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Der alte Baron und Emerentia begegneten einander draußen in der Gegend zwischen dem Schlosse und dem Platze, wo die Luftsteinfabrik stehen sollte. Der Vater sah verdrießlich und zerstört, die Tochter kalt und stolz aus. – »Ich fürchte Renzel«, sagte der Alte, »wir haben einen Phantasten im Quartier. Noch hängt meine Hoffnung an einem dünnen Faden, Gott gebe, daß der nicht reißt!« – »Meine Hoffnung ist bei den Toten«, versetzte das Fräulein erhaben. »Edle Seelen werden leicht betrogen, ich schäme mich nicht, daß mich ein dürftiger Witzling täuschen konnte. Die Schuppen fallen mir von den Augen, nur Gemeines sehe ich noch, wo ich sonst gutmütig bewunderte.« – »Ich verachte ihn auch bereits recht herzlich«, sagte der alte Baron, »es ist nur der Punkt hier in Erwägung zu ziehen, daß auch solche Haselanten im Besitze wichtiger Fabrikgeheimnisse sein können, und wenn denn das doch der Fall wäre und man hätte ihn, ohne die Sache zu erfahren, aus dem Hause getrieben, so wäre es außerordentlich schlimm.
Wir wollen ihm daher unsere Gesinnungen fühlbar machen, Renzel, aber so, daß ihm noch eine Hintertüre offenbleibt, damit womöglich seine Ambition erweckt wird, und mir das Syndikat nicht entgeht. Nur wenn alle Aussicht verschwindet, wollen wir ihm sagen, daß er sich packen könne.«
Nach diesem Tage gaben der alte Baron und das Fräulein dem Freiherrn ihre Gesinnungen zu erkennen, d. h. sie behandelten ihn schlecht. Münchhausen, welcher fühlte, wie sehr er durch seine politischen Fehler sich die Stellung im Schlosse Schnick-Schnack-Schnurr verdorben habe, machte verzweifelte Anstrengungen sie herzustellen und ließ das glänzendste Brillantfeuer seines Witzes in tausend Einfällen, wunderbaren Capriccios und Mären spielen. Das Fräulein aber zeigte sich um so gelangweilter, je brillanter Münchhausen wurde. Sie wandte ihm bei den Colloquiis im Garten den Rücken, fiel ihm häufig mit einer Bemerkung über schlechtes Wetter in die Rede, oder sagte, wenn sie ihn hatte aussprechen lassen, weiter nichts, als: »Späße für den Volkskalender.« – Ihr Verhalten drückte unbedingte Geringschätzung aus. Der Schloßherr knüpfte dagegen die seinige noch an Bedingungen. Die Summe seiner Reden ging dahin, daß er an den Erzählungen des Gastes, ehe und bevor die Fabrikangelegenheit in Ordnung gebracht sei, wenig Geschmack zu finden vermöge. Zuweilen hörten beide Schloßbewohner gar nicht zu, sondern sprachen miteinander von Wirtschaftsangelegenheiten, während der Freiherr die buntesten Wunder vortrug.
So gingen mehrere Tage hin. Die Situation war für den Helden immer peinlicher geworden. Doch die Kräfte seines Geistes waren unerschöpflich und gerade in Verlegenheiten entfaltete sich erst deren ganzer Reichtum. Eines Abends, wo das Fräulein auf ihrem Zimmer an ihrem Tagebuche schrieb, der alte Baron und er aber stumm lange Zeit nebeneinander im Versammlungsgemache auf und nieder gegangen waren; brauchte er die Rührung als großes, heroisches Mittel. Er fing nämlich plötzlich an heftig zu schluchzen, und da der alte Baron sich erstaunt umwandte, so stellte er sich mit den strömenden doppelfarbigen Augen vor seinen Wirt, nahm dessen beide Hände, sah ihm bewegt in das Antlitz und rief mit einer von Weinen gehemmten Stimme: »Könnt Ihr es über das Herz bringen, du und deine göttliche Tochter, Euren Freund so zu mißhandeln, wie Ihr tut? Nennen wir uns nicht du? Bin ich nicht dein Bruder in des Worts verwegenster Bedeutung?«
»Eben darum, weil wir uns du nennen, muß Offenheit herrschen«, versetzte trocken und ungerührt der alte Schloßherr. »Ich merke schon, was diese Krokodilstränen bezwecken sollen. Du bist ein Krokodil – ein Chamäleon will ich sagen. Ich lasse mich nicht länger foppen, nicht länger lasse ich mich an der Nase herumführen. Von deinen Ziegen und deinen Holländern und deinen Poltergeistern habe ich den Pfifferling gehabt. Darum ein Wort für tausend: Kannst du Luft versteinern?«
»Bruder, sei nicht so hart – –«
»Hart bin ich, hart will ich sein, steinhart wie Luftstein. Wisch dir die Tränen von der Nase, sie erweichen mich nicht. Du hast mir den Geheimen Rat verleidet und die tröstlichen Gedanken an das höchste Gericht durch dein Luftprojekt, du Luftspringer! Die Ruhe meines Alters hast du vergiftet. Nun sind zwei Fälle möglich. Entweder kannst du Luft versteinern oder du hast mir's vorgelogen. Im ersten Falle soll dir alles vergeben sein, ich werde Syndikus, kriege für sechstausend Taler Fabrikat jährlich und damit basta. Hast du mir's aber vorgelogen, so wollte ich dich ersuchen, dich an deine vielfachen anderweitigen Verbindungen in der Welt zu erinnern, die sich gewiß schon lange nach dir sehnen und dir es übelnehmen würden, wenn du länger dein Pfund in diesem abgelegenen Schlosse vergraben wolltest. – Hierüber sehe ich morgen deiner bestimmten Erklärung ohne alle Einkleidungen, Geschichten und Carmina entgegen.«
Mit diesen unzweideutigen Worten trennte sich der Wirt von seinem Gaste. Letzterer blieb im Zimmer stehen, legte die Hand an seine Stirn und sagte nach tiefem Besinnen: »Behaupten muß ich mich noch eine Zeitlang hier, es geht nicht ohne dieses. Ich muß ihn erwarten hier, ihn, meinen Freund, meinen Kurator. Kann ich mich nicht durch Worte und Tränen halten, so muß ich es durch den Zustand des Epimenides versuchen.« – Er ging auf sein Zimmer und legte sich augenblicklich nieder.
Am folgenden Vormittage um eilf Uhr fragte der alte Baron Karl Buttervogeln, der von des Freiherrn Gemache herabkam: »Ist sein Herr noch nicht aufgestanden?« »Nein«, versetzte Karl, »er schnarcht, daß es nur so eine Art hat, wenn das so fortgeht, kann es lange dauern.« – Der Schloßherr stellte sich vor das Zimmer seines Gastes und hörte wirklich ein ungemein kräftiges Schnarrwerk dadrinnen.
Um ein Uhr bei Tische, wo sich nur Vater und Tochter zusammenfanden, warf Emerentia nachlässig die Worte hin: »Dieser Mensch scheint uns heute zu verschmähen.« – Karl wurde berufen, hinaufgesandt und brachte den Bescheid, der gnädige Herr habe sich eben so weit ermuntert, um allenfalls etwas Suppe und Gemüse zu sich nehmen zu können, wenn man die Güte haben wollte, ihm davon zu senden. – Emerentia gab dem Bedienten das Verlangte, der alte Baron ließ hinaufbestellen, er bitte, daß der Freiherr aufstehe. Nach einiger Zeit kam Karl mit den leeren Tellern zurück und sagte: »Mit dem letzten Bissen im Munde wieder auf die linke Seite gefallen und weitergeschnarcht.« – »Zum Henker, was bedeutet das?« rief der Schloßherr. – Um vier Uhr nachmittags ging er, da kein Münchhausen sichtbar wurde, selbst hinauf. Münchhausen schlief. Der alte Baron rief ihn an, rüttelte ihn, schüttelte ihn, Münchhausen richtete sich etwas auf, sah ihn schlaftrunken an, lallte mit schwerer Zunge: »Warum weckst du mich?« und fiel auf den Rücken. Um sechs Uhr, um acht Uhr abends hatten gleiche Weckversuche die gleichen Erfolge, oder vielmehr Nichterfolge. Münchhausen schlief.
Der erste Tag war sonach verschlafen. Am andern nahm der alte Baron allerhand lärmende Geschäfte vor, er brachte z. B. schweres Gerät und Möbelwerk von der Gerichtsstube herab und hatte dessen kein sonderlich Arg, wenn ein Stück donnernd gegen Münchhausens Stubentüre flog. »Denn«, brummte er ingrimmig, »ich will diesen verruchten Kerl denn doch wohl wach kriegen!« Alles vergebens. Münchhausen schlief auch den zweiten Tag hindurch mit Ausnahme kurzer Eßpausen. Karl Buttervogel berichtete, sein Herr sei zwar aufgestanden und habe sich angekleidet, aber immer mit halbgeschlossenen Augen und mit Gähnen. Sobald er das letzte Stück angezogen gehabt, sei er wieder in einen Stuhl gesunken und sitzend eingeschlafen.
Am dritten Tage schnarchte Münchhausen stärker, als je zuvor. Der alte Baron, der die ganze Nacht schlummerlos zugebracht hatte, saß bekümmert auf der Gerichtsstube. Emerentia sang unten im Hause auf Befehl ihres Vaters. Denn dieser meinte, was sein Rütteln und Rumoren nicht zuwege gebracht, werde der helle und durchdringende Gesang der Tochter bewirken. Als sie ihre besten Gänge und Kadenzen von sich gegeben hatte und eine Pause entstand, stellte sich der Schloßherr an die Söllertreppe und rief hinunter: »Karl!« – Karl Buttervogel trat aus des Freiherrn Dormitorium. »Ist er wach?« fragte der alte Baron. – »Ich hab' mir die Ohren zugehalten, denn ich bin kitzlich gegen Musik«, versetzte der Bediente, »mein gnädiger Herr aber legten sich auf die andere Seite und lächelten im Schlaf, wie ein Engel. Jetzt eben verlangen Sie mit zugemachten Augen Waschwasser, werden also wohl aufstehen wollen, um sich dann zum Schlummer niederzusetzen. Glauben mir der Herr Baron, Sie treiben es mit meinem Herrn nicht durch, was der sich vornimmt, das führt er aus, wachend oder schlafend.«
Zornig lief der alte Baron in die Gerichtsstube zurück, rannte mit großen Schritten auf ihr hin und her, stieß an den Tisch, daß ein Teil der aufgestellten juristischen Handbibliothek herabfiel und polterte: »Da habe ich mir einen schönen Störenfried und eine wackere Rute Gottes in das Haus geladen! Das ist nun der Gipfel des Unglücks! Ich sehe es kommen! Ich sehe es kommen! Dieser Mensch schläft uns allen Schlaf weg in und um Schnick-Schnack-Schnurr! Wie ein starker Fresser eine ganze Wirtschaft auszehren kann, so wird uns der Schnarcher an Schlummer bankerott machen. Schon tue ich die Nacht kein Auge zu. – Der Henker hole die Stunde, in welcher der Sünder in unsere Mitte geschleudert wurde!«
Er stieg die Treppe hinab und fand unten auf dem Vorsaale Emerentien, welche wieder beginnen wollte zu singen. – »Laß nur das Geplärr!« fuhr sie der Vater an, »Sankt Ursel mit den eilftausend Jungfrauen sänge den nicht auf.« – »Verachten wir ihn, mein Vater«, erwiderte Emerentia, »und lassen wir ihn sich der Vergessenheit entgegenschlummern!« – »Ich kann doch den Schlummerbalg nicht immer im Hause behalten und ihn unnütz füttern!« fuhr der alte Baron auf.
»Wenn er nur wenigstens die Eßstunden auch verschlummerte! Aber zum Frühstück, Mittags- und Nachtmahl ist er regelmäßig wach! Folglich darf ich ihn nicht verachten. Verachten kann man nur den, der einen nicht inkommodiert. Und Münchhausen ist mir jetzt zur größten Beschwer und ich würde den für meinen besten Freund halten, der mir diesen Gast vom Halse schaffte.«
Er ging in das Zimmer des Freiherrn. Dieser saß auf seinem Stuhle und das Haupt hing ihm auf die Brust hinab. Er schlief fest und tief. Der alte Baron nahm eine Feder, setzte sich vor ihn, kitzelte ihn mit der Feder um den Mund und rief: »Münchhausen, wach auf!«
Einer kitzelnden Feder mußte selbst der beharrliche Schlummer des Freiherrn weichen. Er kratzte sich an der gekitzelten Stelle, riß die Augen weit auf, sah seinen Wirt wüst an und fragte dann matt und verdrossen: »Was willst du, Schnuck? Warum lässest du mich nicht in Ruhe?«
»Ich wünschte von dir zu erfahren, wie lange du hier noch zu schlafen gedenkst?« sagte der alte Baron sehr ernst.
»Ich wünschte, daß du mich lieber fragtest, woher dieser chronische Schlummer rührt?« versetzte in gedehntem Tone der Freiherr.
»Ich wünschte allerdings, daß du auch darüber mir eine Aufklärung geben möchtest«, sprach der alte Baron.
»Ich wünschte, daß du dich an meine Jugendbildungsgeschichte erinnertest, die ich dir einst vortrug«, versetzte der Freiherr, schon wieder lallend und nur noch das braune Auge offenhaltend; denn das blaue war ihm bereits von neuem zugefallen. – »Habe ich dir nicht erzählt, daß mein sogenannter Vater mich in so vielen Sprachen und Wissenschaften unterrichtete, daß an gewöhnlichen, ausreichenden Schlummer damals nicht zu denken war? Es blieb also in meiner Jugend aller Schlaf, welchen andere Menschen zu der Zeit abmachen und entwickeln, in mir unabgemacht und unentwickelt stecken. Dieser versetzte und zurückgehaltene Schlaf bricht nun jetzt in meinen Mannesjahren aus, er entfaltet sich unaufhaltsam und wird nicht eher zu Ende sein, als bis ich nachgeholt habe, was ich in der Jugend versäumte. Dieses ist die natürliche Erklärung meines gegenwärtigen Zustandes, über den mich ein Traum inspirierte.«
»Wohl. Wer mit dir verkehrt, muß sich immer auf Wunderdinge gefaßt halten. Kalt will ich also bei dieser inspirierten Ankündigung bleiben, ganz kalt, und dich nur in aller Seelenruhe fragen: Wie lange dauerte jener anstrengende Jugendunterricht, und wie viel weniger als andere Menschen schliefest du während desselben?«
»Drei Jahre. Mäßig angeschlagen, büßte ich Nacht für Nacht sechs Stunden Schlummer ein«, erwiderte der Freiherr kaum hörbar und träumerisch das Haupt hin und her wiegend.
Der alte Baron schob seinen Stuhl an den Tisch, nahm ein Stück Kreide, welches dort lag und rechnete auf dem Tische. Nachdem er den Strich unter den Zahlen gezogen hatte, sagte er: »Vorausgesetzt, daß unter jenen drei Jahren kein Schaltjahr war, so hast du während derselben sechstausendfünfhundertundsiebenzig Stunden Schlafdefizit gehabt, und würdest folglich neun Monate, drei Tage und achtzehn Stunden jetzt bei mir nachschlummern müssen. Wie?«
Er wendete sich um, da er keine Antwort bekam und sah, daß der chronische Zustand seines Gastes schon wieder eingetreten war. – Stolz erhob er sich und rief: »Keine Rücksicht der Gastfreundschaft und Höflichkeit kann mich verpflichten, einen Menschen neun Monate, drei Tage und achtzehn Stunden bei mir schlafen zu lassen. Ich habe an dir gehandelt, wie ein Kavalier sich gegen den anderen benehmen soll, die Geduld ist aber nun erschöpft, und – höre es, oder höre es nicht – ich kündige dir hiemit Krieg und Fehde an. Darunter verstehe ich, daß ich dich aus dem Schlosse zu bringen wissen werde, in dem du nichts als Unheil und Verwirrung gestiftet hast.«