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Waldmärchen
»Bist du wohl schon, Lisbeth, an einem klaren Sonnenmorgen durch einen schönen Wald gegangen, zu dem der blaue Himmel durch die grünen Kronen einblickte, wo dich der Otem der Bäume wie ein Hauch Gottes anwehte und dein Fuß von den Spitzen der Gräser tausend blitzende Perlen streifte?«
»Wohl bin ich das, Oswald, erst noch neulich, als ich durch das Gebirg nach den Zinsen und Gülten ging. Es ist gar herrlich im grünen, frischen Wald; ich könnte tagelang hindurchwandern, ohne einem Menschen zu begegnen, und fürchtete mich nicht. Der Rasen ist der Mantel Gottes, man ist von tausend Englein beschirmt, man stehe oder sitze darauf. Jetzt ein Hügel und dann eine Ecke; ich lief und lief, weil ich immer dachte, dahinter schwebe der Wundervogel mit blauen und roten Schwingen und dem Goldkrönchen auf dem Haupte. Ich lief mich heiß und rot, und nicht müd; man wird nicht müde im Walde!«
»Und sahst du hinter Hügel und Hecke den Wundervogel nicht schweben, so standest du atmend still und hörtest weit, weit aus dem Eichental herauf den Schall der Axt, die Uhr des Forstes, die da ansagt, daß auch in solcher lieben Einöde dem Menschen seine Stunde rinne.«
»Oder weiterhin, Oswald, die freie Sicht den Hang hinauf zwischen dunkeln, runden Buchen und oben doch wieder der Kamm der Halde von hohen Stämmen beschlossen! Da weideten rote Kühe und schwangen die Glöcklein, der Tau im Grase gab der Senkung im Sonnenlicht einen silbergrauen Schein, und die Schatten der Kühe und der Bäume spielten darauf Versteckens miteinander.«
»An einem solchen sonnenklaren Morgen begegneten vor vielen hundert Jahren zwei Jünglinge einander im Walde. Es war in dem großen Waldgebirge, der Spessart genannt, welches die Markscheide zwischen den lustigen rheinischen Gauen und dem gesegneten Frankenlande macht. Das ist dir ein Wald, liebe Lisbeth, der zehn Stunden in der Breite und zwanzig in der Länge, Ebenen und Berge, Täler und Klüfte bedeckt.
Auf der großen Heerstraße, die querdurch vom Rheinlande nach Würzburg und Bamberg läuft, begegneten einander die Jünglinge. Der eine kam von Abend, der andere von Morgen. Ihre Tiere waren so verschieden als ihre Wege. Der vom Morgen saß auf einem gelben fröhlich tanzenden Rößlein und stolzierte gar stattlich im bunten Wappenrock unter rotem Sammetbarret, von welchem die Reiherfedern herabwallten; der vom Abend trug eine schwarze Kappe ohne Abzeichen, einen langen Schülermantel gleicher Farbe, und ritt auf einem bescheidenen Maultiere.
Als der junge Ritter dem fahrenden Schüler sich auf Rosseslänge genähert hatte, hielt er seinen Gelben an, bot dem andern freundlich die Zeit und sagte: ›Guter Gesell, ich wollte soeben absteigen und meinen Morgen-Imbiß halten. Da nun aber zur Minne, zum Spiele und zum Mahl zwei gehören, wenn diese drei lustigen Dinge gehörig vonstatten gehen sollen; so wollte ich Euch fragen, ob Ihr nicht auch absteigen und mein Partner sein wollt? Eurem Grauen würde ein Maulvoll Gras nicht minder schmecken, als meinem Gelben. Der Tag wird heiß werden, und den Tieren ist einige Rast vonnöten.‹
Der fahrende Schüler war mit dem Vorschlage zufrieden. Beide stiegen ab und setzten sich an der Straße auf dem wilden Thymian und Lavendel nieder, von welchem, wie sie sich setzten, eine ganze Wolke Wohlgeruchs emporstieg, und hundert Bienchen, die in ihrer Arbeit gestört wurden, sich summend erhoben. Ein Knapp, der mit einem schwerbeladenen Gaule dem jungen Ritter gefolgt war, nahm die beiden Tiere in Empfang, reichte seinem Herrn aus dem Schnappsack Flasche und Becher nebst Brot und Fleisch, kandarte die Tiere ab und ließ sie seitwärts vom Heerwege grasen.
Der fahrende Schüler faßte in die Seitentasche des Mantels, zog die Hand verdrießlich zurück und rief: ›O über meine ewige Zerstreuung! Hatte ich mir doch heute morgen in der Herberge das Frühstück so sauber zurechtgelegt und eingewickelt, da muß mir etwas anderes eingefallen sein, und über diesen Gedanken habe ich meine Kost vergessen.‹
›Wenn es weiter nichts ist‹, rief der junge Ritter, ›hier ist genug für Euch und mich!‹ Er teilte Brot und Fleisch, schenkte den Becher voll und reichte Festes und Flüssiges dem andern hin. Hiebei faßte er ihn schärfer ins Auge, und so tat der andere auch, und da entfuhr ihnen beiden ein Ausruf des Erstaunens. ›Seid Ihr nicht...‹ ›Bist du nicht...‹ riefen sie. ›Freilich bin ich der Konrad von Aufseß!‹ rief der junge Ritter. ›Und ich Petrus von Stetten!‹ der andere. Sie umarmten einander und konnten sich vor Freude über dieses unvermutete Wiedersehen kaum fassen.
Es waren Spielkameraden, die sich zufällig im grünen Spessart trafen. Die Väter hatten auch Freundschaft miteinander gehabt, die Söhne hatten zusammen Ball geschlagen, sich hundertmal des Tages gezankt und ebensooft versöhnt. Der junge Petrus war aber von jeher stiller und nachdenklicher gewesen als sein Gefährte, dem nichts im Kopfe sitzen blieb, als die Namen der Waffenstücke und des Reitzeugs. Endlich hatte Petrus dem Vater erklärt, er wolle gelahrt werden, und war gen Köln gezogen, zu den Füßen des berühmten Albertus Magnus zu sitzen, der aller bekannten Wissenschaften Meister war, und von dem das Gerücht sagte, er sei auch in geheime Künste tief eingeweiht.
Eine geraume Zeit verfloß seitdem, in welcher keiner etwas von dem anderen hörte. Nachdem der erste Sturm der Freude sich jetzt gelegt hatte, und das Frühstück beseitigt worden war, fragte der Ritter den Schüler, wie es ihm denn gegangen sei?
›Darauf, mein Freund, kann ich dir eine sehr kurze und müßte ich dir eine sehr lange Antwort geben‹, versetzte der Schüler. ›Eine kurze, wenn ich dir bloß die äußere Figur und Schale meines zeitherigen Lebens vorzeichnen soll; eine lange, o eine unendlich lange, begehrst du, den inneren Kern aus dieser Schale zu kosten!‹
›Ei, Närrchen‹, rief der Ritter, ›was für schwere Reden führst du da! Gib mir die Schale und ein Stückchen vom Kern, wenn die ganze Nuß zu groß für eine Mahlzeit ist.‹
›So wisse‹, erwiderte der andere, ›daß mein sichtbares Leben zwischen engen Ufern rann. Ich wohnte in einem kleinen düsteren Gäßchen bei stillen Leuten, im Hinterhause. Mein Fenster ging auf den Garten hinaus, dessen Bäume und Stauden ihren ernsten Hintergrund von den Mauern des Tempelhauses erhielten. Ich hielt mich sehr einsam und für mich, knüpfte weder mit den Bürgern, noch mit den Schülern Umgang an. So ist es gekommen, daß ich von der großen Stadt nichts kennengelernt habe, als die Straße von meinem Häuschen nach den Dominikanern, wo mein großer Meister lehrte.
Wenn ich nun in meine Klause zurückgekehrt war und die Mitternacht bei der Studierlampe herangewacht hatte, so blickte ich wohl aus dem Fenster, um die erhitzten Augen an dem dunkeln Sternenhimmel abzukühlen. Dann sah ich nicht selten in dem gegenüberliegenden Tempelhause Licht; bei dem Scheine roter Fackeln zogen die Ritter in ihren weißen Ordensmänteln wie Geister durch die Galerien, verschwanden hinter den Pfeilern und kamen dann wieder zum Vorschein; im äußersten Eck des Flügels wurden vor den Fenstern Vorhänge niedergelassen, durch deren dünne Stellen aber ein wundersamer Schein drang, und hinter welchen sich Weisen vernehmen ließen, welche süß und schaurig wie verbotenes Gelüste durch die Nacht drangen.
So gingen meine Tage hin, unscheinbar von außen, innen aber ein glänzendes Fest aller Wunder. Albertus zeichnete mich bald vor den übrigen Schülern aus; nicht lange, so merkte ich, daß er gewisse Worte, die den andern unbeachtet vorüberschlüpften, gegen mich mit einer besonderen Betonung zu wiederholen pflegte; Worte, die auf den geheimnisvollen Zusammenhang alles menschlichen Wissens und auf eine tief unten in dunkler Verschwiegenheit treibende gemeinsame Wurzel des großen Baumes hinwiesen, welcher da droben am Lichte seine gewaltigen Zweige als Grammatik, Dialektik, Redekunst, Zahlenlehre, Geometrie, Astronomie und Musik auseinanderlegte. – Sein Auge ruhte bei solchen Worten durchdringend auf mir, und meine Blicke ließen ihn erkennen, daß er eine tiefe Sehnsucht nach den letzten und größten Schätzen seines Geistes in mir entzündet hatte.
So kam es denn allgemach, daß ich der Vertraute seiner heimlichen Werkstatt und der Lehrling wurde, auf den er einen Teil seines Pfundes als kostbares Vermächtnis vererben wollte. – Es gibt nur ein Mark der Dinge, welches hier im Metall lastet und wieget, dort in der schwankenden Pflanze, im leichtsinnigen Vogel vom Urkern sich abzulösen ringt. Alles wandelt und verwandelt sich; Gott wirkt zwar in der Natur, aber die Natur wirkt auch für sich, und wer der rechten Kräfte Meister ist, der kann ihr eigenes und selbständiges Leben hervorrufen, daß ihre sonst in Gott gebundenen Glieder sich zu ganz neuen Regungen entfalten. – Mein hoher Meister führte mich an sicherer Hand dem Brunnen zu, wo jenes Mark der Dinge quillt. Ich tauchte meinen Finger hinein, da wurden alle meine Sinne voll übermenschlichen Schauens. In der rußigen Schmelzküche saßen wir seitdem oft zusammen und schauten in die Gluten des Ofens; er vorn auf niedrigem Schemel, ich hinter ihm kauernd, mich fest an ihn drückend und ihm die Kohlen oder die Erze darreichend, die er mit der Linken in den Tiegel warf, denn mit der Rechten hielt er mich liebreich gefaßt. Da wehrten sich die Metalle, die Salze und die Säuren prasselten, wie in einer festen Burg wollte sich der hohe König, der alle Welt regiert, inmitten scharfwinklichter Kristalle verteidigen, zornig entbrannten die roten, blauen und grünen Vasallen und streckten uns die glühenden Speere abwehrend entgegen, aber wir brachen die Werke und kämpften die Mannen danieder, und über Schlackentrümmer hinüber lieferte sich uns demütig der glänzende Fürst aus. Das Gold an sich ist nichts für den, der sein Herz nicht an Irdisches hängt, aber diese teuerste und köstlichste Gabe der Natur in allem und jedem, auch in dem Geringfügigsten und Unscheinbarsten zu erkennen, das gilt dem Weisen viel. Zu andern Stunden wiesen uns die Sterne ihre Kreise, die als Geschichte sich ablösten und zur Erde sanken, oder die innigen Verwandtschaften der Töne und der Zahlen wurden wach, und zeigten uns die Bündnisse, welche zu schildern kein Wort genügt, die sich vielmehr nur wieder in Zahl und Ton offenbaren. In allem diesem geheimen Wesen und Weben aber schwebte, daß es nicht wieder zu kalter klebriger Gestaltung gerinne, ewig verbindend und ewig lösend, sich in dem Hader nie verwelkender Jugendkraft in sich und an den Dingen entzweiend, das Große, Unergründliche; der dialektische Gedanke.
O selige, genügliche Zeit des erschlossenen Verstehens, des Wandelns durch die inneren Säle des Palastes, an dessen metallener Pforte die andern vergeblich anklopfen! Endlich – –‹
Der fahrende Schüler, dessen Lippen bei der Erzählung sich in einem dunkeln Rote immer glühender gefärbt hatten, und dessen Augen von einem seltsamen Feuer blitzten, hielt hier, wie aus seiner Begeisterung plötzlich ernüchtert, inne. Der Ritter wartete vergeblich auf die Vollendung der Rede, dann sagte er zu seinem Freunde: ›Nun? Endlich –‹
›Endlich‹, versetzte der Schüler mit einem gezwungen-gleichgültigen Tone, ›mußten wir uns doch trennen, wenn auch nur auf kurze Zeit. Mein hoher Meister schickt mich jetzt nach Regensburg, aus der Sakristei des Domes gewisse Schriften zu erbitten, die er als Bischof dort zurückgelassen hat. Ich bringe sie ihm und werde dann freilich meine Tage, wenn es angeht, bei ihm verleben.‹
Der junge Ritter tröpfelte den Rest des Weins in den Becher, sah hinein und trank den Wein bedächtiger als er früher getan hatte. ›Du hast mir da wunderbare Sachen vertraut‹, hob er nach einigem Schweigen an, ›Sachen, in die ich mich nicht wohl zu finden weiß. Gottes Welt scheint mir so schön geputzt zu sein, daß es mir kein Vergnügen machen würde, diese lieblichen Schleier abzustreifen, und, wie du sagst, in das Innere der Kreatur zu schauen. Der Himmel blaut, die Sterne leuchten, der Wald rauscht, die Kräuterlein duften, und ist dieses Blauen, Leuchten, Rauschen und Duften nicht das Allerschönste, hinter welchem es kein Schöneres mehr gibt? Verzeihe mir; aber ich bin nicht neidisch auf deine geheime Wissenschaft. – Du Armer! Rot macht sie nicht, diese Wissenschaft. Deine Wangen sind ganz bleich und eingefallen.‹
›Einem jeden werden seine Pfade gewiesen, dem einen dieser, dem andern jener‹, versetzte der Schüler. ›Nicht der Sprung des Blutes macht das Leben aus; weiß ist der Marmor, und Marmorwände pflegen die Räume einzuschließen, in welchen Götterbilder aufgerichtet stehen. – Doch genug davon, und nun zu dir. Was hast du denn getrieben, seit wir uns nicht sahen?‹