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Oswald war von seiner kurzen Lustigkeit schon wieder zurückgekommen. Er stand auf, ging heftig hin und her, ballte seine Hand, drückte sie wider die Stirn, sein schönes Antlitz zuckte vor Schmerz, er riß an seinen braunen Locken, er nagte an seiner Lippe. Der Alte, der sich in seinen jungen Herrn nicht zu finden wußte, stellte sich, die Kniee nach vorn gebogen, die Hände und Arme auf seine Schenkel gestemmt, hin und sah ihm traurig zu. »Mit Ihnen ist etwas vorgegangen, mein Herr Graf«, sagte er ehrlich und sanft.
Da trat Oswald rasch zu ihm. Er drückte den Kopf des Alten heftig gegen seine Brust und rief im herzzerreißendsten Tone: »Ja! Ja! mit mir ist etwas vorgegangen!« Leise weinend sagte er ihm ins Ohr: »Ich habe eine Braut, Jochem!« –
Aber hier brachen die Gefühle des alten trockenen Menschen mit einem Ungestüm aus, der nicht zu beschreiben ist. Jubelnd und schreiend stieß er seinen jungen Herrn wie einen niederen Knaben von sich zurück, sprang in dem Nebel auf dem braunen Heideplatz schwerfällig und ungeschickt wie ein alter treuer Hund, der den Herrn wiedersieht, umher, klatschte in die Hände und rief: »Juchhe! Juchhe! Ach, das Glück, das ausbündige Glück! Ach, so sollen meine alten Augen denn noch den Tag erleben, wo ich meinem Herrn Grafen und seiner schönen, lieben gnädigen Braut zur Hochzeit aufwarten darf! O über den klugen Einfall von meinem Herrn Grafen! Ach wo ist sie, wo ist das liebe gute gnädige Fräulein, daß ich ihr die Füße küsse und den Saum des Rocks?« – Seine abgenutzten Kräfte reichten aber nicht weiter. Er mußte stillstehen, hielt sich die Seiten, keuchte und war außer Atem.
Der junge Graf Oswald hatte sich auf die Erde geworfen, das Gesicht in das Heu gedrückt. Seine Arme waren ausgestreckt darüber hingebreitet; er schluchzte bitterlich. – »Alles, alles kann die Liebe ertragen!« jammerte er. – »Not erträgt sie und Elend verkittet sie und selbst die Untreue weiß sie zu überdauern und in die Bahn der Treue hold zurückzuführen! Aber eines erträgt Liebe nicht: Das Lächerliche! Das scheußlich Lächerliche! Mußt du lachen, wenn du dein Lieb im Arme hältst und denkst, woher sie rührt, so ist es aus mit der Liebe, aus! Liebe stirbt vom grellen Lachen! O mein süßer, einziger Tag – o du Tag meiner Tage! so rasch gingst du unter, herrliche Sonne? Ach, meine Brust, wie tut sie weh! Die Fratzen haben sie zerschnitten mit dem grellen Lachen und sie wird bluten, sehr bluten!«
Er richtete sich empor und schüttelte sich wie vor Fieberfrost in dem häßlichen kalten Dunst da droben auf der Bergeshalde. Seine dunkelen Locken hingen ihm tief wie Wolken in das Gesicht. Dumpf sagte er: »Nimm dieses Geld, Jochem, bezahle damit, was du etwa schuldig bist und deine Zehrung. Erwarte mich in der Stadt bei dem Diakonus. Morgen, oder vielleicht noch heute abend komme ich hin. Jetzt gehe ich nach dem Oberhofe, um dem Mädchen adieu zu sagen.«
»Adieu?« fragte der Alte, der aus dem Himmel seiner Freude gestürzt war.
»Ich werde das Mädchen, mit welchem ich mich verlobte, nicht heiraten«, sagte Oswald, bemüht, seiner Stimme Festigkeit zu geben. Sie ging aber bei den letzten Worten in ein gebrochenes Zittern über. Er schritt schnell über den Abhang des Berges nach der Börde hinunter.
Der alte Jochem sah ihm nach. Er beschaute das Geld, welches ihm der Graf gegeben hatte, dann sah er die Stelle, wo die Klagen seines Herrn erschollen waren, dann nahm er seinen Hut in die Hand und drehte ihn, Kopf und Krempe achtsam betrachtend, hin und her. Er setzte den Hut wieder auf und sprach sodann: »Wenn dieser mein Herr Graf sich mit dem Mädchen verlobt hat, so wird er ihr nicht Adieu sagen, sondern sie heiraten.«
Hierauf ging er nach dem Gehöfte seines Bauern, um mit diesem alles in Richtigkeit zu stellen, seinen eigentlichen Rock wieder anzuziehen und sodann zu tun, was ihm der Graf befohlen hatte.
Der Schriftsteller ging zum zweiten Male nach der Krypte. – »Sollte er mich mißverstanden haben? Sollte er mich dort erwarten? Gesprochen habe ich freilich davon...« sagte er für sich. Münchhausens Ausbleiben machte ihn unruhig. Er ging nicht ohne einen leichten Schauder durch die Kirche nach den Stufen, die in die Kluft hinunter führten. Seine sonderbaren Gedanken hatten ihm den düsteren Ort mystisch bevölkert.
Die Ahnung hatte ihn nicht getäuscht. Indem er zu den Schatten und trüben Lichtern der Kluft eintrat, hörte er ein Geräusch in der Nähe des Altars. Er faßte sich ein Herz, ging zu der Stelle und fand wirklich den, auf den er so lange gewartet hatte. Hinter der Gruppe am Kreuz saß Münchhausen auf einem alten Opferstocke, den man, weil er unbrauchbar geworden sein mochte, dort hingestellt hatte. Als der Schriftsteller seinen Kuranden näher betrachtete, soweit dieses die Dunkelheit zuließ, erschrak er, denn der Abenteurer sah ganz anders aus, wie am Morgen. Sein Gesicht schien völlig eingefallen zu sein, die Backenknochen schienen weit hervorzustehen. Auch der Anzug war in Unordnung. Keinen Hut hatte er auf dem Kopfe, die Uniform klaffte vorn weit auseinander, die Weste war aufgerissen, die nackte Brust zeigte sich. Er sprach kein Wort. Der Schriftsteller faßte seine Hand an, sie war grabeskalt.
Dieser nahm sich zusammen und sagte fest: »Was soll das? Warum sitzt Ihr hier? Folgt mir nach der Schenke!«
»Kommt sie?« flüsterte Münchhausen leise mit hohler Stimme.
»Wer?«
»Sie! Der böse Feind. Hu! – An den Röcken kennt man sich wieder, wenn die Gesichter unkenntlich geworden sind. Warum zog ich meinen roten Rock an, warum ging das Rosakleid nicht verloren und der grüne Schuh und der Paradiesvogel? – Abscheuliche Erinnerung!«
»Welche Erinnerung?«
»Die! – Erinnert Euch an heute morgen! Einen Punkt gibt es im Leben jedes Menschen, an den darf man nicht rühren, sonst wird der Mensch toll. Eine Gestalt gibt es, wenn die kommt und sich an den Pfeiler Laran gegenüberstellt, und nichts weiter sagt als: ›Er ist's!‹ so kann Lara sich nicht mehr zufriedengeben. Eine Gans zu belügen und zu verführen, um Geld zu kriegen und dann hören zu müssen, die Gans sei kahl, gerupft! Puh! Einzige Sünde meines Lebens! Abbüßen wollte ich sie durch tausend bußfertige uneigennützige Lügen! – Umsonst! Die Gans erscheint wieder. Armer Münchhausen! Wie herrlich standest du da noch vor drei Stunden! Münchhausen war groß, Münchhausen war ein Held, denn Münchhausen hatte selbst die Feigheit überwunden und wollte sich schießen. Und so zertrümmern zu müssen!« –
»Man wird Euch ja wohl vor Angriffen und Zudringlichkeiten schützen können«, sagte der Schriftsteller, der nun allgemach den Zusammenhang begriff.
»Wer? Schützen? Nein!« antwortete der Freiherr todesmatt. »Du kannst dich vor dem Lichte verbergen, du kannst eine Höhle finden vor dem Orkan, wenn er dahersauset, und bückst du dich beizeiten, so fährt die Kanonenkugel über dich hin, aber du kannst dich nicht verstecken vor einem tollen Weibe, das dir nachläuft. Sie hat mich ausgewittert, sie wird mich finden allerorten. Es gibt Vorurteile in der Welt. Man soll heiraten, wen man... Sie heiraten! Schrecklicher Gedanke!«
Der Schriftsteller dachte: »Ich hoffe, der Ehrgeiz soll auf ihn wirken.« Er sagte daher: »Münchhausen, der Erbprinz erwartet Euch.« – Aber mit einer vielsagenden Gebärde nahm der Freiherr aus der Tasche seiner Uniform den Brief jener hohen Person und zerriß ihn. Der Schriftsteller, den diese symbolische Handlung äußerst betroffen machte, fragte ihn, was er denn nun eigentlich vorhabe, was er beginnen wolle?
»Verdampfen! Verduften! Verschwinden!« sagte der Freiherr. – »Ihr seht mich nie wieder, ihr hört nicht mehr von mir. Lebt wohl! Mein Tagwerk ist getan. Laßt uns wie Männer scheiden! Keine Träne bei diesem Abschiede! – Sie werden mir nachzupfuschen suchen, aber Ihr werdet, das weiß ich, ewig Euren Freund vermissen.«
Sein Kurator suchte alle Gründe hervor, womit ein Mann, der sich in heiler Haut weiß, den Leidenden überzeugen zu können glaubt, daß es die Pflicht des Leidenden sei, nicht zu leiden. Er erinnerte ihn an die Aufgabe, die das Leben jedem zu lösen gebe, nämlich sich zusammenzunehmen und unter allen Umständen gefaßt zu bleiben. Er sprach von Cato, Sokrates und von anderen großen Männern des Altertums, er sagte ihm zuletzt, eine feuchte und kalte Krypte sei wenigstens auf keinen Fall der Ort, um lange darin ohne Schnupfen und Husten zu verweilen.
»Nun denn!« rief Münchhausen, dessen Lebensgeister noch einmal wild aufzuspringen schienen, »so will ich eine neue Religion stiften und Ihr sollt Ali sein, der erste der Gläubigen. Bringt Wein her, feurigen Wein, schäumenden Wein, wir wollen den Manen des Toten da am Kreuz eins zutrinken!«
Der Schriftsteller trat drei Schritte zurück. – »Nein, das wollen wir hübsch bleiben lassen!« rief er so tönend, daß es durch das Gewölbe hallte. »Alles muß seine Grenzen haben.«
»Wofern Ihr das nicht wollt, so verschafft mir wenigstens einen Mantel und einen Hut, damit ich mich anständig sehen lassen kann«, sagte der Freiherr.
Der andere wandte sich, stieg aus der Krypte empor, um das Begehrte herbeizuschaffen. Er war jedoch kaum oben angelangt, als er ein heftiges Getöse unten vernahm. Es war, als ob Steine von ihrem Orte gebrochen würden und dann schollernd niederfielen. Sogleich eilte er, schlimmer Ahnung voll, in die Kluft zurück. Münchhausen war von seinem Sitze verschwunden. Der andere sah sich um; nirgends war er zu erblicken. Er rief; es erfolgte aber keine Antwort. Er suchte hinter den Pfeilern, in den Seitennischen hinter den Grabmälern, bei den Steinhaufen; vergebens! Der Freiherr hatte sich nirgends versteckt.
Nach der Schenke zurückgekehrt, bewog er einige Bauern, ihm mit Laternen und Windlichtern zu folgen. Bei deren Scheine wurde nun eine zweite sorgfältige Nachsuchung vorgenommen. Umsonst! Man forschte nach einem geheimen Gange aus der Krypte, aber diese zeigte sich, wohin man leuchtete, umschlossen, auch wollten die Bauern von einem solchen nie etwas gehört haben. Man prüfte endlich mit Stöcken und Hacken das Pflaster und Gemäuer, ob es nicht irgendwo losgebrochen und nur notdürftig wieder zugesetzt sei. Pflaster und Gemäuer waren überall fest. Diese vergebliche Arbeit dauerte über eine Stunde. Endlich mußte man von ihr abstehen. Münchhausen war und blieb auf unbegreifliche Weise verschwunden.