Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Drittes Bändchen

Nro. 33: Strahlglimmer

Die Brüder – Wina

Selige, heilige Tage, welche auf die Versöhnungsstunde der Menschen folgen! Die Liebe ist wieder blöde und jungfräulich, der Geliebte neu und verklärt, das Herz feiert seinen Mai, und die Auferstandenen vom Schlachtfelde begreifen den vorigen vergessenen Krieg nicht.

Schlachten heitern den bezognen Himmel auf; beide Brüder standen nach der ihrigen im hellsten Wetter da und sahen sich und alles schön beleuchtet. Walt, der nichts war als Lieben und Geben, wußte jetzt gar nicht, wie er beides noch zärter, noch wärmer gegen seinen Bruder sein könnte; denn er trachtete nach dem höchsten Grade; die Narben der kleinen Gewissensbisse brannten ihn noch ein wenig, und die Tränen des sonst dürren Vults hatt' er in seiner Seele aufgehoben. Vult stand selber als ein Mensch mit neuen Melodien aus dem Kanon der Liebe da. Ob er diese gleich mehr durch Taten als durch Zeichen wirken ließ, so war sie doch zu sehen; sein häufiges Kommen, sein Nachgeben, seine Milde, seine Helfbegierde und bei dem Abschiede – wenn er eben schnell genug die Treppe und Unsichtbarkeit erwischen konnte – oft sein Bruder-Kuß verrieten sein Inneres. »Niemand«, sagte einst Walt zu ihm, »kann rührender aussehen als du, wenn du eben die Milde in deine Feueraugen bringst; so kamen mir immer die Sparter vor, wenn sie mit ihren Flöten auf das Schlachtfeld zogen.« – »Es muß mir freilich lassen,« sagte er, »als wenn ein Seehund Mama sagt;Nach Bechstein lernt er Worte, Papa etc., murmeln. ja ich möchte es fast einen leisen pianen Sturmwind nennen. Aber ernsthaft zu sprechen, ich bin jetzt noch bei Konzert-Geld und deswegen ein gutes frohes Lamm; mein Leben ist ein Buch voll geschlagnen Golds, die Blätter sind so weich und so beweglich, freilich Gold-Blättchen auch, mein Kind!«

Walt nahm solche Reden gar nicht übel. Soweit indes auch Vult das Leben trieb – da er sich für den nächsten und lachenden Thron-Erben des abgegangenen Freund-Grafens ansehen konnte –, so merkte er doch, daß er darin seinen Bruder nur bezahle, nicht beschenke und daß dieser ihm stets um einen warmen Tag voraus war.

Einst hörte Vult von seinem Klingeldraht – er hieß eine ganze Mädchen-Pension so – die ganze heftige Schutzrede wieder, womit der sanfte Walt gerade in der Liebes-Pause für ihn gegen seine Antipathetiker an Neupeters Tafel aufgetreten war. Walt hatte ihm nicht ein Wort davon gesagt – wiewohl aus Liebe nicht bloß gegen den Bruder, sondern auch gegen alle Welt, so wie er aus doppelter Liebe das Kabelsche Testament, das den Bruder ein wenig beleidigen konnte, zu zeigen verweigerte. Vult drückte ihm beim Eintritt im Feuer der Liebe beide Achseln und machte solchem dadurch Luft, daß er die Neupeterschen scherzend handhabte. Aber er traf die falsche Zeit, wo Walt am Hoppelpoppel schrieb und den Schreib-Arm allen fünf Weltteilen liebend, führend bot und wo er so sehr an den verlornen Klothar dachte, weil er eben im Buch Freudenfeste findender und gefundner Seelen beging. Mit eigner wehmütiger Freude schrieb er jetzt daran unter dem Betrauern des abgestorbenen Freundes, so wie sonst mit Schmerzen unter dem Nachjagen nach ihm; und wunderte sich über den Unterschied.

Der schöne Begeisterungs-Mittag bei Neupeter, auf welchen ihn Vult durch seinen Dank zurückführte, stellte ihm den Grafen zu nahe wieder an die Brust; er bekannte es dem Bruder ganz offen, wie ihm der Ferne mit seinem ausgeleerten Dasein und mit der verlornen Wina immer in dem Kopfe liege und so schwer auf der Brust – wie er ihn einsam in dem zugesperrten Wagen sitzen und zurückdenken sehe – wie ihn ein solcher aus seinem Himmel in einen Käfig getriebene Adler erbarme und wie darum keine Marter bitterer auf der Erde gefunden werde als das Bewußtsein, einem edlen Geist irgendeine zugeführt zu haben. »O Vult, tröste mich nur recht, wenn du kannst« – sagt' er bei dem heftigsten Ausbruch – »Mein unschuldiger Wille tröstet mich wenig. Wenn du zufälligst, ohne böse Absicht, ja in der besten vielmehr, durch einen der Hölle entflognen Funken ein Krankenhaus oder ein unschuldiges Schweizerdorf oder ein Haus voll Gefangner angezündet hättest, und du sähest die Flammen und darauf die Gerippe: ach Gott, wer hälfe dir?«

»Mir die kalte Vernunft und dir ich« (sagt' er, aber ohne Groll). »Denn ich werde mich bei der Mädchenpension hart neben mir an nach den nähern Umständen erkundigen. Als ich noch im Erblinden stand, saß ich jeden Abend drüben; es ist die schnelleste Wiener Klapperpost, die mir noch vorgekommen, da sie manche Sachen schon liefert, indem sie noch geschehen. – Der Graf wird nicht wie du durch Zufälle entschuldigt für seine niedrigen Voraussetzungen über das Lesen und Übergeben des Briefs; er macht' es ganz nach Art der Großen und der gallischen Tragiker, die, um etwas zu erklären, lieber die größte Sünde als eine kleine annehmen, lieber eine Blutschande als Unkeuschheit.« Der Notar gestand, Klothars Versündigung erleichtere die Last der seinigen; blieb aber bei seinem Gefühl. In der Gesellschaft kann man einen Menschen leichter herabsetzen als hinauf; bei Walt umgekehrt. Vult ging und versprach, bald wiederzukommen.

Eines Nachmittags hüpfte Flitte, dessen Tanzsaal die ganze Stadt war, in Walts Stübchen. Er war gewohnt, an jedem Orte so viele und gute alte Bekannte zu zählen, als Einwohner darin waren; daher schlug er den zur Volksmenge gehörigen Notar ohne Umstände zur Freundes-Menge. Dieser glaubte gern, er komme seinetwegen, und wurde durch die Freude und die Angst, einen solchen Weltmann zu beherbergen, etwas außer sich gebracht. Sein Ich fuhr ängstlich oben in allen vier Gehirnkammern und darauf unten in den beiden Herzkammern wie eine Maus umher, um darin ein schmackhaftes Ideen-Körnchen aufzutreiben, das er dem Elsasser zutragen und vorlegen könnte zum Imbiß. Er fand wenig, was diesem schmeckte, aber der Elsasser hatte auch keinen Hunger und keine Zähne. Gelehrte Studierstuben-Sassen, welche die ganze Woche, Tag aus Tag ein, im Banquet und Pickenick der feinsten, reizendsten Ideen und Gerichte aus allen Weltaltern und Weltteilen schwelgen, bilden sich gar zu leicht ein, daß der Welt- und Geschäftsmann verdrüßlich und trocken bei ihnen werde, wenn sie ihn nicht immer heiß und fett mit Ideen übergießen am Bratenwender des Gesprächs, indes der Geschäftsmann schon zufrieden gestellt wäre, wenn er säße, und der Weltmann, wenn er am Fenster stände, oder vernähme, daß die Markgräfin gestern bei Tafel unmäßig genieset und daß der Baron von Kleinschwager, dessen Namen er gar nie gehört, diesen Morgen bloß durchpassiert ohne anzuhalten. Gelehrten kann das schwerlich zu oft vorgestellt werden; sie ziehen sonst immer einen Proviant-Wagen für die Gesellschaft mit mehreren oder wenigern Gedanken nach oder gar mit Witz. Rechte gewöhnliche und doch befriedigende Unterhaltung ist allgemein unter den Menschen die, daß einer das sagt, was der andere schon weiß, worauf dieser aber etwas versetzt, was jener auch weiß, so daß jeder sich zweimal hört, gleichsam ein geistiger Doppeltgänger.

Mit Flitten, der so leer an Realien war als Gottwalt an Personalien, konnte dieser wenig anfangen. Indes sprach, sang und tanzte der Elsasser, so gut es ging, trat oft ans Fenster und oft ans Bücherbrett und suchte darüber etwas zu sagen, weil er gern vor jedem mit dem prahlte, was jeder eben war. Einige Menschen sind Klaviere, die nur einsam zu spielen sind, manche sind Flügel, die in ein Konzert gehören; Flitte konnte nur vor vielen reden; und blieb im Duett fast zu dumm.

Als endlich der gute Notar an der Langweile, die er zu machen glaubte, selber eine fand – denn im Gespräch, wie im Pharao, ist erwiesen der Gewinn (des Vergnügens wie des Geldes) nie größer als der Einsatz von beiden –: so studierte er am Elsasser heimlich den Franzosen (denn Elsaß, sagt' er, ist doch französisch genug) und goß ihn im Vorbeigehen ab für den Abgußsaal seines Romans und hob ihn auf.

Unter dem Gießen macht' er plötzlich das Fenster zu und eine Verbeugung in den Garten durchs Glas hinaus, weil ihn Raphaela, welche drunten neben Wina der Vespersonne entgegenging, mit zurückgewandtem Kopfe leicht gegrüßet hatte. – Da flog Flitte herbei, Raphaela drehte sich, blickte schnell noch einmal um und erkannte nun diesen. Wina ging langsam und wie schwere Schmerzen tragend darneben, den Kopf nach der Abendsonne gehoben und das Schnupftuch mehrmals in die Augen drückend. Raphaela schien heftig zu sprechen und einzudringen und ordentlich an jeder nebligen Lebens-Stelle verborgnen tiefen Tränen-Quellen nachzugraben.

Walt vergaß sich so, daß er laut seufzete. »Ich glaube nur,« setzt' er gemäßigter hinzu, »daß die gute Generals-Tochter weint.« – »Drunten?« fragte Flitte kalt. »So ists in Verzweiflung über den eingebüßten Grafen; denn sie kann seinen Verlust nicht überleben. Ein andermal! – à revoir, ami!« So flog er in den Garten hinab.

Walt setzte sich nieder, stützte den Kopf auf die Hand, die seine Augen zudeckte, und hatte einen langen reinen Schmerz. Er war nicht imstand, das liebliche Angesicht des schönen Mädchens oder dessen Leiden zu behorchen mit Blicken, wenn sie den Garten herwärts kam. Er erschrak vor der ersten Stunde, wo er bei ihrem Vater kopieren und ihr aufstoßen könnte. Die untergehende Sonne wärmte ihn endlich mütterlich aus dem Winterschlafe der bösen Stunde auf. Der Garten war leer; er ging hinunter. Er wußte nicht, was er drunten wollte. Im Gebüsch flatterte ein halb zerrissenes feines Brief-Papierblatt. Er nahm es, es war von weiblicher Hand und enthielt eine aus einem fremden Briefe kopierte Stelle, wie er aus den sogenannten Gänsefüßen ersah. Ein halbes Blatt, ein entzweigeschlitztes, eine Kopie eines zweiten Briefes – einen ersten hätt' er nie gelesen – konnt' er wohl ansehen und lesen:
 

»›– Blumen entzwei. Glaub' es mir. O wie leicht und froh verschmerzt man eignen Schmerz! Wie so schwer den fremden, den man, wiewohl schuldlos und gezwungen, hergeführt! Wie kann ein Wesen, das doch auch ein schlagendes Herz hat, ganze Völker weinen lassen, wenn schon der erste Unglückliche, den man machen müssen, so wehe tut? Verbirg und verschweige aber meine Klage gewissenhaft, damit sie nicht meinen Vater quäle, der so leicht alles erfährt! Doch du tust es ohnehin. Indessen steht mein Entschluß so fest als je; nur will ich ihn bezahlen durch Schmerzen. Ich kann jetzt nichts tun als leiden und besser werden, ich gehe häufiger in die Kirche, ich schreibe öfter an meine Mutter, ich bin gefälliger gegen meinen Vater, gegen jede Menschen-Seele. Denn es gehört sich, daß ich, da mir die Kirche befiehlt, Freuden zu nehmen, es anderswo einbringe, wo sie es erlaubt, einige zu vermehren. Meine haben längst aufgehört und früher, als ich Ihn verloren. – O sei du glücklich, meine liebe Raphaela!‹ – Daraus kannst du sehen, Schönste, wie diese Wunde meiner W. mein zu weiches Herz zerdrücken muß. Leb' wohl! Das goldne Herz, wenn du es nicht schon beim Schmidt bestellet hast, muß durchaus drei Lot wiegen. Den Hasenbrecher und das Armband hat meine Mutter bekommen.

Deine Raphaela.«

*

Walt wurde unter dem Lesen aus seinem Fenster namentlich gerufen von Vult mit den freudigsten Mienen; er las es unterwegs gar aus. »Du kennst«, fing jener lustig an, »meine eustachische Famas-Trompete? – Nämlich meine kumäische Sibylle der Vergangenheit? Das heißet meine Mietfackel? – Himmel, verstehest du mich noch nicht? Ich meine meine historische Oktapla und acht partes orationis (denn so viele Mädchen sinds)? Zum Henker, die Schnappweife? Die Pension nämlich! Von dieser nun erfahr' ich eben folgendes aus reinster Quelle, weil der General, der sie zuweilen besucht, ihr, wie alle Neugierige, ebensoviel vorerzählt als abhorcht.

Genau genommen ists die Dogaressa und Direktrice der Mädchen, die dem General für ein paar Neuigkeiten und Höflichkeiten gerade soviel Töchterseelen opfert, als mir referieren, acht. Es war vorgestern, daß der General sein Wiegenfest beging und nach seiner Sitte das heilige Abendmahl vor seinem Mittagsmahl nahm und darauf der Seelen-Arznei viel nachtrank. Die Tochter muß allemal mit beichten. Ich weiß nicht, ob du viel mit ausschweifenden Großen umgegangen, zu welchen Mönche am leichtesten sagen wie zu Hunden: faites la belle, für welche der Ohrenbeicht-Stuhl das Absonderungsgefäß ihres geistigen Übertrunks und Überfraßes ist, und welche, wie der Norden, ihre Bekehrung den Weibern verdanken, willst du anders Ludwigs XIV. letzten Stunden glauben. Kurz, der General mag so etwas sein. An seinem Geburts- und Beicht-Tage liebt' er von jeher seine Tochter ganz besonders, weil er eine Art Taufwasser – um zwei entlegne Sakramente durch Flüssigkeiten zu vereinen – den ganzen Tag unter der Gehirnschale dem Kopfe aufgießet. Er hat überhaupt das Gute, daß er aufrichtig gut gegen sie ist; er sieht ihr sogar nach, daß sie der ihm verhaßten protestantischen Mutter in Leipzig anhängt. Da er nun so den ganzen Tag mit seiner Beicht- und Vater-Tochter beisammen bleibt: so trinkt und weint er sehr. Er foderte jetzt Rechenschaft von ihr, warum sie noch so trauerte, daß sie fast den Grafen mehr zu lieben schiene als ihren Gott und die heilige Kirche und ihren Vater. Sie antwortete heftig: das sei es am wenigsten; sogar dem Kirchenrate Glanz, der öfters mit ihr über den heiligen Glauben gesprochen, habe sie nur höflich zugehört; den Grafen aber nicht mehr geliebt als jeden guten Menschen! Zablocki fragte erstaunt, warum sie ihn, bei ihrer Freiheit der Wahl, doch heiraten wollen. ›Ich dachte,‹ sagte sie, ›ich könnt' ihn vielleicht zu unserer Religion durch rechtes Aufopfern bringen.‹ Walt! einen Philosophen bekehren! Tauft und tonsuriert lieber eine Perücke! –

Der General lächelte und weinte zugleich vor Lust, lief aber immer mehr auf das weiche zarte Wesen Sturm, stieg ins offne Herz und holte sich das zweite Geheimnis. Sie hoffte nämlich, ihrer abgeschiedenen protestantischen Mutter (und wohl dem verschuldeten Vater) zu Zeiten ein Kopfkissen aus dem reichen Ehebette zuzuwerfen; gestand es aber ohne Metaphern. Da konnte sich der trunkene Vater nicht enthalten, zu schwören, ihm solle lieber ein Traubenschuß in den Magen fahren, oder sein Warschauer Prozeß verloren gehen, woll' er je einem solchen seelentreuen Kinde etwas abschlagen oder aufdringen. Und so weiter! Bist du getröstet?« –

Walt schwieg; Vult bat ihn um das zerrissene Blatt in seiner Hand. Er las es froh und fand darin seinen Bericht besiegelt und machte seinen Spaß über Raphaelens weibliche Weise, Herz und Wäsche, Größtes und Kleinstes ineinander zu stecken. Aber Walt sagte, eben das, so wie ihr Erzählen, beweise, daß die Weiber mehr episch seien, die Männer hingegen lyrisch.

Ein Läufer Zablockis kam hinein und meldete, er solle morgen um 4 Uhr erscheinen zum bewußten Kopieren. Er verbarg mühsam den ganzen Abend die Stärke seiner Bewegungen.


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