Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 13: Berliner Marmor mit glänzenden Flecken

Ver- und Erkennung

Unten im Korrelationssaal und Simultanzimmer der Gäste forderte der Notar nach Art der Reise-Neulinge schnell einen Trunk, eine einmännige Stube und dergleichen Abendmahlzeit, damit der Wirt nicht denken sollte, er verzehre wenig. Der lustige Vult trat ein, tat mit Welt-Manier ganz vertraulich und freute sich sehr des gemeinschaftlichen Übernachtens: »Wenn – Ihr Schimmel zu haben ist,« sagt' er, »so hab' ich Auftrag, ihn für jemand zu einem Schießpferd zu kaufen, denn ich glaube, daß er steht.« – »Es ist nicht der meinige«, sagte Walt. »Er frisset aber brav«, sagte der Wirt, der ihn bat, nachzufolgen in sein Zimmer. Als ers aufschloß, war die Abendwand nicht sowohl ganz zerstört – denn sie lag ein Stockwerk tiefer unten in ziemlichen Stücken – als wahrhaft verdoppelt – denn die neue lag als Stein und Kalk unten darneben –. »Weiter,« fügte der Herrnhuter seelenruhig bei, als der Gast ein wenig erstaunt mit dem großen Auge durch das sieben Schritt breite Luftfenster durchfuhr, »weiter hab' ich im ganzen Hause nichts leer, und jetzt ists Sommer.« – »Gut«, sagte Walt stark und suchte zu befehlen; »aber einen Besen!« – Der Wirt lief demütig und gehorchend hinab.

»Ist unser Wirt nicht ein wahrer Filou?« sagte Vult. »Im Grunde, mein Herr,« – versetzte jener freudig – »ist das für mich schöner. Welcher herrliche lange Strom von Feldern und Dörfern, der hereinglänzt und das Auge trägt und zieht; und die Abendsonne und -röte und den Mond hat man ganz vor sich, sogar im Bette die ganze Nacht!« – Diese Einstimmung ins Geschick und ins Wirtshaus kam aber nicht bloß von seiner angebornen Milde, überall nur die übermalte, nicht die leere Seite der Menschen und des Lebens vorzudrehen, sondern auch von jener göttlichen Entzückung und Berauschung her, womit besonders Dichter, die nie auf Reisen waren, einen von Träumen und Gegenden nachblitzenden Reisetag beschließen; die prosaischen Felder des Lebens werden ihnen, wie in Italien die wirklichen, von poetischen Myrten umkränzt und die leeren Pappeln von Trauben erstiegen.

Vult lobte ihn wegen der Gemsenartigkeit, womit er, wie er sehe, von Gipfeln zu Gipfeln setze über Abgründe. »Der Mensch soll«, versetzte Walt, »das Leben wie einen hitzigen Falken auf der Hand forttragen, ihn in den Äther auflassen und wieder herunterrufen können, wie es nötig ist, so denk' ich.« – »Der Mars, der Saturn, der Mond und die Kometen ohne Zahl stören« (antwortete Vult) »unsere Erde bekanntlich sehr im Laufe; – aber die Erdkugel in uns, sehr gut das Herz genannt, sollte beim Henker sich von keiner fremden laufenden Welt aus der Bahn bringen lassen, wenns nicht etwa eine solche tut wie die weise Pallas – oder die reiche Ceres – und die schöne Venus, die als Hesper und als Luzifer die Erdbewohner schön mit dem lebendigen Merkur verbindet. – Und erlauben Sie es, mein Herr, so werfen wir heute unsere Soupers zusammen, und ich speise mit hier vor der Breche, wo das Mondsviertel in der Suppe schwimmen und die Abendröte den Braten übergolden kann.«

Walt sagte heiter Ja. Auf Reisen macht man abends lieber romantische Bekanntschaften als morgens. Auch trachtete er, wie alle Jünglinge, stark, viele zu machen, besonders vornehme, unter welche er den lustigen Kauz mit seinem grünen Reise-Hute rechnete, diesem Gegenhut eines Bischofs, der einen nur innen grünen und außen schwarzen trägt.

Da kam der Wirt und der Besen, um den Bau-Abhub und Bodensatz über die Stube hinauszufegen; in den linken Fingern hing ihm ein breiter, in Holz eingerahmter Schiefer. Er zeigte an, sie müßten ihre Namen daraufsetzen, weil es hier zu Lande wie im Gothaischen wäre, wo jeder Dorfwirt den Schiefer am Tage darauf mit den Namen aller derer, die nachts bei ihm logieret hätten, in die Stadt an die Behörde tragen müßte.

»O man kennt euch Wirte« – sagte Vult und faßte die ganze Tafel – »ihr seid wohl ebenso begierig darhinter her, was euer Gast für ein Vogel ist, als irgendein regierender Hof in Deutschland, der gleich abends nach dem Tor- und Nachtzettel aller Einpassanten greift, weil er keinen bessern Index Autorum kennt als diesen.«

Vult setzte mit einem angeketteten Schiefer-Stift auf den Schiefer mit Schiefer – so wie unser Fichtisches Ich zugleich Schreiber, Papier, Feder, Dinte, Buchstaben und Leser ist – seinen Namen so: »Peter Gottwalt Harnisch, K. K. offner geschworner Notarius und Tabellio, geht nach Haßlau.« Darauf nahm ihn Walt, um sich auch als Notarius selber zu verhören und seinen Namen und Charakter zu Protokoll und zu Papier zu bringen.

Erstaunt sah er sich schon darauf und schauete den Grünhut an, dann den Wirt, welcher wartete, bis Vult den Schiefer nahm und dem Wirte mit den Worten gab: »Nachher, Freund! – ce n'est qu'un petit tour que je joue à notre hôte«, sagt' er mit so schneller Aussprache, daß Walt kein Wort verstand und daher erwiderte: »Oui.« Aber durch seinen verwirrten Rauch schlugen die freudigsten Funken; alles verhieß, glaubte er, eines der schönsten Abenteuer; denn er war dermaßen mit Erwartungen ganz romantischer Naturspiele des Schicksals, frappanter Meerwunder zu Lande ausgefüllet, daß er es eben nicht über sein Vermuten gefunden hätte – bei aller Achtung eines Stubengelehrten und Schulzensohns für höhere Stände –, falls ihm etwa eine Fürstentochter einmal ans Herz gefallen wäre, oder der fürstliche Hut ihres Herrn Vaters auf den Kopf. Man weiß so wenig, wie die Menschen wachen, noch weniger, wie sie träumen, nicht ihre größte Furcht, geschweige ihre größte Hoffnung. Der Schiefer war ihm eine Kometenkarte, die ihm Gott weiß welchen neuen feurigen Bartstern ansagte, der durch seinen einförmigen Lebens-Himmel fahren würde. »Herr Wirt,« – sagte Vult freudig, dem seine beherrschende Rolle so wohltat wie sein sanfter Bruder ohne Stolz – »servier' Er hier ein reiches Souper, und trag' Er uns ein Paar Flaschen vom besten aufrichtigsten Krätzer auf, den er auf dem Lager hält.«

Walten schlug er einen Spaziergang auf den benachbarten Herrnhuter Gottesacker vor, während man fege; »ich ziehe droben«, fügt' er bei, »mein Flauto traverso heraus und blase ein wenig in die Abendsonne und über die toten Herrnhuter hinüber; – lieben Sie das Flauto?« – »O wie sehr gut sind Sie gegen einen fremden Menschen!« antwortete Walt mit Augen voll Liebe; denn das Ganze des Flötenspielers verkündigte bei allem Mutwillen des Blicks und Mundes heimliche Treue, Liebe und Rechtlichkeit. »Wohl lieb' ich«, fuhr er fort, »die Flöte, den Zauberstab, der die innere Welt verwandelt, wenn er sie berührt, eine Wünschelrute, vor der die innere Tiefe aufgeht.« – »Die wahre Mondachse des innern Monds«, sagte Vult. »Ach, sie ist mir noch sonst teuer«, sagte Walt und erzählte nun, wie er durch sie oder an ihr einen geliebten Bruder verloren – und welchen Schmerz er und die Eltern bisher getragen, da es ein kleinerer sei, einen Verwandten im Grabe zu haben, als in jeder frohen Stunde sich zu fragen: mit welcher dunklen, kalten mag jetzt der Flüchtling auf seinem Brett im Weltmeer ringen? »Da aber Ihr Herr Bruder ein Mann von musikalischem Gewicht sein soll, so kann er ja ebensogut im Überflusse schwimmen als im Weltmeer«, sagte er selber.

»Ich meine,« versetzte Walt, »sonst dachten wir so traurig, jetzt nicht mehr; und da war es kein Wunder, wenn man jede Flöte für ein Stummenglöckchen hielt, das der in Nacht hinaus verlorne Bruder hören ließ, weil er nicht zu uns reden konnte.« Unwillkürlich fuhr Vult nach dessen Hand, gab sie ebenso schnell zurück, sagte: »Genug! Mich rühren 100 Sachen zu stark – Himmel, die ganze Landschaft hängt ja voll Duft und Gold!«

Aber nun vermochte sein entbranntes Herz keine halbe Stunde länger den Kuß des brüderlichen aufzuschieben; so sehr hatte die vertrauende unbefangene Bruderseele heute und gestern in seiner Brust, aus welcher die Winde der Reisen eine Liebes-Kohle nach der andern verweht hatten, ein neues Feuer der Bruderflammen angezündet, welche frei und hoch aufschlugen ohne das kleinste Hindernis. Stiller gingen jetzt beide im schönen Abend. Als sie den Gottesacker öffneten, schwamm er flammig im Schmelz und Brand der Abendsonne. Hätte Vult zehn Meilen umher nach einem schönen Postamente für eine Gruppe zwillings-brüderlicher Erkennung gesucht, ein besseres hätt' er schwerlich aufgetrieben, als der Herrnhuter Totengarten war mit seinen flachen Beeten, worin Gärtner aus Amerika, Asia und Barby gesäet waren, die sich alle auf einander mit dem schönen Lebens- Endreim »heimgegangen« reimten. Wie schön war hier der Knochenbau des Todes in Jugend-Fleisch gekleidet und der letzte blasse Schlaf mit Blüten und Blättern zugedeckt! Um jedes stille Beet mit seinem Saat-Herzen lebten treue Bäume, und die ganze lebendige Natur sah mit ihrem jungen Angesicht herein.

Vult, der jetzt noch ernster geworden, freuete sich, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach vor keinem Kenner zu blasen habe, weil seine Brust, solcher Erschütterungen ungewohnt, heute nicht genug Atem für sein Spiel behielt. Er stellte sich weg vom Bruder, gegenüber der strahlenlosen Abendsonne, an einen Kirschbaum, aus welchem das Brust- und Halsgeschmeide eines blühenden Jelängerjelieber wie eigne Blüte hing; und blies statt der schwersten Flöten-Passaden nur solche einfache Ariosos nebst einigen eingestreuten Echos ab, wovon er glauben durfte, daß sie ins unerzogne Ohr eines juristischen Kandidaten mit dem größten Glanz und Freuden-Gefolge ziehen würden.

Sie tatens auch. Immer langsamer ging Gottwalt, mit einem langen Kirschzweige in der Hand, zwischen der Morgen- und der Abend-Gegend auf und nieder. Seliger als nie in seinem trocknen Leben war er, als er auf die liebäugelnde Rosen-Sonne losging und über ein breites goldgrünes Land mit Turmspitzen in Obstwäldern und in das glatte weiße Mutterdorf der schlafenden stummen Kolonisten im Garten hineinsah, und wenn dann die Zephyre der Melodien die duftige Landschaft wehend aufzublättern und zu bewegen schienen. Kehrt' er sich um, mit gefärbtem Blick, nach dem Osthimmel und sah die Ebene voll grüner auf- und ablaufender Hügel wie Landhäuser und Rotunden stehen und den Schwung der Laubholzwälder auf den fernen Bergen und den Himmel in ihre Windungen eingesenkt: so lagen und spielten die Töne wieder drüben auf den roten Höhen und zuckten in den vergoldeten Vögeln, die wie Aurorens Flocken umherschwammen, und weckten an einer düstern schlafenden Morgenwolke die lebendigen Blicke aufgehender Blitze auf. Vom Gewitter wandt' er sich wieder gegen das vielfarbige Sonnenland – ein Wehen von Osten trug die Töne – schwamm mit ihnen an die Sonne – auf den blühenden Abendwolken sang das kleine Echo, das liebliche Kind, die Spiele leise nach. – Die Lieder der Lerchen flogen gaukelnd dazwischen und störten nichts. – –

Jetzt brannte und zitterte in zartem Umriß eine Obstallee durchsichtig und riesenhaft in der Abendglut – schwer und schlummernd schwamm die Sonne auf ihrem Meer – es zog sie hinunter – ihr goldner Heiligenschein glühte fort im leeren Blau – und die Echotöne schwebten und starben auf dem Glanz: Da kehrte sich jetzt Vult, mit der Flöte am Munde, nach dem Bruder um und sah es, wie er hinter ihm stand, von den Scharlachflügeln der Abendröte und der gerührten Entzückung überdeckt und mit blödem stillen Weinen im blauen Auge. – Die heilige Musik zeigt den Menschen eine Vergangenheit und eine Zukunft, die sie nie erleben. Auch dem Flötenspieler quoll jetzt die Brust voll von ungestümer Liebe. Walt schrieb sie bloß den Tönen zu, drückte aber wild und voll lauterer Liebe die schöpferische Hand. Vult sah ihn scharf an, wie fragend. »Auch an meinen Bruder denk' ich«, sagte Walt; »und wie sollt' ich mich jetzt nicht nach ihm sehnen?«

Nun warf Vult Kopf-schüttelnd die Flöte weg – ergriff ihn – hielt ihn von sich, da er ihn umarmen wollte – sah ihm brennend ins fromme Gesicht und sagte: »Gottwalt, kennst du mich nicht mehr? Ich bin ja der Bruder.« – »Du? O schöner Himmel! – Und du bist mein Bruder Vult?« schrie Walt und stürzte an ihn. Sie weinten lange. Es donnerte sanft in Morgen. »Höre unsern guten Allgütigen!« sagte Walt. Der Bruder antwortete nichts. Ohne weitere Worte gingen beide langsam Hand in Hand aus dem Gottesacker.


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