Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nach der Klippe, die in der Nähe dieser Schenke über einem rauschenden Waldbache hing, mitzugehen, hatte er natürlich auf das Entschiedenste und Höflichste abgelehnt, sich vielmehr während des Aufenthalts zu seiner Lektüre niedergesetzt. Diese brachte in ihm stets eine Art von Rausch hervor. Er fühlte sich immer, solange er in dem württembergischen Gesetzbuche las, oder unmittelbar nach der Lesung der Gegenwart und Umgebung entrückt. Dadurch hätte er heute fast eine unangenehme Szene haben können.

Die Erscheinung des Fräuleins zog ihn nämlich eine Zeitlang von dem Buche ab. Er betrachtete ihren Anzug, er hörte ihre Reden und seine Meinung hatte sich bald festgestellt. Nachher vernahm er von den Gesprächen der Bauern und des Chirurgen wenig oder nichts, denn er wünschte die Materie zu Ende zu lesen, bei deren Erwägung ihn jener sonderbare Auftritt gestört hatte. Als dieses geschehen war, stand er auf, ging zu dem Haufen und fragte mit Würde, indem sein Auge den Chirurgen als einen Nichtlandmann herausgefunden hatte: »Ist hier niemand unter Euch, der eine Art von Amt bekleidet?«

Die Bauern, die bisher nicht auf ihn geachtet hatten, betrachteten ihn jetzt aufmerksam und neugierig. Schon seine Bekleidung mußte ihre Verwunderung erregen, denn eine dergleichen war in dieser Gegend noch nicht gesehen worden. Er trug nämlich gegen Regen und Staub einen sogenannten Mackintosh, welcher offenstehend, dem Manne das Ansehen einer Vogelscheuche, zugeknöpft aber die Gestalt einer Wurst gibt. Der Oberamtmann hatte ihn zugeknöpft und sah daher aus wie eine Wurst. Dieser Rock und die plötzliche Frage machte die Bauern stutzen; sie stießen einander an, flüsterten, aber niemand gab eine Antwort.

»Ist hier niemand unter Euch, der eine Art von Amt bekleidet?« wiederholte der Oberamtmann, schärfer betonend.

Der Chirurgus trat vor, denn seine Ehre erlaubte ihm nicht, auf eine so bestimmte Frage anonym zu bleiben. Er war sich zwar bewußt, keinerlei Staatsexamen gemacht zu haben und mitunter in Notfällen auch zu rasieren; das schadete aber dem Gefühle seiner Würde nicht und trotzig, das Chemisett aus der Weste zerrend, sagte er: »Allerdings habe ich ein Amt in dieser Gemeine, nicht eine Art von Amt, sondern ein Amt.«

»So geht, Freund, jener Person nach und bringt sie zum Vorsteher, damit sie nach ihren Papieren befragt werde, denn ihr Anzug und ihr ganzes Betragen war höchst auffallend, und das Paßreglement schreibt vor, auf solche Verdacht erregende Individuen überall Augenmerk zu haben.«

»Freundschaft«, versetzte der Chirurgus mit dem landesüblichen Ausdrucke, »ich verstehe Euch nicht.«

Der Oberamtmann, welcher sich weit aus Westfalen entrückt wähnte, rief zornig: »Ich sage Euch, Ihr sollt mit jener Person zum Gemeinevorsteher gehen.«

»Freundschaft«, erwiderte der Chirurgus, »wenn Ihr etwas beim Vorsteher zu suchen habt, so geht selbst zu ihm.« – Die Bauern murrten und drängten sich halb lachend und halb ergrimmt näher.

Der Oberamtmann, der vom Schwarzwalde her die Mittel kannte, widerspenstige Eingesessene zum Gehorsam zu bringen, warf rollende Blicke im Kreise umher und rief mit starker Stimme: »Wißt Ihr, wer ich bin?«

»Ihr seid nicht recht klug, Freundschaft«, fuhr der Chirurgus heraus, der in so starker Gesellschaft einen ausnehmenden Mut besaß. – Sich vergessend, trat der Oberamtmann auf ihn zu, die Hand erhoben, die Bauern aber drängten sich tumultuarisch zwischen beide, der Chirurgus sah in solcher Verschanzung sehr giftig und tollkühn aus, ein Bauer fing die aufgehobene Hand des Oberamtmannes, zwei andere zerrten hinten an dem Mackintosh, so daß die Figur des Oberamtmanns dem Schmetterlinge zu gleichen begann, welcher der Trauermantel heißt, die anderen ließen bedrohliche Gebärden sehen, und die wildeste Unbill stand bevor, wenn nicht in diesem verhängnisvollen Augenblicke das junge Paar die Stube betreten hätte.

Clelia hatte auf einen Augenblick ihre Laune eingebüßt und sich schüchtern hinter den Gemahl gestellt. Dieser rief den Bauern einige freundlich begütigende Worte zu, und da sie schon wußten, daß er ein Vornehmer war, so ließen sich die Leute auch sogleich beschwichtigen. Die Hand des Oberamtmannes wurde ihrer Haft entlassen. Der Mackintosh bekam ebenfalls seine Freiheit wieder, die Bauern setzten sich still in eine Ecke. Nur der Chirurgus drohte noch einige Male von fern mit der Faust.

Clelia saß bei dem Buche und sah lächelnd nach dem Oberamtmanne, der verlegen und verdrießlich im Zimmer auf und nieder ging. »Um des Himmels willen, was hatten Sie denn hier vor?« fragte ihn der junge Kavalier leise.

»Diese Schelme versagten mir den Gehorsam, als ich einen zu dem Gemeindevorsteher schicken wollte«, polterte der Oberamtmann.

»Aber, mein Gott, Freund, wir sind ja nicht im Schwarzwalde«, sagte sein Reisegefährte lächelnd.

Hier schien der eifrige Beamte erst wieder ganz zu sich selbst zu kommen. Er warf einen bestürzten Blick auf sein Buch, wurde etwas rot und stotterte: »Man kann sich wohl einmal vergessen, wenn man sich in eine Materie vertieft hat.« – Er wollte das Buch nehmen, der Kavalier kam ihm aber zuvor, las den Titel und rief verwundert: »Wie? Sie studieren gar auf der Reise in Ihrem Gesetzbuche?« – »Ich habe es allerdings mitgenommen«, versetzte der Oberamtmann, »um in müßigen Stunden, deren es auf Reisen manche gibt, einige schwierige Punkte darin reiflicher zu überdenken, als dieses bei der Geschäftslast zu Hause möglich ist.«

Clelia summte halb singend zwischen den Lippen:

»Niemals ward ein edler Bote
So bedient von Damen süß,
Als der große Don Quixote,
Da er das Kastell verließ.«

Ihr Gemahl biß sich auf die Lippen und alles sah dem Ausbruche eines Gelächters über den armen Oberamtmann ähnlich, als dieser sich mit großem Ernste zu der jungen mutwilligen Dame wandte und sagte: »Gnädigste Frau, wenn Sie mich für eine Art von Akten-Don Quixote halten, dem das württembergische Landrecht überall seinen Oberamtsbezirk phantasmagorisch zeigt, so erlaube ich mir Ihnen zu erwidern, daß der Ritter von La Mancha in seinem Wahne von einer Zeit der Großmut, Tapferkeit und Courtoisie in einer nüchternen Gegenwart durchaus nicht gering zu schätzen war, und daß daher, wer jetzt in dieser zerfahrenen, reisenden, umherrennenden Zeit nur in einem Dinge, und sei es auch nur das württembergische Landrecht und ein Oberamtsbezirk, zu Hause sein mag, keineswegs zu den schlechtesten Staatsbürgern gehören dürfte.«

Auf diese komisch-feierliche Anrede streifte die junge Dame den Handschuh von ihrer weißen Hand, hielt diese zum Kusse dem Geschäftsmanne hin und sagte: »Ich vergebe Ihnen, denn eigentlich blutet Ihnen doch das Herz, Ernst, wenn Sie sich so rauh gegen mich anstellen, was Sie freilich meines Gemahles wegen tun müssen, um ihn nicht eifersüchtig zu machen, da man ja weiß, daß ich immer Ihre stille Liebe war.«

Solchen plötzlichen Wendungen war er nicht gewachsen und wußte ihnen umso weniger zu stehen, als es ihm immer besonders wohl tat, wenn man ihn für eine zärtliche Natur hielt. Er beugte sich daher auf Clelias Hand, küßte sie nicht ohne Ausdruck, sah ihr gedankenvoll in das schöne, blühende Antlitz, seufzte und lachte dann plötzlich, wie in tiefer Zerstreuung, auf. In dieses Lachen waren nunmehr die jungen Gatten einzustimmen berechtigt und so endete der ganze Einhergang lustig.

Der Kammerdiener meldete, daß der Oberhof nur wenige Stunden entfernt sei. Clelia aber, die noch bis vor kurzem ihr Vergnügen geäußert hatte, den Vetter mitten aus den Bauern herauszuholen, änderte jetzt plötzlich, was ihr täglich zu öfterem begegnete, ihre Meinung, hielt es für schicklich, nach der Stadt zu fahren und Oswald dahin bestellen zu lassen. Wie hätte der junge Gemahl, der nichts als Glut und Zärtlichkeit war, wie hätte der geheime zärtliche alte Anbeter widerstehen können? So schwebte denn die kleine volle Gestalt, die ein braunseidener Überrock knapp umschloß, am Arme des Gemahls graziös zur Türe hinaus und zeigte, als die Männer ihr die Hand zum Einsteigen boten, das zierlichste Bein über dem feinen Fuße. Der Oberamtmann erklärte, als er einsteigen sollte, daß er nach der Stadt gehen wolle, weil er um diese Stunde daheim sich seine Motion zu machen pflege. Der junge Kavalier konnte kaum einen Ausruf des Entzückens bei dieser Nachricht, die ihm den Wagen ungeteilt mit seiner Dame versprach, unterdrücken. Sie sah errötend mit halbgeöffneten Lippen vor sich hin, er stieg zu ihr ein, legte ihr aufmerksam die Boa, welche herunter gefallen war, um Schulter und Leib, und die beiden Glücklichen, deren ganzes Wesen in süßer, süddeutscher Sinnlichkeit schwamm, rollten davon.

Auch der Oberamtmann kehrte in erhöhter Stimmung nach der Schenkstube zurück, um sein Buch zu holen. Er pfiff sogar für sich ein Stückchen aus der Zauberflöte, worüber er jedoch erschrak, als er es hörte. Inzwischen war der Mann im braunen Oberrock aus der Krypte wieder nach der Schenke gekommen und erkundigte sich in der Stube ungeduldig bei dem Wirte, ob noch kein Freiherr von Münchhausen dagewesen sei und nach ihm gefragt habe. Auf die verneinende Antwort des Wirtes, der sehr einfältig zu sein schien, gab ihm der Schriftsteller, der nicht gern in der Schenke warten, sondern sich durch einen abermaligen Gang die Zeit vertreiben wollte, seine Karte, damit kein Mißverständnis und keine Namensverwechselung vorfallen möge. Der einfältige Wirt, der nicht lesen gelernt hatte und vermutlich glaubte, daß ein dritter unparteiischer Zeuge in dieser dunkelen Angelegenheit das beste Licht verbreiten könne, reichte die Karte dem Oberamtmanne mit der Bitte sie ihm zu entziffern. Dieser las was darauf gedruckt stand, und musterte dann den Fremden, zu dem ihn schon bei dem ersten Sehen eine gewisse Sympathie hingezogen, mit glänzenden Blicken. Der Blitz von Galanterie, der bei dem Kusse auf Clelias Hand sich in seinem Herzen entbunden hatte, fachte die geschäftliche Begeisterung nur noch mehr bei ihm an. Er fragte den anderen rasch und leidenschaftlich: »Wissen Sie vielleicht, ob in einem der Orte weiter abwärts von Köln gegenwärtig Assisen gehalten werden?«

Der Gefragte stutzte, besann sich und versetzte: »Assisen? Gegenwärtig? Weiter abwärts? Ich weiß nicht – doch ja – wenn mir recht ist – ich erinnere mich – in Elberfeld können sie bald im Gang sein.«

»Elberfeld? Wie weit von hier?«

»Acht bis neun Meilen.«

Der Oberamtmann schnippte wie ein Knabe der unvermutet erfährt, daß keine Schule heute sei, mit den Fingern und rief fröhlich: »So kann ich ja wahrhaftig doch noch so glückselig sein, einer Assise beizuwohnen!«

Der im braunen Oberrock setzte jetzt abermals seine Brille auf, legte die Hände auf den Rücken, trat dem Oberamtmanne dicht unter die Augen, zog seine Brauen zusammen, sah ihn scharf an und sagte darauf: »Glückselig, mein Herr? – Sonderbarer Schwärmer!« – Er ging.

Der Oberamtmann blickte ihm nach. – »Wäre doch kein Mann für mich«, sagte er nach einer Pause. Auch er ging, sein Buch in der Tasche, die Galanterie für Clelia und die Elberfelder Assise im Herzen.


 << zurück weiter >>