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Der Diakonus erhob sich; der Hauptmann fragte, ob er den Fremden nicht noch anderweit zu sehen bekomme, was der Diakonus bejahte, da, wie er hinzufügte, sein junger Freund ihm das Vergnügen machen werde, an der Gelehrten Gesellschaft teilzunehmen. »In ihr hoffen wir diesmal stark auf Sie, liebster Hauptmann«, sagte er. – »Ich werde Euch aus den Papieren meines seligen Freundes einen Beitrag liefern, welcher Euch zeigen soll, welche Jüngelchen den großen Kaiser geschlagen haben wollen«, versetzte der Hauptmann ironisch.
»Das ist ja ein wütender Bonapartist«, sagte der Jäger draußen zum Diakonus. »Tageweise«, versetzte dieser. »Johann, können Sie uns nicht das preußische Zimmer zeigen?« mit diesen Worten wandte er sich an den begleitenden Diener. Der Mensch sah sich ängstlich um, nach einigem Schweigen antwortete er: »Der Herr wird wohl gleich ausgehen; treten Sie nur sacht hinein, ich will hier auf Posten bleiben.« – Der Diakonus ging mit seinem Gaste über den Flur nach der andern Seite des Hauses und tat ihm ein Zimmer auf, vor dessen Fenstern Weinranken einen grünen Schimmer verbreiteten und welches eine anmutige Aussicht auf blühende Gartenbeete hatte. Das erste, was dem Jäger auffiel, weil es der Türe gerade gegenüberstand, war ein Tropäon auf hohem Postamente, zusammengefügt aus Kanonen, Waffen, Fahnen, Kriegesgerät. An dem Postamente glänzten in goldenen Ziffern die Jahreszahlen 1813, 1814, 1815 und über dem Tropäon an der Wand prangten in einer Einfassung von goldenen Sternen die Namen der Befreiungsschlachten auf weißem Grunde. Die Wände dieses Zimmers waren von den Büsten der verbündeten Herrscher und ihrer Feldherrn geschmückt. Da sah man den Abschied der Freiwilligen, Blücher und Gneisenau in ihren Regenmänteln nach der Schlacht an der Katzbach über die Heide reitend, den Einzug in Paris, die Plane von Leipzig und Belle-Alliance. Und um den symmetrischen Gegensatz zu dem französischen Zimmer zu vollenden, so fehlte auch hier eine kleine Sammlung von Kriegsbüchern nicht, von Deutschen in deutschem Sinne geschrieben.
»Nun sagen Sie mir, was bedeutet das?« fragte der Jäger, welcher die Gegenstände umher mit Verwunderung betrachtete. »Ist Ihr Hauptmann ein Amphibium?« – »Ein Stück davon«, erwiderte der Diakonus. »Ich höre eben die Türe klinken, er hat das Haus verlassen, ich kann Ihnen mit Muße die Kontraste auslegen, über welche Sie erstaunen.«
Er nötigte seinen Gast auf ein Canapé, dann fuhr er fort: »Unser Hauptmann ist ein rechtwinklichter, schroffer und unvermischter Charakter. Deshalb haben sich seine Erinnerungen wie zwei mathematische Figuren auseinander gelegt. Er diente bei den Franzosen mit großer Auszeichnung; Sie haben gesehen, daß ihm unter jenen Adlern das rote Band zuteil geworden ist. Nach der Schlacht von Leipzig wurde sein Corps aufgelöst, er war als Deutscher sich selbst und den vaterländischen Verhältnissen zurückgegeben. Indem nun das Kriegsgetümmel weiter raste, und alle Welt gen Frankreich zog, wäre es unnatürlich gewesen, wenn der alte Degen hätte zurückbleiben sollen; er nahm daher preußische Dienste, und kämpfte mit so vielen andern Tausenden nun auf derselben Seite, welche er noch vor wenigen Monaten zu vernichten sich bestrebt hatte. Auch unter diesen Fahnen war seine Tapferkeit belobt, namentlich soll er späterhin in den mörderischen niederländischen Schlachten wie ein Löwe gestritten haben. Er empfing zu dem Kreuze der Ehrenlegion das eiserne, jenem so feindlich gewordene.
Nach dem Frieden blieb er nur noch kurze Zeit im Heere; seine Strapazen und Wunden hatten ihn mürbe gemacht. Hieher zog er sich mit seiner Pension zurück, welche ihm ein anständiges Auskommen gewährte. Indem nun jedermann um ihn her in den wiedererworbenen westlichen Teilen des Vaterlandes sich mit seinen Gefühlen einzurichten wußte, die Sympathien des gestürzten Reichs und der neuen Deutschheit amalgamierte, oder wenigstens zusammenschweißte und lötete, wollte es unserem armen störrigen Hauptmann nicht so wohl gelingen. Den Degen in der Faust hatte er ohne Reflexion darauf losgeschlagen, für oder wider; aber in der Muße und im Nachdenken des Friedens überfiel ihn eine Spaltung und Verwirrung, welche ihn fast toll machte. Er konnte es nicht in sich beherbergen, daß er binnen Jahresfrist ein tapferer Franzose und ein tapferer Preuße gewesen sein sollte, daß er bis zum Oktober ›la perfidie du cabinet de Berlin‹ habe züchtigen und nach dem Oktober das Vaterland retten helfen. Mit seltsamen Blicken betrachtete er die beiden Orden, die streitbaren Löwen, welche wie friedliche Lämmer nebeneinander auf seiner Brust ruhten. Er stieß Reden aus und verübte Handlungen, die seinen Bekannten bange um ihn machten.
Ich weiß von diesen Dingen nur durch andere, denn ich war damals noch nicht hier. Möglich, daß der Zustand durch die Nachwirkung seiner Kopfwunden und des russischen Eises befördert worden ist, doch bin ich überzeugt, daß die Ursache desselben im Geistigen, in dem Leisten- und Fachartigen seines ehrenwerten Sinnes gelegen hat. Endlich nahm sich ein Fieber seiner an, machte ihm Leib und Seele frei. Unmittelbar nach der Herstellung richtete er die sonderbare Lebensweise sich ein, deren Zeichen und Spuren Ihnen aufgefallen sind, und in dieser habe auch ich ihn erst kennengelernt.
Er stiftete nämlich militärische Ordnung in seinen Erinnerungen und teilte sie, sozusagen, in zwei abgesonderte Corps ein, die für sich agieren. Eine Zeitlang ist er Franzose und ganz versenkt in die Herrlichkeit der Napoleonischen Zeit, dann wird er wieder eine Zeitlang ebenso entschiedener Preuße und Lobredner des Aufschwungs jener großen Epoche der Volksbewegung. Diese Phasen treten abwechselnd ein, je nachdem ihn eine Vorstellung, die dem einen oder andern Kreise angehört, in Beschlag nimmt, und sie dauern so lange, bis der Stoff der Vorstellung sich abgesponnen hat. Es versteht sich, daß er auch immer nur einen Orden, entweder den preußischen, oder den französischen trägt. Diesem Turnus gemäß hat er denn auch die beiden abgesonderten Wohngelasse sich ausgerüstet, und neben jedem ein besonderes Schlafgemach. Drüber unter den Marschällen bringt er zu, wenn er Franzose ist, und hier bei dem Tropäon verweilt er, wenn er die preußischen Tage hat. Nicht wahr, wir besitzen hierzulande gute Originale?«
»In der Tat«, versetzte der Jäger, »man fühlt sich bei Ihnen wie in der Welt des ›Tristram Shandy‹. Übrigens kann ich nicht sagen, daß mir die Manier des guten Hauptmanns, so barock sie auch aussieht, gerade unvernünftig vorkäme. Mancher Deutsche, welcher eine geraume Zeit lang selbst nicht gewußt hat, was er eigentlich war, Franzose oder Deutscher, würde durch sie seinen Charakter reiner und einfacher erhalten haben. – Wie das Gemüt ihm unbewußt einen Streich spielte! Zu dem vaterländischen Zimmer erwählte er das bestgelegene mit grüner lieblicher Aussicht, während das französische unerquicklich an der kahlen, öden Straße liegt.«
»In einem Punkte ist der Hauptmann höchst achtbar«, sagte der Diakonus, »in dem, daß, wenn auch seine Phantasie tage- und wochenweise an den fremden Erinnerungen haftet, dennoch nie der leiseste Wunsch nach der Zeit des allgemeinen Elends in ihm aufkeimt. Für unsere Gelehrte Gesellschaft ist er vom größten Nutzen, denn er besitzt einen wahren Schatz an einem Hefte persönlicher Denkwürdigkeiten eines verstorbenen, ihm innigst verbunden gewesenen Freundes, eines Offiziers.
Man lernt aus denselben das Kleinleben des Krieges kennen, was die eigentlichen Geschichtsbücher, Schlachtbeschreibungen und militärischen Berichte gar nicht enthalten, und weil ein Mensch von hinreißendem Gefühl und treuer Beobachtungsgabe jene unbefangenen Notizen aufgeschrieben hat, so ist mir nicht selten bei einzelnen Partien zumute geworden, als rolle sich vor mir eine neue Ilias und Odyssee ab. Wenigstens leidet und handelt darin der Einzelne trotz des passiven Gehorsams und der mechanischen Kriegsführung unserer Tage, wie ein homerischer Held. Von diesen Denkwürdigkeiten liest nun zuweilen der Hauptmann in unserer Gesellschaft Abschnitte vor.«
Der Jäger erkundigte sich nach der Gelehrten Gesellschaft, deren Dasein er in dieser Stadt nicht vermutet hatte, und der Diakonus erzählte ihm, indem er ihn aus dem Hause des Hauptmanns weiter durch die Stadt führte, lächelnd und heiter von ihrer eigentümlichen Gestalt, ihren Gesetzen und ihren produktivsten Mitgliedern, unter denen außer einem Dichter ein Sammler und ein Reisender von Profession vorkamen. Er sagte ihm, daß er ihm schon deshalb heute den Wagen geschickt habe, damit er einer Sitzung beiwohnen könne, die auf den Abend bestimmt worden sei und ihm vielleicht einige angenehme Stunden bereite.
Unter diesen Gesprächen waren sie zu einem geräumigen Wiesenplatze gekommen, welcher aber gleichwohl noch innerhalb der Ringmauern der Stadt lag. Auf demselben erhob sich eine alte gotische Kirche, grün wie die Wiese. Der Jäger konnte an ihrem Anblicke sein Auge nicht ersättigen. Teils war schon die Farbe des Sandsteins, wie sie bezeichnet worden, äußerst eigen; teils aber hatte die Natur auch ihr willkürlichstes Spiel mit dem lockeren und mürben Material getrieben, und in dem reichen Pfeiler- und Schnitzwerk, an den Kanten und Ecken durch Regenschlag und Nässe ganz neue Figurationen hervorgebracht, so daß das Gebäude wenigstens stellenweise aussah, als sei es nicht aus des Menschen, sondern aus ihrer Hand hervorgegangen. – »Wie sonderbare Symbole werden oft um uns hergestellt!« rief der Jäger. »Hier steht die Kirche, an welcher, mindestens an deren Ornamenten sich nicht unterscheiden läßt, was davon der Baumeister gewollt, und was Zeit und Wetter hinzugefügt haben, und gestern erschien mir an einer Blume im Walde ein schönes Mädchen.«
Der Diakonus fragte näher nach, und der Jäger erzählte ihm mit glänzenden Augen und bewegter Stimme sein Waldabenteuer. »Nach Ihrer Beschreibung zu urteilen, sind Sie mit der blonden Lisbeth zusammengetroffen«, sagte jener. »Das liebe Kind streift im Lande umher, ihrem alten faselnden Pflegevater Geld zu verschaffen; sie war auch bei mir vor einigen Tagen, wollte sich aber nicht verweilen. Wenn sie es war, so hat Ihnen die Natur wirklich ein Symbol gezeigt, denn auch das Mädchen ist in Moder und Verfall aufgeblüht, wie Ihre Wunderblume aus dem alten Baumtrumm. Über ihr halten schirmende Geister die Hände, sie ist das liebenswürdigste Aschenbrödel und ich wünsche ihr nur den Prinzen, der sich in ihren kleinen Schuh verliebt.«
Auf dem Rückwege sollten der Sammler und der Reisende besucht werden, beide waren aber nicht zu Hause. In der Wohnung des Diakonus hatten sich dagegen bei der Frau mehrere Freundinnen eingefunden, anscheinend zufällig, eigentlich jedoch wohl in der Absicht, den jungen hübschen Fremden in Augenschein zu nehmen. Sein munteres trauliches Wesen brachte ihn bald mit allen den Frauenzimmern, unter denen keine einzige Häßliche war, in naive Berührung, und es schadete ihm bei ihnen nicht, daß sie hin und wieder über seine Zischlaute heimlich lächeln mußten.
Er hatte sich bei Tische seiner Verschwiegenheit gerühmt. Als man aufgestanden war, zog ihn die Wirtin rasch beiseite und flüsterte ihm zu: »Sagen Sie den beiden« – sie zeigte auf zwei ihrer Freundinnen, welche zum Essen geblieben waren – »nichts vom heutigen Abende, es soll daraus eine Überraschung für sie gesponnen werden.« – »Sie meinen«, versetzte er, »die Gelehrte Gesellschaft des heutigen Abends.« – »Dieselbe«, erwiderte die Frau schalkhaft, »und verschweigen Sie, wenn Sie sich auch sonst verschnappen sollten, wenigstens den Ort der Zusammenkunft, wie heißt er doch nur gleich?«
Er nannte ihr harmlos den Ort, den er zufällig auch bereits vom Diakonus erfahren hatte. »Richtig!« rief die Frau, eilte zu ihren Freundinnen, und alle drei verließen flüsternd und lachend das Zimmer.