Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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»Mein Fall war es weniger. Ich lebte nie lustiger als an ihren Kommuniontagen, weil ich wußte, daß sie es für Sünde hielten, mich früher als nach Sonnenuntergang auszuwichsen – und weil sie nach dem Abendmahl auch das Mittagsmahl bei dem Pfarrer nahmen und wir folglich das Schachbrett zum Rösselsprung frei hatten. Steht es noch vor deiner Seele, malt es sich noch glühend, färbt es sich noch brennend, daß ich an demselben Sonntage mit einem Taschenspiegel vom Chore herab den Sonnenglanz wie einen Paradiesvogel durch die ganze Kirche und sogar um die zugedrückten Augen des Pfarrers schießen ließ, indes ich selber ruhig mit nachsah und nachspürte? Und gedenkst du noch – denn nun entsinn' ich mich alles –, daß mich darüber der satanische Kandidat erwischte und der Vater nach der Kirche mich nach der peinlichen Halsgerichts-Ordnung von Karl, die (im Art. 113) Gefangenschaft mit Besen-Streichen leicht vertauschen lässet, aus Andacht bloß einkerkerte, anstatt, was mir lieber gewesen, mich halb tot zu schlagen?«

»Du hieltest aber dennoch in der Kirche das rechte Altartüchlein bei der Oblate unter den Kommunikanten auf und ich das linke beim Kelch. Es soll nie von mir vergessen werden, wie demütig und rührend mir unser blasser Vater auf seinen Knieen an der scharlachenen Altarstufe vorkam, indes der Pfarrer ihm sehr schreiend den goldnen Kelch vorhielt. Ach wie wünscht' ich, daß er stark tränke vom heiligen Weine und Blut. Und dann die tief geneigte Mutter! Wie war ich ihr unter dem Trinken so rein-gut! Die Kindheit kennt nur unschuldige weiße Rosen der Liebe, später blühen sie röter und voll Schamröte. Vorher aber trat die majestätische lange Generalin in ihrem schwarzen und doch glänzenden Seidengewand an die Altar-Stufe, sich und die langen Augenwimpern senkend wie vor einem Gott, und die ganze Kirche klang mit ihren Tönen drein in die andächtige Gegenwart dieser idealen Herzogin für uns alle im Dorf.«

»Die Tochter soll ihr so ähnlich sehen, Walt?«

»Die Mutter wenigstens ist ihr sehr ähnlich. Darauf zog man denn aus der Kirche, jeder mit emporgehobnem Herzen – die Orgel spielte in sehr hohen Tönen, die mich als Kind stets in helle fremde Himmel hoben – und draußen hatte sich der blaue Äther ordentlich tief ins Sonntagsdorf hineingelagert, und vom Turme wurde Jauchzen in den Tag herab geblasen – Jeder Kirchgänger trug die Hoffnung eines langen Freudentags auf dem Gesichte heim – Die sich wiegende lackierte Kutsche der Generalin rasselte durch uns alle durch, nette, reiche Bedienten sprangen herab – – Überhaupt, wäre nur nachher nicht die Sache mit dir gewesen – –«

»Zu oft käue sie nicht wieder!«

»Also ging der Vater im Gottestischrock ins Pfarrhaus und hinter ihm die Mutter. Und als ich, da sie abgegessen hatten, die Klingeltüre des Pfarrhofs öffnete und schon die Truthühner desselben mit Achtung sah: –«

»Du brauchst mirs nicht zu verdecken, daß du mich drüben aus meiner verfluchten Karzerkammer losbitten wolltest, weil ich zu sehr schrie und Fenster und Kopf einzustoßen schwur.«

»Die Bitte half wenig beim Vater; vielleicht weil der Pfarrer sagte, du hättest ihn zu sehr beleidigt und geblendet. Ich vergaß leider bald dich und die Bitte über dem herrlichen süßen Wein, den ich trank. Auf dem Lande hat man zu wenig Erfahrung der vornehmern Welt und bewundert ein Glas Wein. Der Pfarrer ließ mich Entzückten durch ein Prisma schauen und gleichsam jedes einzelne Stück Welt mit einer Aurora und Iris umziehen. Ich bildete mir oft ein, ich könnte wohl, da ich so viel Gefühl für Malerei, sogar für Farben an Schachteln, Zwickeln, Ziegelsteinen zeigte, fast mehr zum Maler taugen, als ich dächte. Da ich meinen Vater tief unten an der Tafel sitzen sah, dacht' ich mir das Vergnügen, ihn einst sehr auszuzeichnen, falls ich etwas würde.«

»Es ist auffallend, wie oft auch ich schon seit Jahren geschworen, mich meiner Herkunft zu entsinnen, wenn ich im Publikum bedeutend in die Höhe und Dicke wüchse, und mich weder deiner noch der Eltern zu schämen. Man kann fast nicht früh genug anfangen, sich bescheiden zu gewöhnen, weil man nicht weiß, wie unendlich viel man noch wird am Ende. – Liebe für Farben, wovon du sprachst, ist darum noch keine für Zeichnung; inzwischen kannst du immer, wenn die eine Art Maler sich von fremder Hand die Landschaften, die andere sich die Menschen darin malen ließ, beide Arten in dir vereinen. Vergib den Spaß!«

»Recht gern! Wir zogen als vornehme Gäste durchs Dorf nach Hause, wo der Vater die Scharlachweste anlegte und mit mir und der Mutter spazieren ging, um abends gegen 6 Uhr im Gartenhäuschen zu essen. Nun glaub' ich nicht, daß an einem solchen Abende, wo alle Welt im Freien und angeputzt und freudig ist und die Generalin und andere Vornehme mit rot seidnen Sonnenschirmen spazieren gehen, irgendein Herz, wenn es zumal in einem Bruder schlägt, es ertragen kann, daß du allein im Kerker hausest.«

»Sakerment!« sagte Vult.

»Sondern es war natürlich, daß ich und der Knecht dir eine Dachleiter ans Fenster setzten, damit du herunterkönntest ins Dorf zur Lust. – Nein, kein Spaziergang mit Menschen ist so schön als der eines Kindes mit den Eltern. Wir gingen durch hohe grüne Kornfelder, worin ich die Schwester hinter mir nachführte in der engen Wasserfurche. Alle Wiesen brannten im gelben Frühlingsfeuer. Am Flusse lasen wir ausgespülte Muscheln wegen ihres Schillerglanzes auf. Das Flößholz schoß in Herden hinab in ferne Städte und Stuben, und ich hätte mich gern auf ein Scheit gestellt und wäre mitgeschifft! Viele Schafherden waren schon nackt geschoren und legten sich mir näher ans Herz, gleichsam ohne die Scheidewand der Wolle. Die Sonne zog Wasser in langen wolkigen Strahlen, aber mir kam es vor, als sei die Erde mit Glanzbändern an die Sonne gehangen und wiege sich an ihr. Eine Wolke, die mehr Glanz als Wasser hatte, regnete bloß neben, nicht auf uns; ich begriff aber damals gar nicht, als ich die Grenzen der nassen und der trocknen Blumen sah, wie ein Regen nicht allezeit über die ganze Erde falle. Die Bäume neigten sich gegeneinander, als die Wolke tropfend darüber wegwehte, wie die Menschen am Abendmahls-Altar. Wir gingen ins Gartenhaus, das innen und außen nur weiß ist; aber warum glänzet dieser kleine Name über alle stolz gedeckte Prachtgebäude herüber und blinkt in seinem Abendrot sehr gegen fremdes Morgenrot? Alle Fenster und Türen waren aufgemacht – Sonne und Mond sahen zugleich hinein – die rot-weißen Äpfelknospen wurden von ihren starren struppigen Ästen hineingehalten und zuweilen eine schneeweiße Äpfelblüte mit (o Vult, ich gebe den Apfel für die Äpfelblüte gern) – Die Bienen gaben dem Vater Zeichen eines nahen Schwärmens – Ich fing mir in eine Schachtel Goldkäfer, für welche ich den Zucker längst aufgesparet hatte – Noch glänzt mir das Gold und der Schmaragd dieser Paradiesvögelchen hienieden, in Deutschland meint' ich – Auch zog ich mir im Garten Schößlinge aus, um sie daheim anzupflanzen zu einem Lustwäldchen unter meinem Knie. Die Vögel schlugen wie bestellt in unserem Gärtchen, das nur fünf Apfelbäume und zwei Kirschbäume hatte und mehrere Pflaumenbäume samt guten Johannisbeer- und Haselstauden. Zwei Finken schlugen, und der Vater sagte, der eine singe den scharfen Weingesang und der andere den Bräutigam. Aber ich zog – und noch jetzt – meinen guten Embritz vor –«

»Deutlicher in der ornithologischen Sprache Emmerling, Goldammer, Gröning, Gelbling, Gelgerst, Emberiza citrinella L.«

– »welcher, wie die Eltern sagten, sang: ›Wenn ich eine Sichel hätt', wollt' ich mit schnied.‹ – Was ist denn das Dunkle im Menschen-Innern, daß ich wirklich den einfachen Embritz, wenn ich durch Wiesen gehe und ihn an belaubten Abhängen höre, leider über die göttliche Nachtigall, die freilich wenig rein durchführt, sondern heftig springt, zu setzen suche? – Floß aber nicht nachher die Abendröte in den ganzen Garten hinein und färbte alle Zweige? Kam sie mir nicht wie ein goldner Sonnentempel mit vielen Türmen und Pfeilern vor? Und gingen nicht auf den Wolkenbergen die Sternchen wie Maienblümchen auf? – und die breite Erde war ein Webstuhl rosenroter Träume? Und als wir spät nach Hause wandelten, hingen nicht in den finstern Büschen goldne Tautropfen, die lieben Johannis-Würmchen? Und fanden wir nicht im Dorfe ein ganz besonderes Fest-Leben, sogar die kleinen Viehhirten endlich im Sonntagsputz, und dem Wirtshause fehlte nichts als Musik, und auf dem Schlosse wurde gesungen?«

»Und nahm mich nicht«, fuhr Vult fort, »der gute Vater, als er mich in dieser Freude als Teilhaber fand, leise bei den Haaren mit nach Hause und prügelte mich so verflucht? – O daß doch der Teufel alle Erziehungen holte, so wie er selber keine erhalten! Wer nimmt mir jetzt die Fest-Prügel ab und den Karzer? Du kannst dich leicht herstellen und entsinnen und vergnügt außer dir sein und die Repetieruhr der Erinnerung aus der Tasche ziehen. Aber Hölle, was hab' ich denn schmelzend mich zu erinnern als an die lausige Aurora eines aufgehenden Schwanzsterns? O wie glücklich, glücklich könnte man ein Kind machen! Dies probiere aber einmal einer bei einem greisen Schelm von 40 Jahren! Ein einziger Kindertag hat mehr Abwechsel als ein ganzes Manns-Jahr. Sieh an, wie er mich, wenn das kühne Bild zu gebrauchen ist, aus einem zarten weißen Kindsgesicht so zu einem braunen Kopfe geraucht und erhitzt hat wie einen Pfeifenkopf! – Wärme mich nicht mehr wieder so auf! – Was seh' ich denn von Elysien und elysischen Äckern um mich her als ein Paar Sessel? – unsern Bett- und Stuben-Schirm? – nichts zu trinken? – dich guten Millionär bloß voll innerer Gedächtnismünzen? – und einen hölzernen Sitz der Seligen? – O ich möchte... He, herein nur! Vielleicht bringt uns doch, Walt, ein Himmelsbürger ein oder ein paar Himmelspforten und Empyräen.«

Es schritt die gelbe Postmontur ein mit dem Hoppelpoppel oder das Herz unter dem Arm, das der Magister Dyk mit den Worten zurückschickte, er verlege zwar gern Rabenersche und Wezelsche Pläsanterien, aber nie solche. »Nu, ist das kein Sonnenblick aus unserm Freudenhimmel?« fragte Vult. »Ach,« sagte Walt, »ich glaube, ich war eben vorhin und bisher zu glücklich; darauf kommt immer ein wenig Betrübnis – Es ist doch gut, daß das Werk nicht auf der Post hin und her verloren gegangen.« – »O du weiches – Holz!« fuhr jener auf. »Aber nicht du sollst es ausbaden, sondern der Magister. Ich will ihn waschen mit Seewasser, obs gleich nicht weiß macht.«

Er setzte sich auf der Stelle nieder und schrieb im Grimm einen unfrankierten Brief an den Magister, worin die Höflichkeit des Briefstils so gut als ganz hintan gesetzt war.


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