Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

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Siebentes Kapitel

Der Freiherr von Münchhausen wird auf den Boden dieser Geschichten geschleudert

Die blonde Lisbeth war in das Gebirge gegangen, Zinsenrückstände von den Bauern einzutreiben. Sie hatte dieselben zufällig in einem alten vergeßnen Rentenregister, welches unter anderem Gerüll in einer Polterkammer lag, verzeichnet gefunden. Ihr Pflegevater war ängstlich gewesen, das Kind so allein in das Gebirge ziehen zu lassen, sie aber hatte mutig geantwortet: »Wer wird mir etwas tun? Ich schaff' das Geld!« hatte sich an des Schulmeisters Eurotas einen Weidenstecken geschnitten, ein Reisetäschchen voll der nötigsten Wäsche umgehängt, Schnürstiefelchen angezogen, einen Strohhut verwegen auf das kecke Häuptlein gesetzt, und war so fürbaß gewandert.

Während ihrer Abwesenheit gingen die drei Zurückgelassenen, der Baron, das Fräulein und der Schulmeister eines Nachmittags in dem verwilderten französischen Garten spazieren. Sie verkehrten aber nicht miteinander, wie dies meistens bei solchen Gartenwanderungen zu geschehen pflegte, sondern hingen in verschiedenen Wegen und Stegen ihren eigenen Gedanken nach. Die Pfade um das Schloß her waren fast überall von Dornen versperrt, oder durch sumpfiges Erdreich feucht, der trockne Sand, welcher die Gartenstege noch immer einigermaßen bedeckte, verdiente daher ohne Zweifel den Vorzug, wenn man lustwandeln wollte. Damit aber diese gemeinsame Erholung einem jeden seine völlige Freiheit lasse, und der Stoff der Gespräche nicht zu verschwenderisch eingezehrt werde, hatte der alte Baron für die Gartenerholung Aufhebung des geselligen Verkehrs als Regel festgesetzt. Sollte eine Ausnahme eintreten, und Gespräch herrschen, so war von ihm ein untrüglich andeutendes Zeichen erfunden worden. Er schrieb nämlich an solchen Tagen einem Genius von Sandstein, der, den Finger auf dem Munde, vor einer kleinen düsteren Laube stand, und zu den noch am besten erhaltenen Kunstwerken des Gartens gehörte, mit Kreide das Wort: »Colloquium« auf die Brust; eines von den wenigen lateinischen Wörtern, deren er sich noch aus seinem Jugendunterricht erinnerte. So wie daher jemand von der täglichen Gesellschaft in den Garten trat, sah er nur nach der Brust des Genius, und schwieg oder redete, je nachdem die Meinung des Schloßherrn lautete, denn, in so großer Armut er sich befand, alle seine Umgebungen waren gewohnt, sich pünktlich nach seinen Wünschen zu richten.

Heute stand kein »Colloquium« auf der Brust des Genius angekreidet. Der alte Baron war schon seit einigen Wochen in einer trüben, sehnsüchtigen Stimmung, welche, gerade heute zu besonderer Verdüsterung erwachsen, ähnlichen Launen bei dem Schulmeister und Emerentien begegnete, so daß beide mit der ihnen auferlegten Trappistenregel an diesem Tage besonders zufrieden waren. Wie es wohl zu gehen pflegt; lange Zeit bleiben die eigentlichen Grundempfindungen eines Kreises von Tagestäuschungen überhüllt; endlich aber drängen sie sich doch wie Springfluten unwiderstehlich an die Oberfläche hervor.

Die Gefühle der drei lustwandelnden Personen brachen, da letztere weit genug voneinander gingen, um sich für unbelauschbar halten zu können, in Selbstgespräche aus. Der alte Baron schritt zwischen zwei Taxuswänden auf und nieder, welche ehemals auf ihrer oberen Fläche die zierlichste Abwechslung von Kreuzen, Pfeilern und Urnen dargeboten hatten, nun aber längst aus aller Schur gewichen waren, und nur noch unförmliche, mißgestaltete Klumpen grüner Blätter und Äste zeigten. Sein Schritt war heftig, sein Blick schwer. »Ja«, rief er aus, »wenn ich einen Mann hätte, der mich verstände, mit dem ich laut denken könnte, der Sinn für einen weiten Gesichtskreis besäße, dann ließe sich herrlich und in Freuden leben! Immer Neues, Wunderbares muß ich haben, die Journale genügen mir schon nicht mehr, sie fangen an, mir schal vorzukommen; Hypothesen begehre ich, eine gewaltiger als die andre, denn nur Hypothesen löschen den Wissensdurst, wenn er einmal entflammt worden ist. Was hilft es mir, daß ich heute von den Ungeheuern gelesen habe, die in jedem Wassertröpfchen leben, mit Kugelleibern, oder tausend Füßen, oder Rüsseln oder Sägezähnen? Bin ich danach klüger, als zuvor? Nein. Dümmer im Gegenteil. Wie entstehen sie? Was treiben sie? Was fressen sie? Wie begatten sie sich? Sind es Säugetiere, die lebendige Junge zur Welt bringen, oder eierlegende Fische? – O fände ich doch einen Mann, mit dem ich alles so recht durchsprechen könnte, der eine Erklärung auch für das Dunkelste gäbe, gleichviel welche! Der Schulmeister ist ein ehrlicher Kauz, aber doch im Grunde ein dummer Teufel mit seinen alten Spartaner-Flausen. Ich habe mir einen verrückten Menschen unterhaltender gedacht; der Agesel beginnt, mich zu langweilen.« –

Er trat verstimmt zu einem steinernen Schäfer, der an dem einen Ende der Taxuswände stand, und vor Zeiten Flöte geblasen hatte, nun aber nur noch vergeblich den Mund spitzte und die Arme in der gezwungenen musikalischen Haltung leer vor sich hinstreckte, weil die Flöte ihnen längst von der Zeit entführt worden war. Der alte Mann lehnte sich düster an den verstümmelten Schäfer; vor seinem geistigen Gesichte wälzten sich, schossen und kugelten riesige Infusionstiere umher, bis ihm die Gedanken in das Formlose zergingen.

Inzwischen umkreisete Fräulein Emerentia ein mit Muscheln eingefaßtes Becken, welches freilich schon seit geraumen Jahren so trocken lag, wie das Rote Meer, als die Israeliten hindurchgingen. Ein Delphin streckte in der Mitte dieses Beckens seine aufgestülpte Nase empor. Er hatte von Glück zu sagen, daß er aus Kupferblech bestand; ohne diese Konstitution hätte er in solcher Trocknis rettungslos verschmachten müssen. Auch ein Unbeschäftigter! Woher sollte der Wasserstrahl ihm zufließen, den er sonst aus den Nüstern in die Höhe gesendet hatte? – Das Fräulein umschritt, wie gesagt, das Becken, und sah bald auf dessen Grund, bald auf den Delphin, bald auf die bunten Kiesel, welche in Sternen, Rauten und Blumen eingelegt, den Platz um das Becken zierten, ohne daß sie von einem dieser Gegenstände Trost für ihre wehmütigen Empfindungen zugesprochen bekommen hätte. »Hartes Los«, flüsterte sie schwermutsvoll vor sich hin, »mit einem reichen Herzen, mit einem zarten Gemüte unter kalten, abstoßenden Naturen leben zu müssen! Wer versteht hier die heilige Sehnsucht, die mich so ganz nach Rucciopuccio erfüllt, dem Fürsten von Hechelkram im geheimen? Ich weiß, das Schicksal, welches unser Leben wendet, will still erwartet sein, und darum greift kein ungestümes Verlangen im Busen der Entwickelung der Tage vor, nein, geduldig harrt der gläubige Sinn des liebenden Weibes auf den seligen Augenblick, da der goldlackierte Wagen vor dem Schlosse halten und der Läufer mit Blumenhut und Schurz in die Türe springen wird, fragend nach Emerentien, die in den Stunden der Andacht zu Nizza Marcebille hieß. Aber eine feinfühlende zweite Seele, ein sympathetisches Gemüt wünschest du dir, und darfst du dir wünschen, arme Emerentia, die Qual des Harrens zu lindern! Nun, wie steht es um die Befriedigung dieses Verlangens hier? Welche Personen umgeben dich? Wirst du in deinen Seufzern von irgend jemandem, mit dem dich dein Los verbunden hat, begriffen? Der gute Vater ist gut, sehr gut, aber lacht er nicht, wenn du ihm die Geheimnisse deiner Brust leise und schamhaft enthüllst? O wie verderblich ist die einseitige Verstandeskultur, welche der Mensch von Journalen empfängt! Wie höhlt sie das Herz aus! Und jener spartanische Pöbelnarr – – nein, denke ihn nicht zu Ende, diesen Narren, dessen zynische Reden schon in der Erinnerung meine keusche Seele aus tausend Wunden bluten machen. O komm, Mensch, fühlender Mitmensch, den ich nicht kenne, aber gestaltet vor den Augen meines Geistes sehe, der du mich verstehen wirst ohne Wort, wie der heilige Mond, wenn ich zu ihm aufblicke, dem das Unaussprechliche in mir klar sein wird, wie ein Spruch der Einfalt, komm, Tröster, Paraklet, mir meine süßen Ahnungen auszudeuten, und mich in dem zu begreifen, worin ich mich selbst nicht fasse!« – Nach dieser Rede, die Emerentien gewiß jeder Leserin von Gemüt teuer macht, setzte sie sich dem Delphin gegenüber auf einen unförmlichen Rasenhügel, der ehemals eine Bergère gewesen war, und fuhr fort, herzbrechende Seufzer auszustoßen.

Auch der Schulmeister war nicht glücklich. Er kauerte auf seinem Gebirge Taygetus, oder Schneckenberge, vor einem Feuer, welches der Wind hin und her wehte, und kochte schwarze Suppe. Denn es hatte zum Mittagsessen auf dem Schlosse Spinat gegeben, das einzige Gericht, welches er, sonst nicht auf Leckerei gestellt, zu genießen unvermögend war, weil er behauptete, es schmecke nach Rauchtabak. Während seiner Beschäftigung polterte und brummte er folgende Reden heraus: »Schlimm! Schlimm, beim Kuckuck, wenn man mit Ignoranten zu tun hat! Das Fräulein ist eine Mondscheinprinzessin, und der alte Baron, dem übrigens Gott seine Güte an mir vergelten mag, ein Confusionarius! Ich kriege es nicht heraus! Bis nach Böhmen kann ich die Spuren meiner Vorfahren verfolgen, als sie sich vor den Türken flüchteten, aber weiter geht's nicht, von da bis hieher Nacht, Finsternis, unwegsame Wüste! Mein Ältervater war aus Buxtehude, also haben die Spartaner einen Haken bis zur Nordsee geschlagen. Wie reim' ich nun diesen Haken mit der Niederlassung der übrigen Ageselschen oder vielmehr Agesilaus'schen Familie in hiesigen Landen zusammen? Und doch, da die Sache ihre Richtigkeit hat, so muß sie sich auch beweisen lassen. O, ein Gelahrter, ein Forscher, der mir hülfe, die Vermutungen zusammenstellte, und selbst Vermutungen hätte, wo mir alle Vermutungen ausgehn; o, ein solcher Mann fehlt mir allzusehr!« – Er rührte heftig in der schwarzen Suppe und seine Reden gingen in einzelne abgebrochne Ausrufungen über, die von dem Verdrusse seiner Seele zeugten.


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