Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

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Als er auf die Außendinge wieder zu merken begann, nahm er wahr, daß sein Wäglein sich schneckenartig fortbewegte, weil das eine Pferd stark lahmte. Er entschloß sich kurz, ließ das Fuhrwerk heimgehen und machte den übrigen Weg zu Fuß. Freilich konnte er nun nicht, wie er gewollt, am nämlichen Tage zur Stadt zurückkehren, mußte sich vielmehr bequemen, die Nacht auf dem Lande zuzubringen.

Er fand den Hofschulzen an einem Scheurentore zimmern. Als dieser von seiner Arbeit die blitzenden Augen unter den weißen Brauen gegen ihn emporhob, kam er ihm nach den erhaltenen Aufschlüssen wie der Alte vom Berge vor. Der Jäger meldete ihm seinen bevorstehenden Abzug. Jener erwiderte: »Das ist mir lieb, das Frauenzimmerchen, welches vor Ihnen die Stube hatte, ließ mir sagen, sie würde heute oder morgen zurückkommen; der müßten Sie doch weichen, und ich könnte Sie nur unbequem logieren.«

Der ganze Hof schwamm in dem beginnenden roten Abendlichte. Eine reine Sommerwärme durchdrang die von keinem Dunste beschwerten Lüfte. Es war ganz einsam zwischen den Gebäuden; alle Knechte und Mägde mußten wohl noch auf dem Felde zu tun haben. Auch im Hause sah er niemand, als er nach seinem Zimmer ging. Dort ordnete er, was er an diesem Orte zuweilen aufgeschrieben hatte, packte seine wenigen Sachen zusammen und sah sich dann nach dem Gewehre um.

Dieses war jedoch verschwunden. Er begriff nicht, wer es ihm fortgenommen haben könne, und ging, bei dem Hofschulzen Erkundigung einzuziehen, über den Gang nach der Treppe zu. In einem Gelasse seitwärts glaubte er ein Geräusch zu vernehmen – »vielleicht ist eine Magd darin, die dir es auch nachweisen kann« – dachte er und klinkte die Tür auf. Er war aber in die Schlafkammer der Tochter geraten und sah erschreckt eine unzweideutige Gruppe. Herzklopfend schritt er rasch nach seinem Zimmer zurück; der Bräutigam, ein junger starker Bauer, folgte ihm dahin nach. »Das müssen Sie nicht für übel nehmen«, sagte dieser. »Denn das zweite Aufgebot ist gewesen, und nächsten Donnerstag ist die Hochzeit, und wenn es so weit ist, so hat sich keiner um so etwas zu bekümmern, und der Pastor und der eigene Vater fragt nichts darnach. Es wird diese Nacht bei uns im Hofe Korn gesackt, deshalb mußte ich meine Braut heut zu Nachmittage besuchen.«

»Mich geht das nichts an«, antwortete der Jäger verwirrt, »wenn ich nur wüßte, wo mein Gewehr ist.« »Dieses will ich Ihnen sagen«, antwortete der junge Bauer, »der Schwiegervater hat es heimlich weggenommen und dort hinter dem großen Schranke versteckt, denn er sagte, der dritte Choral aus Ihrer Geschichte wäre –«

»Was? Choral? Ihr wollt wohl Moral sagen?«

»Jawohl. Also der dritte Choral aus Ihrer Geschichte wäre, daß man einem Fehlschützen von Mutterleib aus kein Schießgewehr unter Händen lassen müsse. Ein gewöhnlicher Fehlschütz wäre wenig zu ästimieren, aber ein Fehlschütz von Mutterleib könnte großen Schaden anrichten.«

Der Jäger hörte nicht länger auf diese Reden hin, warf vielmehr seine Weidtasche um, eilte nach dem Schranke, zog hinter demselben das Gewehr hervor, lud, und war mit zwei Schritten aus dem Hofe nach dem Freistuhl, sich die unruhig wogenden Bilder aus der Seele zu schießen. Schon im duftigen goldenen Dämmer des Eichenkamps hatte er seine Lebensgeister wieder beisammen. – »Nun das muß wahr sein«, rief er, »die Idyllenschreiber haben uns die Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die schäferlich-zarten, als die knolligen Kartoffelpoeten. Sie ist eine Sphäre, so mit derber Natur, wie mit Sitte und Zeremonie ausgefüllt, und gar nicht ohne Anmut und Zierlichkeit, nur liegt letztere woanders, als wo sie in der Regel gesucht wird. Ist der Bursch aus Unenthaltsamkeit vor der Zeit in sein Recht getreten? Gewiß nicht. Es ist so Herkommen, lieblicher, lustiger Brauch, und sein Mädchen würde sich vielleicht für verachtet halten, wenn er ihn nicht mitmachte.«

Droben auf dem Hügel am Freistuhl ward ihm sehr wohl. Das Korn wiegte säuselnd die Ähren, schwer von Segen, des Vollmondes große glührote Scheibe stieg am Ostrande des Himmels auf und noch wirkte der Widerschein der in Westen abgeschiedenen Sonne. Die Atmosphäre war so rein, daß dieser Widerschein gelbgrün glänzte. – Er empfand seine Jugend, seine Gesundheit, seine Hoffnungen. Hinter einen großen Baum am Waldrande stellte er sich; »heute will ich doch erproben«, sagte er, »ob das Geschick nicht zu beugen ist. Ich schieße nur, wenn mir etwas bis auf drei Schritte vor dem Rohre nahe kommt, und da müßte es ja mit Zauberei zugehen, wenn ich fehlen sollte.«

Im Rücken hatte er den Forst, vor sich die Senkung mit den großen Steinen und Bäumen des Freistuhls, gegenüber umschlossen die gelben Kornfelder den einsamen Ort. In den Wipfeln über ihm gurrten noch einige einzelne verlorne Töne der Turteltaube, durch die Äste der Bäume am Freistuhl fingen die wilden Lindenschwärmer an mit den grün-roten Flügeln zu schwirren. Allgemach begann es auch im Walde am Boden sich zu rühren. Ein Igel kroch schläfrig durch das Laub; ein Wieselchen zog den geschmeidigen Leib aus einer Steinspalte, nicht breiter, als der Kiel einer Feder, hervor. Buschhäslein sprangen mit vorsichtigen Sätzen, zwischen jedem innehaltend, sich duckend und die Löffel legend, ins Freie, bis sie, mutiger geworden, auf dem Rain am Kornfelde sich emporhoben, tänzelten, miteinander spielten, und die Vorderläufe zu scherzenden Schlägen brauchten.

Der Jäger hütete sich wohl, dieses Hasenvolk zu stören. Endlich trat ein schlankes Reh aus dem Walde. Klug die Nase in den Wind streckend, links und rechts aus den großen, braunen Augen umherschauend, schritt das Tier auf den feinen Füßen mit leichter Grazie einher. Jetzt war das Zarte, Wilde, Flüchtige dem Geschosse des Versteckten gegenüber angelangt, es war so nahe, daß es fast nicht gefehlt werden konnte, er wollte abdrücken, da schreckte das Reh zusammen, tat einen Sprung in veränderter Richtung gerade auf den Baum zu, hinter welchem der Jäger stand, sein Schuß ging los, das Wild setzte in gewaltigen Sprüngen unverwundet waldein, zwischen dem Korne aber war ein Schrei erschollen, und wenige Augenblicke nachher kam eine weibliche Gestalt auf einem schmalen Pfade, der in der Linie des Schusses lag, aus den Feldern hervorgewankt.

Der Jäger warf die Flinte weg, stürzte auf die Gestalt zu und meinte vergehen zu müssen, als er sie erkannte. Es war das schöne Mädchen von der Blume im Walde. Sie hatte er statt des Rehes getroffen. Sie hielt die eine Hand auf der Gegend zwischen Schulter und linker Brust, dort quoll unter dem Tuche reichlich das Blut hervor. Ihr Antlitz war bleich und etwas von Schmerz verzogen, doch nicht entstellt. Sie holte dreimal tief Atem und sagte dann mit sanfter und matter Stimme: »Gottlob, es muß nichts gefährlich verletzt sein, denn ich kann Atem holen, wenn es mir auch Schmerzen macht. – Ich will versuchen«, fuhr sie fort, »den Oberhof zu erreichen, zu dem ich auf diesem Richtwege gelangen wollte, wo mich nun das Unglück treffen mußte. Geben Sie mir Ihren Arm.« – Er führte sie einige Schritte hügelabwärts, da zuckte sie zusammen und sagte: »Es geht doch nicht, die Schmerzen sind zu heftig, ich könnte unterwegs ohnmächtig werden. Wir müssen schon an diesem Orte aushalten, bis Leute herbeikommen und eine Tragbahre verschaffen können.«

Trotz ihrer Wundschmerzen hielt sie ein Päckchen fest in der linken Hand, dieses reichte sie ihm jetzt und sagte: »Verwahren Sie es mir, es ist das Geld, welches ich für den Herrn Baron eingesammelt habe, ich möchte es verlieren. – Wir müssen auf längeres Bleiben uns gefaßt machen«, fügte sie hinzu. »Wenn es Ihnen möglich wäre, mir ein Lager zu bereiten und etwas Wärmendes zu geben, daß die Kälte nicht zur Wunde schlägt!«

So hatte sie die Besonnenheit für sich und ihn. Er stand sprachlos, bleich und starr, wie eine Bildsäule; die Verzweiflung wühlte in seinem Herzen und ließ kein lautes Wort über die Lippen. Jetzt gab ihm ihre Aufforderung Bewegung, er eilte nach dem Baume, hinter dem er seine Weidtasche abgelegt hatte. Dort sah er auch das unglückliche Gewehr liegen. Wütend ergriff er es und schlug es mit solcher Kraft gegen einen Stein, daß der Schaft zersplitterte, die Läufe sich bogen, und die Schlösser von ihren Schrauben lossprangen. Er verwünschte den Tag, sich, seine Hand. Zu dem Mädchen zurückgestürzt, welches sich auf einen Stein des Freistuhls gesetzt hatte, fiel er ihr zu Füßen und flehte, den Saum ihres Kleides küssend, unter heftigen Tränen, die nun aus seinen Augen mit Gewalt brachen, sie um ihre Vergebung an. Sie bat ihn, doch nur aufzustehen, er habe ja nicht dafür gekonnt, die Wunde sei gewiß nicht bedeutend, er möge ihr nur jetzt helfen. Er richtete ihr nun einen Sitz auf dem Steine zu indem er die Weidtasche auf denselben legte. Um ihren Hals band er sein Tuch, um ihre Schultern legte er locker und lose seinen Rock. Sie setzte sich auf den Stein, er nahm neben ihr Platz und bat sie, zu ihrer Erleichterung ihr Haupt an seine Brust zu neigen. Sie tat es.

Der Mond war in völliger Klarheit über einen Teil des Himmels gedrungen und beschien fast taghell die beiden durch einen rohen Zufall einander so Nahegerückten. In der vertraulichsten Nähe saß der Fremde mit der Fremden, sie stieß leise Schmerzenstöne an seiner Brust aus, und von seinen Wangen flossen unaufhaltsame Tränen. Rings aber um sie her verbreitete sich nach und nach das Schweigen und die Einsamkeit der Nacht.

Endlich wollte es das Glück, daß ein später Wanderer durch die Kornfelder ging. Der Ruf des Jägers erreichte sein Ohr, er eilte herzu und wurde nach dem Oberhofe geschickt. Bald darauf ließen sich Fußtritte hügelan Kommender vernehmen; es waren die Knechte, welche einen Tragsessel mit Kissen brachten. Der Jäger hob die Verwundete sanft hinein und so gelangte sie spät in der Nacht unter das Obdach ihres alten Gastfreundes, der sich freilich sehr verwunderte, die Erwartete in diesem Zustande ankommen zu sehen.


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