Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Er ging mit Walt zum Postmeister, bloß um, wie er gewöhnlich tat, nach Marseiller Briefen vergeblich zu fragen. Dem Postsekretär las er eine schwere französische Aufschrift vor. Walt pries dessen Accent und Prononciation aufrichtig. Auf der Straße macht' ihm nun Flitte zehn vergebliche Male vor, wie er wenigstens beide Worte zu accentuieren und zu prononcieren habe. Walt gestand, daß ihm mehr Ohr als Zunge fehle, drückte ihm die Hand mit dem Bekenntnis, daß er die meisten Franzosen gelesen, aber noch keinen gehört, und daß er deswegen so eifrig auf jeden Laut von Flitte horche; indes berief er sich auf den General Zablocki, ob er nicht vielleicht eine erträgliche Hand von Schomaker davon gebracht. Darauf zeigte ihm Flitte gegenseitig Germanismen der Phrasen, die ihm noch anklebten.

Sie gingen zur Stückjunkerin, bei welcher Walt neulich Saiten aufgezogen hatte. Diese sprach von dem Tode ihres Mannes und der Einäscherung eines Palastes, den sie im belagerten Toulon gehabt, aus welchem sie nichts gerettet, als was sie zur Erinnerung ewig aufbewahrte, einen Nachttopf aus feinstem Porzellan. Der Zug entzückte den Notar durch den vornehmen Zynismus, womit er im Hoppelpoppel Leute von Welt kolorieren konnte. Selten sieht ein romantischer Anfänger einen alten General oder jungen Hofjunker im Zwielicht z.B. pissen, ohne sich an den Schreibtisch niederzusetzen und niederzuschreiben: »Herren vom Hofe stellen sich gemeinhin im Zwielicht in Ecken.« Man sprach viel französisch; und Walt tat, was er konnte, und sagte häufig: comment? – Flitte zeigt' ihm nachher den Germanismus in der Frage.

Sie gingen in die weibliche, ihm durch Vult bekannte Pensions-Anstalt, worin noch mehr Gallizismen und noch mehr Schönheiten regierten. Flitten war nicht nachzufliegen im freien Artigsein; doch wars ihm genug, nur nachzublicken und zwischen den Beeten voll Seelenlilien eng die eine Fußzehe an die Ferse der andern anzuschienen. »Ach ihr Lieben!« sagte sein Herz. Was er nur hörte, erklang ihm so zart; »aber«, dacht' er, »sind denn Frauenzimmer anders? Mitten im unreinen männlichen Weltleben, das alle Ströme und Leichen aufnimmt, sind sie ja abgesondert voll eigner Reinheit; im salzigen Weltmeer kleine Inseln voll frischen klaren Wasser; o diese Guten!« –

Als er heraustrat, wurden ihm auf einem goldnen Eßgeschirr des regierenden Fürsten leichte Farschen, Rouletten und Frikandellen aufgetischt – für die Freßspitzen der Phantasie. Das Geschirr – das Geschenk eines alten Königs – wurde nämlich jährlich zweimal öffentlich auf dem Markte abgescheuert und geputzt unter den Augen eines kleinen Kommandos zu Fuß, das seine Waffen hatte, um es gegen ungeratene Landeskinder zu decken.

Sie gingen zum Galanteriehändler Prielmayer und ließen sich von der Pracht der weiblichen Welt umgeben.

Ein so freier, leichter, alle Stände mischender Vormittag war Harnischen noch nie vorgekommen; ein Musenpferd nach dem andern wurde seinem Siegeswägelchen angeschirrt, und es flog. Flittens Leben hielt er von jeher für ein tanzendes Frühstück und für einen thé dansant; sein eignes hielt er jetzt für ein eau dansant. Er genoß ebensosehr in Flitten – den er sich wie sich begeistert dachte – als in sich selber hinein; die elsassischen Sonnenstäubchen vergoldete und beseelte er zu poetischem Blütenstaub. Zuletzt macht' er, neben ihm gehend, heimlich folgende Grabschrift auf ihn:

Grabschrift des Zephyrs

Auf der Erde flog ich und spielte durch Blumen und Zweige und zuweilen um das Wölkchen – Auch im Schattenland werd' ich flattern um die dunkeln Blumen und in den Hainen Elysiums. Stehe nicht, Wanderer, sondern eile und spiele wie ich.
 

Um 10 Uhr bracht' ihn Flitte dem Hofe näher: »Wir gehen in die champs élisées und nehmen ein déjeûner dinatoire.« Es war ein bejahrter Fürstengarten, welcher den Weg zur ersten Chaussee im Lande gebahnt hatte. Unterwegs fingen zwar Warnungstafeln gegen Kinder und Hunde an; aber in den champs élisées wurde erst ordentlich alles verboten, besonders die elysischen Felder selber – in keinem Paradies gab es so viele verbotene Bäume und Frucht- und Blumen-Sperren – auf allen Gängen blühten oben oder keimten unten Kerker-Diplome und Aus- und Einwanderungsverbote – unter Expektanzdekreten der Züchtigung durchkreuzte jeder als ein lustwandelnder Züchtling das Eden und feierte Petri Kettenfeier im Gehen und strapazierte sich hinter seinem Rücken – mehr wie eine Wallfahrt durch Dantes Höllenkreise (der Himmel blieb nirgends als über dem Kopfe) denn als ein katholischer Bußgang durch Christi Leidens-Stationen kam jedem unter dem schriftlichen Anschnauzen aller fluchenden Bäume und Tempel sein Lustwandeln vor – – ja der Mensch verstimmte sich zuletzt in den champs und kam fatigiert heraus.

War Walt je froh und frei: so wars in diesen Feldern; sein innerer Mensch trug ein Thyrsus-Stäbchen und rannte damit. Von allen diesen Warnungstafeln war nämlich nichts mehr da als die Tafel, das Holz, Stein, Blech; die Warnung aber war gut vermooset, verraset, versandet. Köstliche Freiheit und Freilassung beherrschte nun Eden, wie ihm Flitte beschwur und bewies. Die ganze Sperrordnung war bloß in jenen Zeiten an der Tagesordnung gewesen, wo große und kleine Fürsten – ganz anders als jetzt die großen – (höflich zu sprechen) etwas grob gegen Untertanen waren, und wo sie als Ebenbilder der Gottheit – welche darin eben nicht von dem Maler geschmeichelt wurde –, dem mehr jüdischen als evangelischen Gotte der damaligen Kanzeln ähnlich, öfter donnerten als segneten. »Was die Herrschaft jetzt etwa im Parke sehr lieb und gern hat,« sagte Flitte, »dies ist schon besonders recht eingezäunt, so daß ohnehin niemand hineinkann.«

Beide nahmen ihr déjeûner dinatoire, Morgenbrot und Morgenwein, in einem offenen und lustigen Kiosk, unweit des Gartenwirts. Der Notar war erwähntermaßen selig; – den auf- und absteigenden Tag- und Nachtgarten samt dem leichten, wie herabgeflogenen Lustschlosse, das ein versteinerter Frühlingsmorgen schien, ferner die Wäldchen, woraus bunte Lusthäuschen wie Tulpen herauswankten, desgleichen die gemalten Brücken und weißen Statuen und die Regelschnüre vieler Hecken und Gänge – – das konnt' er dem Elsasser, dem ers zeigte, gar nicht feurig genug vorfärben, je länger er trank. Diesem gefiels natürlich; denn gewöhnlich führte er seine Claude-Lorrains nur mit dem einzigen Wort und Striche wacker aus: süperb! – Jeder aber hat seine andere Hauptfarbe der Bewunderung; der eine sagt: englisch! – der andere: himmlisch! – der dritte: göttlich! – der vierte: ei der Teufel! – der fünfte: ei! –

Walt aber sagte, obwohl zu sich: »Dies ist von morgen an, oder ich irre entsetzlich, das wahre Weltleben Eleganter. Bin ich nicht wie in Versailles und in Fontainebleau; und Louis quatorze regiert zurück? Der Unterschied ist schwerlich erheblich. Diese Alleen – diese Beete – Büsche – diese vielen Leute am Morgen – dieser lichte Tag!« – Walten war nämlich, der Himmel weiß von welchen Frühblicken des Lebens, eine so romantische Ansicht von der Jugendzeit des galanten, liberalen, Länder, Weiber, Höfe besiegenden Ludwigs XIV. nachgeblieben, daß ihm dessen Jugend mit ihren Festen und Himmeln wie eine eigene Vorjugend schön als sanftes Feuerwerk in den Lüften vorschwebte und wie der freie frische Morgen eines im Negligé spazierenden Hofs – so daß ihn jeder Springbrunnen nach Marly warf, jede geschniegelte Allee nach Versailles und hohe Fontange-Kupferstiche an Schränken-Wänden ins damalige Königsschloß, ja sogar die ausgeschnittenen aufgepappten Bildchen auf seinem Schreibtische flogen mit ihm in jene lustige Hof-, wenn auch nicht lustige Völkerzeit. – »Ist nicht das Leben der Hofleute« – hatt' er sich mehrmals gesagt – »fortgehende Poesie (wenn anders die französischen Mémoires nicht lügen), ohne pressende Nahrungs-Qualen und in geflügelten Verhältnissen, und die Hofmänner können sich an jedem Musik-Abend verlieben und dann am Garten-Morgen mit den herrlichsten Geliebten spazieren gehen? O wie ihnen die Göttinnen blühen müssen im frischen schminkenden Morgenrot!«

Dadurch genoß er im Garten einen ganz andern, schon beerdigten; als Feuerwerk hing das phantastische Nachbild über dem liegenden Vorbild. Glücklicherweise tat ihm Flitte – der in jeder Gesellschaft stets eine neue suchte – den Gefallen, daß er mit dem Garten-Restaurateur in ein Gespräch geriet und ihn dadurch mit der köstlichen Einsamkeit zu einigen träumerischen Streifzügen beschenkte. Wie freudig tat er diese! Er sah alles und dabei an – die grünen Schatten, von Sonnen-Funken durchregnet – die fernen Seen, einige wie dunkle Augenlider des Parks, einige wie lichte Augen – die Barken auf Wassern – die Brücken über beide – die weißen hohen Tempel-Staffeln auf Höhen – die fernen, aber hell-herglänzenden Pavillons – und hoch über allen die Berge und Straßen draußen, die kühn in den blauen Himmel hinaufflogen – Sein Vormittag hatte sich stündlich geläutert, aus reinem Wasser zur Zephyr-Luft, diese oben zu Äther, worin nichts mehr war und flog als Welten und Licht. Den Bruder hätt' er gern hergewünscht – Winas Blick unter dem Wasserfall sah er am hellen Tage. Er war selig, ohne recht zu wissen wie oder warum. Seine Fackel brannte mit gerader Spitze auf in der sonst wehenden Welt, und kein Lüftchen bog sie um. Nicht einmal einen Streckvers macht' er, aus Flucht des Sylbenzwangs, es war ihm, als würd' er selber gedichtet, und er fügte sich leicht in den Rhythmus eines fremden entzückten Dichters.

In diesem innern Wohlklang stand er vor einem sonderbaren Garten im Garten und zog fast nur spielsweise an einem Glöckchen ein wenig. Er hatte kaum einigemale geläutet: so kam ein reich besetzter schwerer Hofdiener ohne Hut herbeigerudert, um einigen von der fürstlichen Familie die Türe aufzureißen, weil das Glöckchen den Zweck einer Bedientenglocke hatte. Als aber der vornehme Mensch nichts an der Türe fand als den sanften Notar: so filzte er den erstaunten Glöckner in einer der längsten Reden, die er je gehalten, aus, als hätte Walt die Sturm- und Türkenglocke ohne Not gezogen.

Diesem war indes sein Inneres so leicht und fest gewölbt, daß das Äußere schwer eindringen konnte, nicht mit einem Tropfen in sein leichtes fliegendes Schiff; zu Flitten kehrte er sogleich zurück. Sie gingen heim. Die großen Eßglocken riefen die Stadt zusammen, wie zwei Stunden später kleinere den Hof; dies wirkte auf den satten Notar, der jetzt nicht zum Essen ging, sehr romantisch. Gibt es einen wahren Mann nach der Uhr, der zugleich die Uhr selber ist, so ists der Magen. Je dunkler und zeitlicher das Wesen, desto mehr Zeit kennt es, wie Leiber, Fieber, Tiere, Kinder und Wahnsinnige beweisen; nur ein Geist kann die Zeit vergessen, weil nur er sie schafft. Wird nun dem gedachten Magen oder Manne nach der Uhr seine Speise-Uhr um Stunden voraus oder zurück gestellt: so macht er wieder den Geist so irre, daß dieser ganz romantisch wird. Denn er mit allen seinen Himmels-Sternen muß doch der körperlichen Umdrehung folgen. Das Frühstück, das ein Spätstück gewesen, warf den Notar aus einem Gleise, worin er seit Jahrzehenden gefahren war, so weit hinaus, daß vor ihm jeder Glockenschlag, der Sonnenstand, der ganze Nachmittag ein fremdes seltsames Ansehen gewann. Vielleicht macht daher der Krieg den disziplinierten Soldaten durch die Verkehrung aller Zeiten in unordentlichen Ebben und Fluten des Genusses romantisch und kriegerisch.

Um die Vesperzeit erschien ihm der Schattenwurf der Häuser noch wunderlicher, und in Fraissens Zimmer wurd' ihm die Zeit zugleich eng und lang', weil er wegen seiner untergrabenen Sternwarte nichts voraussehen konnte. Er wollte wieder Monde und begleitete Flitten in ein Billardzimmer, wo er verwundert hörte, daß dieser die Bälle nicht französisch zählte, sondern deutsch. Hier entlief er bald aus dem magern Zuschauen allein hinaus an das schöne Ufer des Flusses. Als er da die armen Leute erblickte, welche an diesem Tage nach den Stadtgesetzen fischen durften (obwohl ohne Hamen) und Holz lesen (obwohl ohne Beil): so erhielt er plötzlich an ihren heutigen Genüssen eine Entschuldigung der seinigen, die ihm allmählich zu vornehm und zu müßiggängerisch vorgekommen waren: »Auch ich habe«, dacht' er, »heute vornehm genug geschwelgt und kein Wort am Roman geschrieben; doch morgen soll ganz anders zu Hause geblieben werden.«

Die langen Abend-Schatten am Ufer und die langen roten Wolken legten sich ihm als neue große Schwingen an, welche ihn bewegten, nicht er sie.

Er durchstreifte allein die dämmernden Gassen, bereit zu jedem Abenteuer, bis der Mond aufging und seine Mond-Uhr wurde. Da war der Wirrwarr gelichtet, und der Magen wußte, welche Zeit es sei. Vor Winas schimmerndem Hause trug er das vielfach erregte Herz auf und ab; da sank ihm in dasselbe eine stille Sehnsucht wie vom Himmel nieder, und den lustigen Erden-Tag kränzte die heiligste Himmels-Stunde.


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