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Eß- und Trink-Wette – das Mädchen
Es mag nun hinter dem Traum ein Geist oder ein Mensch stecken, dachte Walt, eines der größten Abenteuer bleibt er immer. Das schwang ihn über die ganze Stube voll Gäste weg; er fuhr auf dem romantischen Schwanzstern über die Erden hinaus, die wir kennen. Die Friedrichsd'ore, von denen er viel vertun wollte, waren die goldnen Flügeldecken seiner Flügel, und er konnte ohne Eingriffe in den väterlichen Beutel sich ein Nößel Wein ausbitten, gesetzt auch, der Elsasser Testator komme wieder auf.
So froh gestimmt und leicht gemacht, bahnte er sich durch das theatralische Gewimmel der Stube seinen beständigen Hin- und Herweg, wie durch ein Kornfeld, streifte oft an Chemisen vorbei, stand vor manchen Gruppen still und lächelte kühn genug in fremdes Gespräch hinein. Jetzt trat die Blauäugige, welche keine Mannshandschuhe gekauft, ins Zimmer. Der Direkteur der Truppe schnaubte öffentlich Winen (so verkürzt' er Jako-bine) hart an, weil sie ihm zu teuere Handschuhe mitgebracht. Mit Vergnügen entschuldigte Walt innerlich ihren Handelsgeist mit der alten Theater-Einrichtung solcher Truppen, daß sie nichts übrig haben, und daß aller Goldstaub nur Geigenharzpulver ist, das man in ihr Feuer wirft. Das Mädchen heftete, während der rohe Direkteur um sie donnerte, die heitersten Blicke auf den Notarius und sagte endlich, der Herr da möge doch den Ausspruch tun und zeugen. Er tats und zeugte stark.
Aber der Donnerer wurde wenig erschüttert. Da trat die Maske wieder ein. Walt scheuete seinen bösen Genius. Sie schien ihn wenig zu bemerken, aber desto mehr den geizigen Prinzipal. Endlich brachte sie es durch leises Disputieren dahin, daß zu einer Wette der Regisseur 10 Taler in Silber auf den Tisch legte und jene ebensoviel in Gold.
Eine Flasche Wein wurde gebracht, eine Schüssel, ein Löffel und eine neugebackne Zweipfenning-Semmel. Es wurde nun vor dem ganzen Stuben-Publikum die Wette publiziert, daß der Masken-Herr in kürzerer Zeit eine Flasche Wein mit dem Löffel aufzuessen verspreche, als der Direkteur seine Semmel hinunterbringe; und daß dieser, wie gewöhnlich bei Wetten, gerade auf das Umgekehrte wette. Da die Wette gar zu ungleich schien: so beneideten die meisten Hintersassen des Theater-Lehnsherrn ihrem Vorgesetzten das ungeheure Glück, so leicht – bloß durch ein Semmel-Essen – zwei preußische Goldstücke, die nicht einmal aus dem Lande ausgeführt werden dürfen, in seines einzuführen.
Alles hob an, der Larvenherr hielt die Weinschüssel waagrecht am Kinn und fing das schnellste Schöpfen an.
Der Groß- und Brotherr der Truppe tat einen der unerhörtesten Bisse in die Semmel, so daß er wohl die Halb- oder Drittels-Kugel sich ausschnitt. Jetzt aß er unbeschreiblich – er hatte eine halbe Weltkugel auf dem Zungenbein zu bewegen, zu zerstücken, zu mazerieren, also auf trocknem und nassem Weg zugleich zu scheiden – was er von Dienst-Muskeln in der Wett-Höhle besaß, mußte aufstehen und sich regen, er spannte und schirrte den Beiß- und den Schläfe-Muskel an, die bekanntlich immer zusammen ziehen – ferner den innern Flügelmuskel, den äußern und den zweibäuchigen – die Muskeln drückten nebenher die nötigsten Speicheldrüsen, um Menstrua und Alkaheste zu erpressen, der zweibäuchige die Kieferdrüse, der Beißmuskel die Ohrdrüse, und so jeder jede. Aber wie in einem Ballhause wurde der Magenball im Munde hin- und hergeschlagen; die Kugel, womit er alle zehn Taler wie Kegel in den Magen schieben wollte, wollte durchaus die Schlundbahn nicht ganz passieren, sondern halb und in kleinen Divisionen, wie ein Armee-Kern. Auf diese Weise indessen verlor der theatralische Kommandeur, der den Larvenherrn unaufhörlich und ungehindert schöpfen sehen mußte, eine unschätzbare Zeit, und indem er den Teufels-Abbiß mühsam, Cahiers-weise oder in Rationen ablieferte und schluckte, hatte der Wett-Herr schon zwei Drittel mit dem Löffel leicht aufgetrunken.
Außer sich wirkte Fränzel in alle seine Muskeln hinein – mit den Ceratoglossis und den Genioglossis plattiert' er die Zunge, mit den Styloglossis exkaviert' er sie – darauf hob er Zungenbein und den Kehlkopf empor und stieß die Unglücks-Kugel wie mit Ladstöcken hinab. An anatomischen Schling-Regeln fehlt' es ihm gar nicht.
Noch lag eine ganze Drittels-Semmel vor ihm, und der Larvenherr inkorporierte schon zusehends das vierte Viertel, sein Arm schien ein Pumpenstiefel oder sein Löffel.
Der Unglückliche schnappte nach der zweiten Hemisphäre der Höllenkugel – in Betracht der Zeit hatt' er ein entsetzliches Divisionsexempel vor sich oder in sich, eine lange Analyse des Unendlichen – er schauete käuend die Zuschauer an, aber nur dumm und dachte sich nichts bei ihnen, sondern schwitzte und malmte verdrüßlich vor sich – die zwanzig Taler auf dem Tische sah er grimmig an und wechselnd den Löffel-Säufer – zu reden war keine Zeit, und das Publikum war ihm nichts – die elende Pechkugel vom Drachen konnt' er nicht einmal zu Brei zersetzen (es floß ihm nicht) – ans Schlucken durft' er gar nicht denken, indes er sah, wie der Maskenherr den Wein nur noch zusammenfischte – –
Das fühlt' er wohl, sein Heil und Heiland wäre man gewesen, hätte man ihn auf der Stelle in eine Schlange verkehrt, die alles ganz einschluckt, oder in einen Hamster, der in die Backentaschen versteckt, oder ihm den Thyreopalatinus ausgerissen, der die Eßwaren hindert, in die Nase zu steigen.
Endlich schüttete der Maskenherr die Schüssel in den Löffel aus – und Fränzel stieß und worfelte den Semmel-globe de compression noch hin und her, so nahe am erweiterten Schlundkopfe, aber ohne das geringste Vermögen, die Semmel durch das so offne Höllentor zu treiben, so gut er auch aus den anatomischen Hörsälen wußte, daß er in seinem Maule über eine Muskel-Hebekraft von 200 Pfund zu befehlen habe.
Der Larvenherr war fertig, zeigte endlich dem Publikum die leere Schüssel und die vollen Backen des Direkteurs und strich das Wettgeld mit der Rechten in die Linke, unter der Bitte, Herr Fränzel solle, wenn er etwas darwider und die Semmel schon hinunter habe, bloß das Maul aufmachen. Fränzel tats auch, aber bloß um den teuflischen Fangeball durch das größere Tor davonzuschaffen. Der Maskenherr schien froh zu sein und bot dieselbe Wette wieder aus, bei welcher er glänzende Erleichterungen vorschlug, z.B. statt einer Semmel bloß einen ganzen kleinen Kuh- oder Ziegenkäse, kaum Knie- oder Semmel-Scheiben groß, auf einmal in den Mund zu nehmen und hinabzuessen, während er trinke ut supra; aber man dachte sehr verdächtig von ihm, und niemand wagte.
Den Notar hätte der Direkteur zu sehr gedauert, wenn er vorhin die schöne Blondine sanfter angefahren hätte. Diese saß und nähte und hob, sooft sie mit der Nadel aufzog, die großen blauen Augen schalkhaft zu Walten auf, bis er sich neben sie setzte, scharf auf die Naht blickte und auf nichts dachte als auf eine schickliche Vorrede und Anfurt. Er konnte leicht einen Gesprächs-Faden lang und fein verspinnen, aber das erste Flöckchen an die Spindel legen konnt' er schwer. Während er neben ihr so vor seiner eignen Seele und Gehirnkammer antichambrierte, schnellte sie leicht die kleinen Schuhe von ihren Füßen ab und rief einen Herrn her, um sie an den Trockenofen zu lehnen. Mit Vergnügen wär' er selber aufgesprungen; aber er wurde zu rot; ein weiblicher Schuh (denn er gab fast dessen Fuß darum) war ihm so heilig, so niedlich, so bezeichnend wie der weibliche Hut, so wie es am Manne (sein Schuh ist nichts) nur der Überrock ist, und an den Kindern jedes Kleidungsstück.
»Ich dächte, Sie sagten endlich etwas«, sagte Jakobine zu Walten, an dem sie statt der Zunge den Rest mobil machte, indem sie ihr Knäul fallen ließ und es am Faden halten wollte. Er lief der Glückskugel nach, strickte und drehte sich aber in den Faden dermaßen ein, daß Jakobine aufstehen und diesen von seinem Beine wie von einer Spindel abweifen mußte. Da sie sich nun bückte, und er sich bückte, und ihre Postpapierhaut sich davon rot beschlug – denn ihr schlechter Gesundheitspaß wurde außer und auf der Bühne mit roter Dinte korrigiert –, und er die Röte mit Glut erwiderte; und da beide sich einander so nahe kamen und in den unordentlichsten Zwiespalt der Rede: so war durch diese tätige Gruppierung mehr abgetan und getan für Bekanntschaft, als wenn er drei Monate lang gesessen und auf ein Präludium und Antrittsprogramm gesonnen hätte. – Er war am Ariadnens-Faden des Knäuls durch das Labyrinth des Rede-Introitus schon durch, so daß er im Hellen fragen konnte: »Was sind Ihre Hauptrollen?« – »Ich spiele die unschuldigen und naiven sämtlich«, versetzte sie, und der Augenschein schien das Spielen zu bestätigen.
Um ihr rechte Freude zu machen, ging er, so tief er konnte, ins Rollen-Wesen ein und sprach der stummen Nähterin feurig vor. »Sie reden ja so langweilig wie der Theaterdichter,« – sagte sie –, »oder Sie sind wohl einer? Dero werten Namen?« – Er sagte ihn. »Ich heiße Jakobine Pamsen; Herr Fränzel ist mein Stiefvater. Wo gedenken Sie denn eigentlich, Herr Harnisch?« Er versetzte: »Wahrscheinlich nach Rosenhof.« – »Hübsch«, sagte sie. »Da spielen wir morgen abends.« Nun malte sie die göttliche Gegend der Stadt und sagte: »Die Gegend ist ganz superb.« – »Nun?« fragte Walt und versprach sich eine kleine Muster- und Produkten-Karte der Landschaft, ein dünnes Blätterskelett dasigen Baumschlags und so weiter. »Aber – Was denn?« sagte die Pamsen, »die Gegend, sag' ich, ist die göttlichste, so man schauen kann. Schauen Sie selber nach.«
Da trat der Larvenherr unbefangen hin und sagte entscheidend: »Bei Berchtolsgaden im Salzburgischen ist eine ähnliche, und in der Schweiz fand ich schönere. Aber künstliche Zahnstocher schnitzen die Berchtolsgadner« und zog einen aus der Weste, dessen Griff sauber zu einem Spitzhund ausgearbeitet war.
»Wer Lustreisen machen kann,« fuhr er fort, »mein Herr, findet seine Rechnung vielleicht besser im Badort St. Lüne, wo gegenwärtig drei Höfe versieren, der ganze flachsenfingische, dems gehört, darnach der Scheerauer und der Pestitzer und ein wahrer Zufluß von Kurgästen. Ich reise morgen selber dahin.«
Der Notar machte eine matte Verbeugung; denn das Geschick hatt' ihn auf diesen ganzen Abend verurteilt, zu erstaunen. »Allmächtiger Gott,« dacht' er bei sich, »ist denn das nicht wörtlich so wie in des Bruders Briefe?« Er stand auf – (Jakobine war aus Hasse gegen den um 10 fl. reichern Larvenherrn längst weggelaufen mit dem Nähzeug in den Händen) – und sah am Lichte diese Brief-Stelle nach: »Ich sah, wie am Morgen dein Genius und das Un-Gesicht dir auf zwei verschiedenen Wegen vorflogen, um dich zu locken; du folgtest aber dem Genius und gingest statt nach St. Lüne lieber nach Rosenhof« – Er sah nun zu gewiß, die Maske sei sein böser Genius, Jakobine Pamsen aber, nach manchem zu urteilen, sein bester, und er wünschte sehr, sie wäre nicht aus der Stube gegangen.
Hatt' er schon vorher den Entschluß gefasset, lieber dem Briefe und Traume zu folgen nach Rosenhof, weil er aus Homer und Herodot und ganz Griechenland eine heilige Furcht gelernt, höhern Winken, dem Zeigefinger aus der Wolke mit frecher Willkür zu widerstehen und gegen ihn die Menschen-Hand aufzuheben: so wurde sein Entschluß des Gehorsams jetzt durch die Zudringlichkeit der Maske und die Einwirkung Jakobinens und durch das Netz neu verstärkt, worin Menschen und Vögel sich der Farbe wegen fangen, weil es mit der allgemeinen der Erde und Hoffnung angestrichen ist, nämlich der grünen.
Jakobinen sah er nicht mehr als bloß auf ihrer Türschwelle mit einem Lichte, da er über die seines Kämmerleins trat. Er überdacht' es darin lange, ob er nicht gegen die Menschheit durch Argwohn verstoße, wenn er den Nachtriegel vorschiebe. Aber die Maske fiel ihm ein, und er stieß ihn vor. Im Traume war es ihm, als werd' er leise bei dem Namen gerufen. »Wer da?« schrie er auf. Niemand sprach. Nur der hellste Mond lag auf dem Bett-Kissen. Seine Träume wurden verworren, und Jakobine setzt' ihn immer wieder in das rosenfarbne Meer ein, sooft ihn auch die Maske an einer Angel auf einen heißen Schwefel-Boden geschleudert.