Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

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Neuntes Kapitel

Das Freigericht und was diesem folgte

Oswald trat in einer seltsamen Stimmung aus der Türe des Oberhofes. Ihm wäre wohler gewesen, so bedünkte es ihn, wenn er Lisbeth im Sarge vor sich gesehen hätte, dann wäre er jammernd über den Sarg gestürzt, hätte auf den erstarrten Lippen mit seinen Küssen einen kurzen Schein der Lebenswärme hervorgerufen, hätte sich das Herz in Tränen totgeweint. Aber ein Albernes, eine Grille, etwas unbegreiflich Dummes schied ihn von ihr, oder etwas noch Schlimmeres, eine plötzliche Reue über den rasch geschlossenen Bund; so mußte er auch glauben. Der Zorn, der Schmerz über diesen unsichtbaren Feind, über einen dumpfen und stumpfen Zauber, den er nicht lösen, ja nicht einmal anfassen konnte, fraß ihm tief in die Brust hinein. – »Ein leichtes, veränderliches Mädchen, die heute sich hingibt und morgen sich spröde versagt!« murrte er ingrimmig und empfand es wie ein scharfes Messer in seinen Eingeweiden, daß er solche Worte sprach. Es fiel ihm nicht ein, daß er ein großer Graf und Lisbeth ein armer Findling sei, daß dieses verlassene Mädchen auch ihr reichstes äußerliches Glück in der Ehe mit ihm finden müsse; in seinen schwärmerischen und wütenden Gedanken sah er sie hoch über sich. Er war der niedere Schäfer, sie die Prinzessin, die ihn nach Willkür an sich gezogen hatte, nach Willkür ihn nun verstieß. In so furchtbarer Gemütsverfassung, in so bitterer Pein fand er das große Gesetz der Liebe, welches dem Liebenden ewig seine Stelle zu den Füßen der Geliebten anweiset, und wäre diese eine aus dem Staube hervorgegangene Bäuerin. Habe du die Schätze des Moguls, grüne der Lorbeerkranz des Ruhmes um deine Schläfe, führe du Salomos geisterbeherrschenden Ring, kröne dich der Reif der Hoheit, die Geliebte wird, und nicht im abgeschmackten Gleichnis, sondern in der Wahrheit und Wirklichkeit deine Königin sein, demütig wirst du den zaubergewaltigen Ring in ihren Schoß legen, der Kranz wird dich drücken in ihrer Nähe, ein Bettler wirst du immerdar bleiben vor ihr, und auch als König ein Sklav'.

In solchen ausgeweinten, ausgeleerten, ausgenüchterten Stunden ergreift den Menschen eine wilde Gleichgültigkeit und zugleich schärft sich in ihm eine Art von gedankenlosem Merken auf die unbedeutendsten Dinge. An der Stelle, wo du verzweifeltest, sahst du, ob ein Grashalm so oder so gebogen war, du wußtest, daß an dem Busche, der da stand, zwanzig Knospen aufgebrochen waren, genau so viele, nicht mehr und nicht minder, du könntest den Hirten, der gerade seine Herde dem Platze vorbeitrieb, lange nachher aus der Erinnerung malen, so genau beobachtetest du seinen Rock, den messingenen Kamm im Haar und seine nichtsbedeutenden Gesichtszüge. Du verwünschest dein Geschick, und erkennst während deiner schäumendsten Flüche, daß der Vogel, der dort in weiter Entfernung auf einem dürren Aste sitzt, eine Krähe ist und nicht eine Dohle.

Oswald war gleichgültig über alles geworden und wäre mit seinem juristischen Freunde abgereiset, hätte sich dieser jetzt am Oberhofe eingefunden. Aber er sah auch mit den verwachten und geröteten Augen alles, er hörte alles, was um ihn vorging. – Vor dem Hause stand der Hofschulze mit einem anderen Bauern im Gespräch. Sie standen mit dem Rücken gegen die Türe, so daß sie den jungen Grafen nicht bemerkten. – »Hofschulze«, sagte der Bauer, »es kann doch nun einmal nichts helfen, kommt also nur immerhin zum Stuhl, denn das Gericht muß gehegt werden auch ohne dieses.« – Der Hofschulze antwortete auf das anfangs mit einem tiefen Seufzer, dann sagte er so hohl, als steige die Stimme aus dem Grabe empor: »Ich will kommen, aber ich weiß nicht, ob es ohne das Schwert gelingen wird.« – Der Bauer ging seitwärts ab, der Hofschulze wandte sich um und Oswald sah, daß das Antlitz seines alten Wirtes ganz verfallen war. So blickte auch der Hofschulze in das zerstörte Antlitz seines jungen Gastes; sie warfen einander finstere und doch nichtssagende Blicke zu, und dann ging jeder seiner Wege; der junge Graf durch die Felder, der alte Bauer in das Haus. Auf seinem Wege sagte Oswald zerstört lachend: »Sie werden heute ihren Hokuspokus am Freistuhl machen; ich will mich verstecken und zusehen, was kann der Mensch Besseres tun, als etwas Neues beobachten?«

 

Nicht lange nach diesem Auftritte wanderten zehn bis zwölf Bauern von verschiedenen Seiten die Pfade den Hügel hinauf nach dem Freistuhle. Es waren die reichsten Hofesbesitzer der Umgegend. Die Gesichter dieser Leute waren ernsthaft und feierlich. Ihre Schritte übereilten sie nicht, und wo auch zwei zusammengingen, wurde dennoch kein Wort gewechselt. Diese alten Freibankbauern trugen auch heute noch ihren Feierputz und die großen breitkrempigen Hüte gaben ihnen ein schweres und würdiges Ansehen. Der Nebel, der noch immer fortdauerte, umhüllte die heimlichen und schweigenden Wanderer.

Als sie oben am Freistuhle angekommen waren, einer nach dem anderen, setzten sie sich schweigend und einander nicht begrüßend auf die Steine umher, die in der Einsenkung zwischen den Brombeergebüschen lagen, der größte aber unter den drei alten Linden blieb leer und für den Freigrafen aufbehalten. Sie saßen wohl eine Viertelstunde lang, ohne einander anzusehen, geschweige daß sie zusammen geredet hätten. Jeder blickte starr und fest vor sich hin. Zuletzt kam der alte Bauer, welcher mit dem Hofschulzen gesprochen hatte, der Fronbote; nächst dem Besitzer des Oberhofes der kundigste in den Sitten und Gebräuchen der Väter. Dieser stellte sich außerhalb des Kreises der Steine hin, auf seinen Knotenstock gestützt und nach der Gegend des Oberhofes hinuntersehend.

Von dieser Gegend kam nach einer Viertelstunde der Hofschulze heraufgegangen, der Freigraf. Neben ihm ging sein Eidam. Feiermäßig war auch sein Anzug, aber gebückt und kummervoll sein Gang. Den Eidam ließ er an einer über hundert Schritte vom Freistuhl entfernten Stelle zurückbleiben, das Gesicht von diesem abgekehrt. Der Fronbote ging dem Hofschulzen entgegen, führte ihn bis an den Kreis und sagte:

»Herr Graf, mit Urlaub und mit Behagen
Tue ich Euch fragen;
Soll ich, Euer Knecht,
Euch den Königsstuhl setzen, wie Recht?«

Der Hofschulze erwiderte:

»Alldieweil die Sonne mit Rechte
Bescheinet Herren und Knechte
Und alle unsere Werke,
Spreche ich, das Recht zu stärken,
Den Stuhl zu setzen eben,
Und rechte Maß zu geben.«

Der Fronbote ging hierauf durch den Kreis zu dem großen Steine unter den drei alten Linden, legte die Hand an denselben, als setzte er ihn wie einen Stuhl zurecht, stellte ein kleines Kornmaß, welches er unter dem Rocke hervorzog, vor den Stein, blieb selbst daneben stehen und rief dem Hofschulzen, der sich noch immer außerhalb des Kreises befand, folgenden Spruch zu:

»Herr Grafe, lieber Herre;
Ich vermahne Euch bei Eurer Ehre,
Ich bin Euer Knecht,
Darum sagt mir für Recht,
Ob diese Maß ist gleich
Für arm und reich,
Zu messen Land und Sand
Bei Eurer Seelen Pfand?«

Der Hofschulze antwortete:

»Ich erlaube Recht und verbiete Unrecht
Bei Peen der alten erkannten Recht.«

Er ging nun auch in den Kreis, schritt, ohne von seinen Genossen begrüßt zu werden, oder sie zu begrüßen, auf den Stein unter den Linden, den Königsstuhl, zu, setzte sich, stellte seine Füße auf das Kornmaß und entblößte das Haupt, welchem Beispiele die Bauern folgten. Dann zog er eine Flechte von Weidenzweigen aus dem Rockärmel und gab sie dem Fronboten, der sie auf einen tischartigen Stein vor dem Stuhle legte.

Die Bauern murmelten und einer fragte: »Die Wyd sehen wir; wo ist das Schwert?«

Der alte Freigraf zuckte zusammen und der Fronbote antwortete statt seiner: »Es hat nicht gleich auf der Stelle gefunden werden können.«

»Nachbarn«, sagte der Hofschulze zitternden Lautes, »es ist ein Malheur mit dem Schwerte von Carolus Magnus geschehen, und wenn Ihr so wollt, stehen wir auf und gehen heim.«

»Nein!« riefen die Bauern; »aber daß das Schwert mangelt, ist schlimm, denn es bedeutet das Kreuz, woran der Herr Christus gelitten hat.«

Sie blieben in nachdenklichen Stellungen. Auch ihr alter Vorstand hatte Mühe, seine Fassung zu behalten. Er erhob indessen die Stimme und sprach zum Fronboten:

»Ich biete, zu sagen mir:
Sind Notschöffen allhier?
Oder Mann, die nicht wissen?
Das sage mir beflissen.«

Der Fronbote sah sich im Kreise um und versetzte dann mit lautem Tone:

»Alle Mann sind wissend und gerecht,
Weder Notschöffen, weder Juden, weder Knecht.«

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