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Der alte Baron wird Mitglied eines Journal-Lesezirkels
In ihm war, als Jagd, Spiel und Gastereien für ihn aufgehört hatten, und nur die Schwalben oder Fledermäuse, welche durch die Mauerlücken schlüpften, in den unbewohnten Zimmern des sogenannten Schlosses zu nisten, allenfalls noch für Besuche gelten konnten, eine große Langeweile entstanden, die anfangs auf keine Weise sich beschwichtigen lassen wollte. Zwar malte er sich zur Unterhaltung seine Erwartung bestens aus, wie er bald als Geheimer Rat im höchsten Collegio sitzen werde, neben sich den Herrn von so und so und den Herrn von da und da auf der Adelsbank, er stellte sich den Präsidenten lebhaft vor, und alle Besonderheiten des altertümlichen Konferenzsaals, er entwarf das Bild des Sessionstisches mit den großen Haufen von Schriften und Papieren darauf, die er mit seinen Herrn Nachbarn nicht zu lesen habe, sondern welche von gelehrten und bürgerlichen Beisitzern durchzustudieren seien; aber als dieses Gemälde von ihm zum hundertsten und aber hundertsten Male im stillen vollendet und seinen zwei Angehörigen beschrieben worden war, wurde es ihm doch zu eintönig, und er sehnte sich nach anderer Beschäftigung. Diese versuchte ihm nun seine Tochter Emerentia zu gewähren, indem sie ihrerseits eine Schilderung zu liefern begann, wie Fürst Hechelkram, pseudonym Rucciopuccio geheißen, plötzlich eines Tages in einem rotlackierten Wagen mit sechs Isabellen bespannt, ankommen, einen schottischkarierten Läufer mit Blumenhut und seidenem goldbefranztem Schurz hereinschicken und anfragen lassen werde, ob Marcebille oder Emerentia, nach der er so lange das ganze Schnurrenburg-Mixpickelsche Geschlecht vergebens hindurch gefragt habe, bis er endlich zufällig erfahren, sie sei eine geborne Schnuck-Puckelig – ob sie, Emerentia, noch an die Stunde denke, die Stunde der Andacht in Nizza? Wie sie sich für diesen Fall schon ihre Antwort ausgedacht, also lautend: »Gnädigster Herr! In den Blütentagen der Jugend opferten wir der Leidenschaft auf dem Altare unserer Herzen! Für dieses Opfer ist uns der Weihrauch ausgegangen. Aber der Altar blieb stehen; lassen Sie uns auf demselben der Freundschaft ein Opfer entzünden, für welches ich ewig, Ihnen gegenüber, Vorrat besitzen werde!« – Wie sie dann, mit dem großen goldenen Stiftskreuze begnadiget, ein Schloß in der Nähe seiner Residenz beziehen, nur seine Freundin im reinsten platonischen Sinne sein, ihn nie anders als vor Zeugen sprechen, ihn mit seiner Gemahlin versöhnen, überhaupt der segnende Genius des Fürstenhauses und des Landes werden wolle.
Allein den alten Baron unterhielt diese Schilderung auch nicht; er hielt sie für ein »Carmen« wie er sich ausdrückte, und womit er Gedicht sagen wollte. Von Gedichten war er aber nie ein sonderlicher Liebhaber gewesen. Endlich fiel er auf den Gedanken, zu lesen, da er gehört hatte, daß damit so viele Menschen ihre Zeit hinbrächten. Indessen wollten auch die Bücher, deren eine kleine Sammlung von seinem Vater her noch auf dem Speicher stand, und unter denen er auf gut Glück jetzt wählte, wenig Trost gewähren. Die Sachen wurden ihm darin alle zu lang und ausgesponnen abgehandelt; der Autor sagte oft erst auf der vierundzwanzigsten Seite, was er mit der ersten gemeint hatte, pflegte überhaupt die Forderung an den Leser zu stellen, daß er seine Gedanken zusammenhalten solle, und dazu konnte sich der alte Baron in seinen vorgerückten Jahren nicht mehr bequemen. Er wollte Abwechselung, Zerstreuung, mancherlei, wie vorlängst in seinen grünen und lustigen Tagen.
Alles dieses fand er auf einmal, da ihm der gute Einfall wurde, in einen Journalzirkel einzutreten, der alle Wißbegierige auf dem Flächenraume der umliegenden vier Quadratmeilen mit Geistesnahrung versorgte, und dessen Reichhaltigkeit ihm schon lange gepriesen worden war. Der Unternehmer hatte, um die Nebenbuhler in der erwähnten weiten Ausdehnung unrettbar daniederzuschlagen, nicht weniger als sämtliche Zeitschriften des deutschen Vaterlandes in seinen Mappen versammelt. Es fanden sich sonach darin nicht nur die Morgen- die Abend- die Nachmittags- und Mitternachtblätter, sondern auch die Boten für West, Ost, Süd, Nord, Nordwest und Südsüdost; der Gesellschafter und der Eremit; die groben und die eleganten Journale; die Lesefrüchte und die Extrakte aus den Lesefrüchten; die liberalen, die servilen, die rationalistischen, feudalistischen, supranaturalistischen, konstitutionellen, superstitionellen, dogmatischen, kritischen Organe; die Fabelwesen: Phönix, Minerva, Hesperus, Isis; das Ausland, das Inland; Europa, Asien, Afrika, Amerika und die Stimmen aus Hinterpommern; der Komet, der Planet, das Weltall – kurz, im ganzen vierundachtzig Hefte, so daß jeder Teilnehmer am Zirkel die Woche hindurch in jeder der zwölf Tagesstunden ein Journal zu lesen bekam.
Diese Unterhaltung war ganz nach dem Sinne des alten Barons. Endlich, rief er fröhlich aus, als er sich mit dem Umfange der ihm neu eröffneten Vorratskammern bekannt gemacht hatte, endlich doch Gedrucktes, welches einen belehrt, ohne zu beschweren! In der Tat gewannen seine Vorstellungen durch das Lesen der Journale bald eine außerordentliche Bereicherung. Hatte ihm das eine Blatt eine kurze Notiz von dem großen Giftbaume in Indien gegeben, der die Atmosphäre auf tausend Schritte hin ansteckt, so lehrte ihn das folgende, wie die Kartoffeln im Winter vor Frost zu bewahren seien; in dieser Minute las er von Friedrich dem Großen, in der nächsten von der Gräfenberger Wasserkur, aber nicht lange, denn gleich darnach erzählte einer die Geschichte der neuen Entdeckungen im Monde. Eine Viertelstunde war er in Europa, dann spazierte er wieder, wie von Fausts Mantel entrückt, unter Palmen; bald hatte er einen historischen Christus, bald einen mythischen, bald gar keinen; vormittags fiel er mit der äußersten Linken die Minister an, nachmittags war er absolutistisch gesinnt, abends wußte er nicht, wo ihm der Kopf stand, und ging als Juste-Milieu zu Bette, um nachts vom Taschenspieler Janchen von Amsterdam zu träumen.
Er hätte nie geglaubt, noch so glücklich werden zu können. Daß seine Umstände indessen immermehr sich verschlimmerten, und daß er endlich nur auf einen kleinen Lehnsstamm, der ihn eben vor dem äußersten Mangel schützte und unangreifbar war, beschränkt ward, kümmerte ihn wenig. Sagte ihm die blonde Lisbeth, das Haus bekomme nach der Giebelwand zu Risse, und könne über Nacht einmal einstürzen, so pflegte er zu erwidern: »Laß mich zufrieden. Ich habe noch sechs Hefte durchzustudieren.« Wurde sie dringender, so rief er ärgerlich: »Ehe das Schloß einstürzt, bin ich Geheimer Rat!« und sie mußte unverrichteter Sache weichen.
Freilich entstand durch das unendliche Material, welches er täglich zu verarbeiten hatte, in seinem Kopfe eine große Verwirrung der Vorstellungen, und er mußte zuweilen das Haupt in beide Hände nehmen, um sich zu besinnen, ob er noch in unserem, oder in einem fremden Weltteile, oder ob er überhaupt nur noch auf der Erde und nicht schon längst im Sirius sei? Auch begann er von jetzt an, alles zu glauben, was er hörte, und wenn man ihm gesagt hätte, die Vögel sängen nach Noten. Denn, pflegte er oft gegen die Seinigen zu äußern, es kann heutzutage nichts Dümmeres geben, als den Kopfschüttler und Zweifelmütigen zu machen; man muß nur Mitglied unsres Journal-Lesezirkels geworden sein, um zu erfahren, daß nichts so wunderbar ist, was nicht jetzo zerfällt; die Menschen und die Sachen und die Erfindungen sind in einem erschrecklichen Fortschritte, und wenn er noch zunimmt, so erleben wir, daß das Wasser Balken bekommt, und daß man mit Extrapost von hier direkt nach London fährt.
Konnte etwas seine Stimmung trüben, so war es der Mangel eines Freundes, dem er sich hätte erschließen, mit dem er seine Ideen hätte austauschen mögen. Die Sehnsucht nach einem Gleichgestimmten, nach einem fördernden Umgange wurde oft sehr groß in ihm. Seine Tochter konnte diesem Verlangen nicht genügen, sie hing nur ihren empfindsamen, ideellen Richtungen nach, und hegte für Realkenntnisse wenig Sinn; Lisbeth aber hatte ein für allemal, da er mit ihr von den Dingen, die ihn so mannigfach beschäftigten, reden wollen, ablehnend erwidert: Sie wolle sich nichts in den Kopf setzen lassen.