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»Nun dann hat es der Junge, der Fritze, auf seine eigene Hand getan«, sagte der Patriotenkaspar. »Genug, ich weiß, was ich weggekriegt habe bei der Gelegenheit. Also, Herr Schmitz, eines Abends, wo es ganz dunkel war und ein schweres Unwetter heraufzog, komme ich auch von meinem Erb da herüber meinen gewöhnlichen Weg geschritten. So höre ich da, wo Sie jetzt stehen, Herr Schmitz, etwas rascheln in der Dunkelheit, und ehe ich noch meine Gedanken zusammennehmen kann, springt das ohne einen Laut von sich zu geben, auf mich zu, und ich habe einen Schlag mit einem Knüppel über den Kopf und einen Stoß in das linke Auge weg, daß mir beinahe Hören und Sehen vergeht. Im Auge ist's mir, als ob ein Dutzend Messer darin umgedreht würden, Nasses läuft mir über die Backe – ich aber denke, hier geht's noch um Haut und Haar, ist's Auge schon weg – und kriege meinen Kujon zu packen, und reiße ihm den Knüppel weg, denn, Herr Schmitz, ein Mensch, dem sie das Auge ausschlagen, hat fürchterliche Kräfte – und gebe ihm die Erwiderung auf seinen Schädel, daß er aufgrölzt und ich an der Stimme den Fritze erkenne. Er bettelt um Gnade, aber ich schreie: ›Meine Gnade sollst du gleich spüren!‹ reiße ihn in die Höhe; ›du verfluchtiger Augenmörder!‹ rufe ich, und stoße so lange den Bengel mit dem Kopf gegen den Stein hier, bis er stumm wird. Einen Ohrring hatte ich ihm bei der Balgerei abgerissen (denn er trug welche) den hielt ich in der Hand, wußte nicht, was damit anfangen, konnte ihn freilich nur wegwerfen, aber der Mensch ist bei solcher Gelegenheit wie von sich; unter dem Stein habe ich den Ring verscharrt, soll mich wundern, ob er noch da liegt?«
Der Patriotenkaspar, welcher den letzten Teil der Erzählung mit so lebendigen Gebärden vorgebracht hatte, daß seinem alten Zuhörer ein Schauder über die Haut rieselte, wälzte trotz seiner anscheinenden Kraftlosigkeit den Stein hinweg, kratzte etwas in der Erde darunter und zog mit einem gellenden Freudengeschrei, als habe er den köstlichsten Schatz entdeckt, einen Ohrring hervor, der nicht verrostet war, weil er stark vergoldet gewesen sein mochte. »Ei, wie so ein Ding übrigbleibt, wenn der Mensch längst verrottet ist!« rief er, und gab den Ring dem alten Schmitz, der ihn nur zagend annahm.
»Als ich nun dem Fritze das Seinige gereicht hatte, ließ ich ihn liegen und ging nach Hause, Herr Schmitz«, fuhr der Patriotenkaspar fort. – »Es war nun starkes Unwetter geworden und bei dem Donnern und Blitzen unterweges wurde mir graulich zumute. Ich dachte: Die Magdalis erwartet dich in ihrer Kammer, und ihr Bruder liegt da tot am Kreuzweg, und der Hofschulze schläft und läßt sich nichts träumen, und du gehst über das Stoppelfeld. – Zu Hause nahm freilich der greuliche Schmerz im Auge alle meine Besinnung weg, und nur unterweilen konnte ich mir vorstellen, daß sie mir nun vielleicht den Kopf abschlagen würden. Es kam aber alles ganz anders, Herr Schmitz.
Den anderen Tag ließ ich den Feldscherer holen, und der sagte mir, daß das Auge heidi sei, denn mit uns Bauersleuten machen die Doktors nicht viele Umstände. Na, das Auge lief auch wirklich aus, Herr Schmitz, und schrumpfte weg und ich erwartete alle Tage die Gerichte im Erb, die mich abholen würden, denn fliehen mochte ich nicht. Aber keine Gerichte kamen.
Dagegen kam ein Kerl, der der Fronbot hieß, von wegen des Dings droben unter den drei Linden, und sagte, ich sei geheischen und geladen zum Stuhl, sie wollten's unter sich abmachen, und ich sollt' Rede und Antwort stehen. Ich rief: Er sollte sich zum Teufel scheren, sie könnten mir dies und das tun, dem Amtmann sei ich Rede und Antwort schuldig.
Wie ich nun zum ersten Male den Kopf wieder aus dem Loch hervorstrecke, höre ich kuriose Geschichten. Der Alte hat seinen Sohn gleich nachdem die Leiche gefunden worden, begraben lassen und überall gesagt, der Junge sei spät nach Hause gegangen und habe einen bösen Fall getan. Keine Anzeige hat er gemacht und alles bleibt still von der Sache, und kein Amtmann und kein Kriminal bekümmert sich um mich. Ja, was soll das bedeuten? denke ich.
Ich konnte es aber bald spüren, Herr Schmitz. Es war mir schon auffällig gewesen, daß während meiner Wehtage nicht eine Menschenseele nach mir fragte, denn wenn ich auch nicht viele Freunde hatte, so besuchte mich doch jezuweilen sonst einer oder der andere. Aber da saß ich ganz allein und verlassen, und zuweilen tat mich nicht nur meine wunde Augenhöhle schmerzen, sondern ich heulte auch mit dem gesunden Auge meine bitteren Tränen. Als ich nun wieder 'naus ging, so wollte ich, weil ich nicht verfolgt wurde, bei einem Nachbar vorsprechen, aber der schob zur Hintertüre hinaus, als ich in die Vordertüre trat. Im Kruge rückten sie zischelnd zusammen, als ich kam und riefen den Wirt beiseite und sprachen sacht mit ihm und der kam dann zu mir und sagte: ›Kaspar, Ihr könnt nicht verlangen, daß ich um Euretwillen meine Nahrung einbüße. Sie wollen nicht mehr bei mir sitzen, wenn ich Euch zapfe.‹ – ›Nicht mehr bei Euch sitzen?‹ fragte ich wild. – ›Still!‹ rief er. ›Ich will's Euch heute abend offenbaren, Ihr habt mir manchen Taler zu verdienen gegeben, und darum kann ich Euch den Gefallen wohl tun. Kommt heute abend, wenn alles zur Ruhe ist, her, da sag' ich's Euch.‹
So ging ich denn den Abend, wie Polizeistunde geboten war, und niemand mehr in der Stube saß, zu ihm. Und da erzählte er mir, daß der Hofschulze über den Tod seines Jungen mit den anderen zusammengewesen sei droben am Freistuhl, und habe gesagt, er wolle keine Anzeige wider mich machen, und keiner solle es tun, aber er habe mich mit seinem Schwert von Carolus Magnus verfeimt und geächtet, und die Sache sei schon durch die Bauerschaft und weil die Großen drin einig seien, so seien die Kleinen auch nicht dawider und sei ich also nun aus dem Frieden und aus der Freundschaft gesetzt bei allen.
Ich lachte und rief: ›Was scher' ich mich um Euren Frieden und um Eure Freundschaft!‹ – Aber ich hatte übel gelacht, Herr Schmitz. Keine Anzeige kam wider mich bei den Gerichten ein, was damals leicht möglich war, denn der große Krieg war eben im Gange, und alles lief bunt über Eck, und als es wieder ruhig worden, war die Sache schon alt; jedoch ein Verfeimter war ich und ein Verfeimter blieb ich, und das war böser als Verhör und Urteil. Herr Schmitz, das Menschenkind kann alles ausstehen, Not und Krankheit und Feuersbrunst und Gewaltzwang, aber von seinesgleichen verstoßen sein, das kann das Menschenkind nicht ausstehen. Denn der Vogel fliegt mit seinesgleichen, und der Hirsch geht in Rudeln und der Fisch im Wasser schwimmt selbzwanzig dahin und dorthin, selbst der Wolken wandern immer mehrere zusammen, wie sollte das Menschenkind es allein bestehen können? – Sie hielten's, was sie oben am Freistuhl ausgemacht. Und die Kleinen mußten's ihnen nachtun. Wenn ich mir Stroh und Korn borgen wollte, wie der Fall sein kann in jeder Wirtschaft, kriegte ich nichts; einmal brannte meine Scheure, die ließen sie brennen und kamen mit der Spritze, als nur noch die Trümmer rauchten, und wenn sie an meinem Erb vorbeigingen, so greinten sie höhnisch und spuckten aus, und wenn ich selbst zu ihnen trat, so wiesen sie mir den Rücken. – Das fraß mir ins Herz hinein und ich sagte: ›Ich will's Euch allen zuvortun, daß Ihr Seelenverkäufer die Kränke vor Ärger kriegt und will mir Gesellschaft und Kameraden aus der Stadt halten.‹ Zechte also brav auf meine eigene Faust, ließ mich mit Menschen in der Stadt ein, Schreibersgehülfen und Ladenburschen und so dergleichen, gab denen große Traktamente auf dem Erb. Aber es wollte mir dergestalt nicht schmecken, Herr Schmitz, und wenn ich noch so viele lustige Schreibergehülfen und Ladenburschen bei mir hatte, so würgte es mir in der Kehle, weil ich immer dachte: Sie sind doch nicht deinesgleichen. Natürlich geriet ich auch durch die Lebensart tief in die Schulden hinein; auf einmal kam mir nun der Jude, der mir vorgeschossen hatte, über den Hals und ließ mir das Erb anschlagen. Ich wurde heruntergepfändet und hatte dann die Erde zum Lager und den Himmel zum Dach. Und so bin ich denn nach und nach, Herr Schmitz, zu dem Leierkasten, in diese Lumpen, in den Hunger und in die Kälte geraten, und so ein räudiger Bettelhund geworden, wie Sie mich da sehen.«
Der arme und jämmerliche Mensch sah nach dieser Erzählung mit dem Blicke eines so kalten und bodenlosen Elendes vor sich hin, daß es den alten Schmitz, der von Natur weichherzig war, erbarmte. Er begriff nun wohl, daß er von dem unglücklichen Mörder nichts zu befürchten habe, trat ihm daher näher und sagte: »Ich fasse noch nicht recht den Grund, weshalb der Hofschulze Euch den Gerichten entzog, denn, wenn ich auch sonst wohl einsehen kann, warum er mit seinem Freigerichte hantiert, so hätte ihm in diesem Falle Eure öffentliche Verurteilung doch eine größere Genugtuung gegeben.«
»O«, rief der Patriotenkaspar, »das ist eben die ausbündige Bosheit des alten Blutsaugers!« – Er raufte seine buschichten Augenbraunen. – »Denn wie ich nachgehends gehört habe, so sind Zeugen gewesen, zu denen der Bengel, der Fritze, sich berühmend gesagt hatte, er wolle mir an dem Abende auflauern. Nun war der dicke Knüppel neben dem Toten gefunden worden und mein Auge war doch auch weg, also folglich konnte ich mich auf Notwehr berufen, und den Kopf hätten sie mir nicht 'runtergehauen, sondern ich wäre vermutlich mit etwas Gefängnis davongekommen. Das sah der alte Satan voraus und deshalb wollte er mich auf seine eigene Hand für zeitlebens unglücklich machen. Ich habe aber auch eine Wut auf ihn gehabt, die Jahre her bei meinem Leierkasten, Herr Schmitz, ich kann Ihnen nicht sagen, was für eine Wut. Und lange konnte ich ihm nicht beikommen, aber nun – –«
»Pfui«, sagte der alte Schmitz. »Schämt Euch, Kaspar, wer wollte so rachgierig sein!«
Der Patriotenkaspar stürzte seinem Gönner zu Füßen, umschlang die Kniee des alten Mannes mit seinen hageren und haarichten Fäusten, als wollte er ihn um Verzeihung für seine Sinnesart bitten und rief mit hohlem zerreißendem Tone: »O Herr Schmitz! Rachgierig muß der Mensch sein, wenn sie ihm alles genommen haben, sonst verkommt er gar. Ich wäre längst verhungert, aber ich fraß meine Rache, und so blieb ich leben. Es steht wohl geschrieben: ›Segnet, die euch fluchen‹, aber es gibt keinen, keinen auf Erden, für den es geschrieben steht, zum wenigsten keinen Unglücklichen.«
»Nun, und was soll ich mit dieser ganzen sonderbaren Geschichte anfangen? Was treibt Euch, sie gerade mir und jetzt zu erzählen?« fragte der Sammler.
Der Patriotenkaspar erhob sich und sagte: »Herr Schmitz, ich will nun mein Recht haben. Ich habe mein Herze befriedigt und nun will ich mein Recht desgleichen haben. Ich will nicht länger unter dem Banne von meinesgleichen leben, sondern mein Urteil haben von den Gerichten des Königs. Ihnen habe ich die Sache erzählt, weil Sie sich doch auf Amtssachen verstehen, damit Sie ein hübsches und richtiges Protokoll aufnehmen, worin alles gehörig steht von Notwehr und von den Zeugen, denen der Fritze gesagt hat, er wolle mir auflauern, (denn es leben ihrer noch einige;) damit mir nicht der Kopf abgehauen wird. Dazu habe ich keine Lust, aber sitzen will ich ein paar Jahre recht gerne. Im Gefängnis betrage ich mich ordentlich, mache mir Überverdienst, komme mit einem guten Attestat vom Direktor zurück, lege von meiner Sparsumme einen Winkel an, und dann soll das Donnerwetter dem in die Eingeweide fahren, der mich noch ferner hohnnecken oder verachten will!
Also, Herr Schmitz, tun Sie mir die Gefälligkeit, das Protokoll zu schreiben, ich will dann drei Kreuze darunter setzen und es selbst in die Gerichte tragen.«
Der Sammler ließ sich das Jahr, worin die Mordtat vorgefallen war, nennen. Er dachte nach und sagte dann: »Kaspar, das Protokoll würde keinen Erfolg haben. Die Sache ist verjährt.«
»Was heißt das: Verjährt?«
»Das heißt: Ihr mögt über die Sache angegeben werden, oder Euch selbst angeben, ja, Ihr mögt, wie Ihr tut, die Strafe begehren, so wird dem keine Statt gegeben, denn nach dem Ablaufe von dreißig Jahren ist eine Untat ab und tot vor dem Richter. Ihr müßt also Euer Geschick schon so nehmen, wie es einmal liegt und es bis an Euer Lebensende tragen.«
Er ging an dem Totschläger vorüber, gab ihm den silbernen Ring, da dieser bei näherer Betrachtung ihm nichts Merkwürdiges gezeigt hatte, zurück und entfernte sich. Der Geächtete stand betroffen, sann über die Verjährung und konnte darin durchaus keinen Sinn finden. »Also«, sagte er endlich, »meine Gedanken an die Missetat muß ich behalten und bis in jene Ewigkeit mit hinüberschleppen; aber wenn ich mit meinem Fell die Sache büßen will, so geht das nicht mehr an, weil dreißig Jahre vorüber sind!« –
Ein Lärmen, der ganz in der Nähe entstand, unterbrach sein Nachsinnen und machte ihn aufmerksam. Kaum zwanzig Schritte vom Kreuzwege kamen auf dem Wege vom Oberhofe Menschen gelaufen und andere begegneten ihnen, die vom Hofe des Eidams gegangen kamen. – »Wißt Ihr's schon?« fragten die vom Oberhofe überlaut. – »Was denn?« versetzten die anderen. Ihren Weg eiligst nach dem Jürgenserbe fortsetzend, riefen die vom Oberhofe: »Der Hofschulze hat eine Überfahrung!«
»Das wäre der Henker!« riefen die ersten und liefen nach dem Oberhofe zu.
Der Patriotenkaspar fletschte die Zähne, sprang wie unsinnig auf dem Mordplatze umher und schrie: »Heisa! Heisa! So ist's recht. Die Tochter machte ich dir zur Hur', den Jungen zu Brei, und dich macht' ich nun zunicht! Ihr sollt erfahren, was es heißt, geringere Leute verachten! Könnt' ich jetzt mein Protokoll aufgenommen kriegen, wäre ich ganz zufrieden!«