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Aus ihrer Unterhaltung erfuhr ich, daß der gelbe Dicke ein reicher, vom Geschäfte zurückgezogener Rentenierer war, welcher unweit Amsterdam und eine Stunde von Harlem auf seinem Landhause gelebt hatte. Da sich die Anfälle des Podagras bei ihm mehrten und gewisse Vorboten der Wassersucht erschienen, so war ihm von seinem Arzte eine Reise in die südlichen Länder verordnet worden. Dazu wollte sich denn auch Mynheer van Streef verstehen und erklärte seine Bereitwilligkeit, bis in den Reichswald bei Cleve zu reisen. Der Arzt erklärte aber dagegen, er sei mißverstanden worden und nannte ihm die ungeheure Meilenzahl, welche er wenigstens abzureisen habe. Der Holländer war hierüber anfangs, so weit sein Naturell dies zuließ, in einige Verzweiflung geraten, jedoch endlich, weil der Arzt ebenfalls ein ruhiger hartnäckiger Altniederländer war, und seinem Patienten mit größter Fassung Todestag, ja Todesstunde vorausgesagt hatte, wenn er nicht Folge leiste, genötigt gewesen, sich zu fügen, und an die Reise zu denken, die er in südöstlicher Richtung vornehmen mußte, da er südlich auf der Karte die verordnete Meilenzahl nicht vor sich sah.
Um dies zu verstehen, muß gesagt werden, was ich aus den Gesprächen heraushörte, daß nämlich Mynheer van Streef durchaus nur seine Meilen in gerader Richtung, ohne durch Umwege und Absprünge ihre Zahl zu erfüllen, verreisen wollte. Denn da ihm die Reise äußerst zuwider war, so haßte er alles, was ihr den Schein einer Wanderung zum Vergnügen hätte geben können. Er zog deshalb auf seiner Karte von Europa nach dem Lineal mit Bleistift einen Strich von Amsterdam nach Südosten, maß daran die Meilen, fand, daß ihre Zahl sich genau auf dem Gipfel des Helikon vollende, und war so, immer streng dem Striche nachreisend, und weder rechts noch links abweichend, allgemach auf den geheiligten Berg gekommen.
Hier tröstete ihn nun der Diener, nachdem er ihm Vorstehendes in einzelnen Bemerkungen erinnerlich gemacht hatte, um ihn durch den Gedanken an die Notwendigkeit der Reise und ihre strenge Konsequenz aufzurichten, mit dem Ausrufe: ›Mynheer, wir sind am Ziel, und morgen geht es nach unserem schönen Welgelegen zurück.‹
›Gottlob‹, sagte der Holländer, der sich bei dem Gedanken an sein Landhaus ein wenig erheitert fühlte, ›und ich will, wenn wir nach Hause gekommen sind, ein Lusthaus anbauen und das soll heißen: Vreugde en Rust. Und aus der Ruhe will ich nicht wieder gehen, möchte auch meine Wassersucht so überhand nehmen, daß alle Deiche von Seeland bedroht wären. Ich kenne gar nichts Wahnschaffneres, als diese griechischen Gegenden, in denen ein beschwerlicher Berg nach dem andern kommt, wo man keine Aussicht auf Kanäle und Wiesen hat, und der Himmel die unnatürliche blaue Farbe nicht los wird.‹
›Es kann nicht überall Altniederland sein‹, versetzte der Diener und stopfte sich eine kleine tönerne Pfeife; ›es muß auch solche nichtsnutzige Striche Landes geben.‹
›Wenn ich da mein Landhaus Welgelegen betrachte‹, fuhr Mynheer van Streef fort, der jetzt etwas gesprächiger wurde, obgleich sein Gesicht so verdrießlich blieb, wie früher, ›was für eine andere Gegend ist das! Nebenan liegt Mynheer de Jonghes Schoone Zicht und auf der andern Seite Mynheer van Tolls Vrouw Elizabeth, und mitten inne liegt Welgelegen. Ich will nun gar nicht reden von meinen innerlichen Schönheiten und bequemen Dingen, von der Menagerie, von meinem mit bunten Steinen gepflasterten Hofe, vom Muschelhäuschen, von der Voliere, von den Goldfasanen und den Mistbeeten voll Hyazinthen, die hier elend wild wachsen – aber Sebulon, denke nur an die schöne Aussicht auf den Kanal, über den alle Tage die sechs braun angestrichenen Treckschuiten von den Jägerchen gezogen werden und auf die unabsehliche Wiese dahinter, in der dann doch auch nicht eine einzige Erhabenheit, so groß wie ein Maulwurfshügel ist, und den Hintergrund von zwölf Windmühlen im Gange! Und dann sieht man das nicht alle Tage, nein, einen um den andern Tag nebelt oder regnet es, so daß die Entbehrung das Glück, um sich blicken zu können, erhöht, und der Himmel bleibt immer, auch wenn es helles Wetter ist, bescheiden, mäßig und grau. Wie wird dir denn, Sebulon, wenn du an alles das denkst?‹
›Abscheulich wird mir zumute‹, rief Sebulon und warf zornig seine Pfeife an den Boden, daß sie zerbrach. ›Hole der böse Feind diese verdammten griechischen Wüsten!‹
›Ereifre dich nicht, Sebulon‹, sagte der Herr schläfrig, mit verdrossenem Mundhängen. ›Ein Holländer ereifert sich nicht, oder er prügelt wenigstens jemanden dabei, auf daß der Eifer einen Nutzen habe. Mache mir jetzt Tee, das Wasser dort scheint noch so ziemlich klar zu sein, wie es in diesem vermaledeiten Lande sein kann, denn freilich, Wasser von Utrecht ist es nicht. Ich will unterdessen in der ›Elektra‹ unseres großen Vondel lesen.‹ Er nahm ein Buch aus der Tasche, schlug es auf, und las halblaut mit sonderbarem Pathos die Anfangsverse der Vondelschen ›Elektra‹:
›O zoon van Atreus zoon, die't opperste gezagh, In't Grieksche Leeger had, toen hy voor Troje lagh, Nu zietge zelf het gee, daer staegh uw hart naer haeckte. Dit's Argos, d'oude Stad, daer uw gemoed om blaeckte. Dit's't woud van Jö zelf, dat dolgeprickelt dier. Het wolfsveld van Apol, den wolvenschrick, is hier, En dees vermaerde Kerck, die Argos Juno wydde, Rijst ginder hemelhoogh, aen uwe rechte zijde...‹ |
›Ja, ja‹, unterbrach sich Mynheer van Streef, ›das ist denn freilich etwas griechischer, als diese helikonische Knüppeldammwirtschaft.‹ Er summte sacht in seinem Vondel weiter.
Sebulon hatte unterdessen die Reiseteemaschine, welche sein Herr überall mit hinnahm, aus dem Mantelsacke hervorgeholt, Feuer angezündet, Wasser aus der Hippokrene geschöpft, es gekocht und grünen Tee aufgeschüttet. Als das unentbehrliche Getränk bereitet war, reichte er seinem Herrn eine Tasse.
Mynheer van Streef führte sie so langsam und mürrisch zum Munde, wie er in allen seinen Bewegungen bisher gewesen war. Er kostete und kostete, die schlaffen Lippen zogen sich ein wenig zusammen, dann schluckte er bedächtig den Inhalt der Tasse hinunter, und sagte: ›Sebulon noch eine.‹ – Sebulon sah seinen Herrn bedenklich an und schüttelte den Kopf. Die zweite Tasse trank Mynheer van Streef, ohne zu kosten, aus. Seine Augen bekamen während des Trinkens eine Art von Glanz und er sagte: ›Sebulon noch eine.‹ – Sebulon reichte ihm zitternd und eine große Unruhe in seinen Zügen die dritte Tasse. Diese stürzte Mynheer van Streef beinahe hastig hinunter und darauf sah er fast gen Himmel.
›Ach, Mynheer!‹ rief der Diener besorgt, ›was ist Euch widerfahren? Sonst braucht Ihr ja auf drei Tassen Tee drei Viertelstunden, und hier geht es wie mit Extrapost in den Magen.‹
Der alte Holländer sah sehr nachdenklich aus und sagte endlich nach langem Schweigen: ›Sebulon, dieser Tee hier schmeckt mir besser als der auf meinem Landhause Welgelegen eine Stunde von Amsterdam.‹
Da raufte der treue Diener sein Haar, weinte und schrie: ›O wehe mir, wehe! Mynheer van Streef ist auf diesem nichtswürdigen Berge toll geworden; sein Tee schmeckt ihm dahaußen besser als daheim; er lobt die Fremde auf Kosten von Altniederland, er ist abgefallen von Oranjeboven und Altniederland.‹
›Sebulon erhitze dich nicht‹, sagte der Herr gleichmütig und freundlich. ›Ich habe meinen Verstand nicht verloren. Weißt du, was Schwärmerei bedeutet? Es ist der Zustand, worin sich der Hanswurst von Franzosen, und der Bull von Engländer oft befindet, und der deutsche Muff fast immer, Altniederland aber niemals. Die Sache sollte aber zur Probe auch einmal an uns kommen, denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Ich liefere die Probe. Ich schwärme, Sebulon, das ist das Ganze. In dem Tee muß etwas sein; ich bin von dem Tee ein Schwärmer geworden, denn ich muß es noch einmal sagen; er schmeckt wahrhaftig besser, als der auf meinem Landgute Welgelegen. Es wird aber schon wieder vergehen.‹
Nur mit Mühe gelang es dem schwärmerischen Holländer, seinen Diener zu beruhigen. Am meisten wirkte dazu die Versicherung, daß aller Wahrscheinlichkeit nach dieser exaltierte Zustand eine rettende Krise seines Übels sei, daß die Wassersucht durch die Schwärmerei eine Stopfung erhalten habe. Der alte Schwärmer stand auf und schickte sich zum Rückwege an, Sebulon packte das Teegerät zusammen. Mynheer van Streef sah sich um und sagte: ›Ich möchte wohl ein Angedenken an diesen ziemlich erträglichen Platz und an die schöne Stunde, in welcher mir der Tee so wohl schmeckte, mitnehmen, ein Erinnerungszeichen an die hiesige Schwärmerei.‹ – ›Was sollen wir mitnehmen?‹ versetzte Sebulon noch immer ziemlich kleinlaut, ›wir können doch nicht die Boompges‹ (er meinte die Lorbeeren) ›oder die großen Klinker‹ (er meinte die Klippen) ›einpacken.‹ – In diesem Augenblicke sah er mich, der ich hinter einem Felsen den schwärmerischen Auftritt belauscht hatte, zog mich hervor und rief: ›Was für eine Kreatur ist das?‹ Der schwärmerische Holländer besah mich, und sagte dann langsam: ›Wirf dem Vieh einen Strick um den Hals, Sebulon. Das will ich mitnehmen als Angedenken an diese schöne Stunde. Es scheint zu einer unbekannten Tierart zu gehören; Mynheer de Jonghe, der in Batavia gewesen ist, soll mir sagen, ob sie auch auf Java vorkommt.‹
Was sollte ich machen? Ein Entrinnen war nicht möglich, auch muß ich bekennen, daß die Reste der Menschheit in mir einige Freude darüber empfanden, wieder unter ihresgleichen zu kommen; obgleich eine geheime düstere Ahnung mir zuflüsterte, daß die Schwärmerei des Holländers mir drückend werden könne. – Ich ließ mir das Fangseil geduldig um den Hals schlingen und verließ mit meinem neuen Herrn, der sacht voranritt, und Sebulon, der mich am Stricke hinter sich her führte, den Berg, auf welchem mir so vieles begegnet war. Vor unserem Abmarsche hatte Sebulon die Kantinen, die zu beiden Seiten des Pferdes hingen, mit Wasser der Hippokrene füllen müssen zu einem nochmaligen Tee auf dem Landhause Welgelegen.
Am Fuße des Berges war Mynheer van Streef schon wieder eben so verdrießlich, wie vorher, und diese Stimmung blieb ihm auch während der ganzen Reise. Wir setzten dieselbe, nachdem wir in ebnere Gegenden gekommen waren, zu Wagen fort, d. h. Herr und Diener saßen im Wagen, und ich lief neben her – Ihr mögt mir es glauben oder nicht, es liegt mir nichts daran, aber wahr muß wahr bleiben – ich habe die paar hundert Meilen zu Fuß zurückgelegt, ausgenommen eine kurze Strecke des adriatischen Meeres, die wir auf einer sklawonischen Schebecke durchschnitten. Ja, neben holländischen Schwärmern läßt sich schon zu Fuß fortkommen!
Bald genug aber sehnte ich mich auf den Helikon zurück. Denn die Herrschaft von Altniederland ist die härteste, die es gibt. Ich wurde behandelt wie eine Kolonie, für mein Futter mußte ich selbst sorgen, auf der sklawonischen Schebecke bekam ich, Gott verdamme mich, nichts zu genießen als den Duft von Hyazinthenzwiebeln, die Mynheer van Streef gekauft hatte, und welche neben meinem Verschlage lagen. Dazu die Einseitigkeit einer Reise nach dem Bleistiftstrich! Denn nach diesem machte mein Herr auch seine Rückfahrt. Die meisten Merkwürdigkeiten der Örter lernt man oft nur zur Hälfte kennen. So z. B. habe ich in Frankfurt das Inkompetenzgebäude nicht zu sehen bekommen, weil unser Strich durch die Judengasse ging.
Nun, diese Unannehmlichkeiten hatten zuletzt auch ein Ende. Wir trafen in Amsterdam und eine Stunde später auf dem Landhause Welgelegen ein. Bei dem Anblicke des Kanals, der ebenen Wiese, der zwölf Windmühlen, endlich bei dem Anblicke seines stillen Hauses mit den herabgelassenen Fenstervorhängen, mit dem buntgepflasterten Hofe, mit der Voliere aus vergoldetem Draht und mit dem grünen, eingezäunten Flecke, auf welchem Gold- und Silberfasanen nebst anderem Getier spazierengingen, vergoß Mynheer van Streef zwei runde Tränen und sagte zu Sebulon: ›O Welgelegen!‹ weiter aber nichts. Sebulon schluchzte, beugte sich vor dem Tore zur Erde, gleichsam um sie zu küssen und versetzte: ›Welgelegen ist Welgelegen, Mynheer van Streef.‹ In der Pforte standen sechs nordholländische Mägde mit goldenen Blechen in den Haaren, alle weiß und rund und sauber gekleidet, daß sie glänzten. Sie machten einen Knicks, küßten ihrem Herrn die Hand und sagten: ›Viel Glück und Heil zur Rückkunft, Mynheer.‹ Ihren Kreis trennte ein kleiner Mann, roten Antlitzes, aber ganz weiß und ehrwürdig eingepudert, schüttelte dem Heimkehrenden die Hand und sprach: ›Ich habe davon erfahren, daß Ihr heute kommen würdet, da wollte ich gleich zusehen, ob die Kur angeschlagen habe.‹ – ›Doktor, ich schwärmte auf dem Helikon, danach wurde mir besser, und ich bin völlig hergestellt‹, versetzte der Patient. Der Doktor hatte ihn inzwischen prüfend beschaut und erwiderte kaltblütig: ›Nein, Mynheer van Streef, Ihr seid noch ebenso krank, als da Ihr abreistet, Ihr müßt deshalb von neuem auf Reisen gehen, sonst sterbt Ihr dann und dann.‹ Er nannte den Todestag.
Hier aber sah und hörte ich, wenn ich früher holländische Schwärmerei kennengelernt hatte, was holländische Wut heißen wolle. Denn das Gesicht von Mynheer van Streef wurde graubraun, die Stirnadern schwollen an, daß sie Baumwurzeln glichen, und er goß über den Doktor eine solche Flut von Scheltreden aus, daß ich über den Reichtum der Landessprache in derartigen Wendungen erstaunen mußte. Der Doktor seinerseits fühlte auch in sich eine niederländische Begeisterung erwachen und schimpfte den Patienten aus, Sebulon schimpfte auf den Doktor, die erste Nordholländerin schimpfte auf Sebulon, daß er sich in den Streit der Herren mische, die zweite auf die erste, daß sie auf Sebulon schimpfe, die dritte auf die zweite, daß sie auf die erste schimpfe, die vierte auf die dritte, daß sie auf die zweite schimpfe, die fünfte auf Sebulon, die erste, zweite, dritte und vierte insgesamt, die sechste schimpfte auf niemand insbesondere, sondern im allgemeinen. Es erinnerte mich dieses verwickelte Schimpfgemälde durchaus an den gegenwärtigen Zustand der deutschen Tagesliteratur.
Auf so laute und stürmische Weise ging der Empfang des schwärmerischen Holländers in der Hofespforte seines stillen Landhauses vor sich. Die Goldfasanen, die Silberfasanen und einige indianische Raben der Voliere schrieen in das allgemeine Geschrei auch hinein, und Gott weiß, ob nicht noch Tätlichkeiten das Fest gekrönt haben würden, wenn nicht plötzlich in der Entfernung das reitende Jägerchen, und hinter ihm am Seile vom Pferde gezogen, das braune Nationalfahrzeug sichtbar geworden wäre. Bei diesem Anblicke ebneten sich die zornigen Wellen, aller Antlitz begann friedlich und freundlich zu leuchten, und wie aus einem Munde riefen Doktor, Patient, Sebulon und sechs Nordholländerinnen: ›Die fünfte Schuite!‹ – ›Kommt aber heute zwei Minuten zu spät‹, setzte Mynheer van Streef hinzu, indem er auf seine Uhr sah. – Er ging freundlich in sein Landhaus; der Doktor bestieg besänftiget die Schuite nach Amsterdam.