsam und zitternd hob er mit seinem Stabe einen leeren Ärmel, dann noch einen und darauf gar noch einige auf, bis er sehr sah, daß das Ganze nichts sei als eine ins Wasser geworfene, von der Jahrszeit abgedankte – Vogelscheuche.


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