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Weltdame und Jungfrau
Worin der Diakonus vom Zufall und von der wahren Liebe spricht
Mehrere Wochen nach jenem glücklichen Unglück ging die junge Dame Clelia mit dem Diakonus in seinem Garten auf und nieder. Der Oberamtmann Ernst, der die dunkleren Stellen des württembergischen Gesetzbuches doch endlich ergründet hatte und daran vor der Hand nichts weiter zu studieren fand, saß gelangweilt in einer Jelängerjelieber-Laube, und ihr Gemahl schoß mit einer Windbüchse, die er irgendwo aufgetrieben, hinter dem Garten unter Bäumen nach Sperlingen. Es war ganz still in dem Predigerhause. Die Fenster eines Zimmers, welche nach dem Hofe hinausgingen, waren grün verhangen und unter diesen Fenstern saß Lisbeth mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt.
Die junge Dame Clelia, welche ein leichtes Gähnen nicht verbergen konnte, sprach zum Diakonus: »Lieber Herr Prediger, sagen Sie mir, was dünkt Ihnen vom menschlichen Leben? Denn ich habe Lust mit Ihnen etwas zu philosophieren.«
»Das tut mir sehr leid, gnädige Frau«, versetzte der Diakonus. »Es beweiset, wie ermüdend Ihnen der Aufenthalt in meinem Hause sein muß. Wenn so schöne Lippen sich zur Philosophie bequemen, so müssen wirklich alle Ressourcen der Unterhaltung versiegt sein.«
Clelia lachte und sagte: »Zu galant für einen Kanzelredner und für einen Lehrer der Moral viel zu bösartig.« – In ihrer raschen Weise faßte sie die Hand des Geistlichen und rief: »Wie wir Ihnen alle dankbar sein müssen für das Übermaß von Gastfreundschaft, womit Sie uns aus der abscheulichen Kneipe erlösten und bei sich in Ihrem beschränkten Häuslein aufnahmen, mich samt Jungfer und Gemahl;« (sie bediente sich dieser Reihenfolge ganz naiv) »und jenem meinem Geschäftsanbeter dort in der Laube, das fühlen Sie wohl ohne Versicherung von meiner Seite, und Sie müssen mir, wenn wir scheiden, unter Ihrem Amtseide versichern, uns künftiges Jahr in Wien Revanche zu geben. Daß man aber, wenn man gern mit seinem jungen Manne ins Weite möchte, ungern zu lange bei einem kranken Vetter bleibt, der sein Tage nicht vernünftig werden wird –«
»Er leidet noch sehr«, sagte der Diakonus ernst.
»Bin ich denn gefühllos für sein Leiden?« warf Clelia kurz ein. »Hätte ich noch Vergnügen in Holland und England, wenn ich sein krankes Bild mit mir nähme? Bin ich ihm nicht herzlich gut? Sehne ich mich nicht, ihm zwanzig Küsse auf die dummen Lippen zu geben, zwischen denen sein Blut hervorstürzte? Aber ist deshalb ein solcher Wachtposten bei einem Siechenbette, zu dem einen der Arzt nicht einmal hinzuläßt, etwas Angenehmes? – Und sein Sie nur ganz aufrichtig, lieber Herr Pastor, Ihre kleine Frau sähe auch nicht ungern einen gewissen Reisewagen anspannen.«
»Wie können Sie nur so etwas denken, meine Gnädige!« rief der Diakonus etwas verlegen, denn er erinnerte sich an den Text einiger Gardinenpredigten.
Schelmisch fuhr Clelia fort: »Ich müßte mich auf hochrote Wangen und auf einen gewissen Glanz in den Augen der Hausfrauen nicht verstehen! Es ist auch gar keine Kleinigkeit, fünf Menschen mehr im Hause zu haben, die man eigentlich nicht kennt, und die einem allen Platz wegnehmen. Der Herr Gemahl laden in liebenswürdiger männlicher Unbekümmertheit ein und die arme Frau hat nachher die Sorge. Aber lassen Sie das nur gut sein. Trotz der roten Wangen und der glänzenden Augen bleibt sie eine liebe, charmante Frau und soll in Wien willkommen sein. Dort ist Raum im Hause und der Haushofmeister sorgt für alles.«
Der Diakonus, der sein Zartgefühl durch dieses Gespräch unangenehm berührt fand, sagte, um es zu unterbrechen: »Sie wollten mit mir über das menschliche Leben philosophieren, gnädige Frau.«
»Eigentlich wollte ich Sie nur fragen, ob das menschliche Leben nicht ein Ding ohne Sinn und Verstand sei?« sagte Clelia. »Ein junger Mann läuft aus Schwaben weg, um mich an einem Menschen zu rächen, der seine Persiflage über mich getrieben; er rächt mich aber nicht, sondern schießt ein junges Mädchen und verliebt sich in sie. Dann quälen die beiden Leutchen (wie wir nun nach und nach herausgebracht haben, Ihre Frau und ich) einander bis auf den Tod um nichts, und das Ende dieser höchst lächerlichen Geschichte ist ein furchtbarer Blutsturz, der leicht einen Toten in die Komödie hätte liefern können. – Wo ist da vernünftiger Zusammenhang?«
»Sie lassen etwas aus in der Geschichte«, sagte der Diakonus.
»Nun ja. Ich schrieb, als ich überall hören mußte, ich sei bescholten, an meinen Bräutigam nach Wien und erklärte ihm höchst edel, eine Bescholtene dürfe nicht seine Gemahlin werden; er sei frei und des gegebenen Wortes ledig. Dieser affektvolle Brief wirkte denn dermaßen auf ihn, daß er sich in kürzester Frist zum Herrn aller Schwierigkeiten machte, die unserer Verbindung entgegengestanden hatten und, so rasch die Pferde Tag und Nacht laufen wollten, nach Stuttgart eilte.«
»Und aus solchen offenbaren Zeichen erkennen Sie den Gott nicht, der in Ihrem und Ihres Vetters Schicksale waltete«, fragte der Diakonus mit komischem Ernst.
»Welcher Gott?«
»Der Zufall!« rief der Diakonus feierlich.
»Das ist ein schöner Gott«, versetzte Clelia und lachte.
»Gnädige Frau«, sagte der Diakonus, »glauben Sie mir sicherlich, die Welt wird erst wieder anfangen zu leben, wenn die Menschen sich erst wieder vom Zufall hin und her stoßen lassen, wenn man z. B. ausgeht, um Rache zu nehmen, und sich nicht darüber verwundert, findet man statt der Rache eine Braut, wenn man (Sie verzeihen meine Freimütigkeit) in einer zufälligen allerliebsten Aufwallung entsagende Briefe nach Wien schreibt, und ebenso zufällig von der Entsagung zum Häubchen abfällt. Unsere Zeit ist so mit Planen, Tendenzen, Bewußtheiten überdeckt, daß das Leben gleichsam wie in einem zugesetzten Meiler nur verkohlt, und nie an der freien Luft zur lustigen Flamme aufschlagen kann. Die Lebensweisheit der wenigen Vernünftigen heutzutage besteht folglich darin, sich von der Stunde und von dem Ungefähr führen zu lassen, nach Launen und Anstößen des Augenblicks zu handeln.«
»Bravo!« rief Clelia. »Sie sind ein wahrer Priester für uns Weltkinder. Und das sagt er alles so ernsthaft, als sei es ihm damit bitterer Ernst.«
»Ich predige ja nur über ein christliches Gebot«, sprach der Diakonus lächelnd.
»Wie lautet dieses sogenannte christliche Gebot?«
»Sorge nicht um den anderen Tag«, versetzte der Diakonus.
Die junge Dame begehrte jetzt auch seine Exegese über die leeren Nöte des Liebespaares. Er bedachte sich etwas und sagte dann: »Ich muß hier schwerfälliger werden als bei dem anderen Thema. Zuvörderst sei Ihnen gesagt, daß diese Liebe mich rührt, die Liebe meines Freundes und des guten Mädchens, welches er auf so ungewöhnliche Weise kennengelernt hat. Ich meine, in ihnen ein vom Schicksal bezeichnetes Paar zu sehen und ein völliges Aufgehen zweier Seelen ineinander. Die Liebe ist nun Leid, wie alle Dichter singen, sie ist der Herzen selige Not und ein rührender Gram. Wer von der Liebe Tränen scheidet, der scheidet sie von ihrem Lebensquell; eine lachende Liebe ist keine.
Wahrlich, die echte Liebe ist ein Ungeheures!« fuhr er mit Wärme fort. »Nicht in tauber Redeblume, sondern wesentlich, wirklich und wahrhaftig gibt der Liebende seine Seele weg! Diese also weggegebene und der Hut berechnenden Verstandes entlassene Seele ist aus den Fugen, unbeschützt liegt sie da und ohne Verteidigung durch irgendeine Selbstsucht, welche unsere nüchternen Tage schirmt. In dieser ihrer göttlichen Schwäche ist sie nun eine Beute für jedes Raubtier von grimmigem Zweifel, fürchterlichem Argwohn, zerfleischendem Verdacht. Aber im Kampf mit diesen Raubtieren erstarkt sie. Aus ihren tiefsten und noch nie bis dahin entdeckten Abgründen holt sie neue Waffen und eine ungebrauchte Rüstung hervor; sie lernt sich in ihren verborgenen Reichtümern begreifen, sie vollzieht eine Art von herrlicher Wiedergeburt und feiert nun auf dieser Stufe die wahre, die himmlische Hochzeit, von welcher die andere nur das vergröberte irdische Abbild ist. Unverwelklich ist der Kranz, der auf jenem Siegesfeste der liebenden Seele getragen wird, und er verschwindet nicht in den Schatten der Brautnacht.
Darum zwingt eine ewige Notwendigkeit die wahre Liebe, sich Not zu schaffen, wenn sie keine Not hat. Denn nicht träge genießen will sie, sondern kämpfen und siegen. Trübsal ist ihr Orden und Jammer ihr geheimes Zeichen. Traun, ein Kind kann über die Leiden Oswalds und Lisbeths lachen, die nicht kindischer erfunden werden mochten! Aber ohne diese kindischen Leiden wären zwei Seelen von solcher Tiefe, Schwere, Süße und Feurigkeit wohl wieder voneinander gekommen, statt daß sie in den Qualen der Einbildung sich das rechte Wort und den wahren Gruß gegeben haben, an dem sie einander über alle Zeit hinaus erkennen werden.«
Die junge Dame Clelia war durch diese Rede des Diakonus in ein Gebiet geführt worden, in welchem ihr nicht heimisch zumute sein konnte. Anfangs meinte sie für sich, sie müsse sich etwas schämen, denn mit ihrem Kavalier aus den österreichischen Erblanden hatte sie freilich während des Brautstandes mehr gelacht als geweint. Nachher meinte sie, die Gelehrten sprächen zuweilen nur, um etwas zu sagen; und endlich verstand sie den Geistlichen gar nicht mehr. – Als er mit seiner Auseinandersetzung zu Ende war, rief sie: »Schade, daß die beiden lieben Leute einander nicht heiraten können!«
»Wie?« rief der Diakonus voll äußersten Erstaunens. Denn auf diese Wendung war er bei der jungen, gutmütigen Frau nicht im Traume gefaßt gewesen, zumal nach solchem Gespräche.