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Problem des Zuzweitseins
Wir reisten in langen Etappen, mit vielen Aufenthalten, vom tirolischen Gebirge bis nach Sizilien. Wir waren sehr glücklich.
Ich hatte noch nie mit einem Menschen länger als drei Tage im selben Baum gehaust, weder mit einem Kameraden noch mit einer Frau. Gut, daß ich an räumliche Beschränkung gewöhnt war und mich an keiner Enge stieß. Wir waren übereingekommen, unser Wanderleben auf das bescheidenste einzurichten. Ganna fand es wundervoll, einen Mann zu haben, der sein Geschäft im Kopf trug und seine praktischen Angelegenheiten auf jedem Wirtshaustisch in zehn Minuten erledigen konnte.
Die neue Sorglosigkeit war wie ein Traum. Doch trat sie als etwas Fremdes in mein Leben. Wenn eine jahrelang getragene Last plötzlich von einem abfällt, ist der Zustand nachher nicht immer eine Erleichterung. Man hat zu kämpfen. Es ergeben sich andere Atmungsverhältnisse. Ich hatte immer so viel Einsamkeit gehabt wie ich irgend bedurfte; jetzt hatte ich überhaupt keine mehr, nicht bei Tag und nicht bei Nacht. Ganna war beständig da, wollte gesehen und gehört, behütet und geliebt werden. Und Liebe geben. Wenn man Liebe aus dem Erdboden schaufeln könnte, sie hätte sie aus dem Erdboden geschaufelt, nur um mir zu beweisen, wie unerschöpflich ihr Vorrat davon war.
Aber es kommt zu allerlei Zwischenfällen, die schwer vermeidbar sind, wenn man in einer Stube mit zwei Betten haust und in den Ecken und neben den Türen die Reisekoffer getürmt stehen. Ich sitze zum Beispiel still bei einem Buch. Um mich nicht zu stören, schleicht Ganna auf Zehenspitzen durchs Zimmer. Doch, o weh; ein Stuhl steht im Weg und sie wirft ihn um. Großes Gepolter. Oder ein Wasserglas fällt ihr aus der Hand. Oder ein Kofferdeckel knallt zu. Tausend behende Entschuldigungen. Sie hat entschieden Pech. Man muß sie trösten, wenn sie Pech hat. Sie lebt in einem Dauerkrieg mit den Objekten. Sie verliert ihre Geldbörse; Entsetzen. Sie wirft einen Brief in den Schlitz an einer Haustür statt in den Postkasten; beweglicher Jammer. Man muß sie trösten. Man kann ihr unmöglich böse sein, wenn sie völlig unbekannte Herren und Damen zutraulich und mit seraphischem Flöten anspricht als seien es lauter Onkelchen und Tantchen Schlemm; sie irrt sich eben; sie ist zu verträumt. Oder wenn sie auf einem Spaziergang in Erwartung einer Rast so viel Bücher mitschleppt wie man braucht, um ein Staatsexamen zu bestehen. Es ist komisch. Man muß lachen. Sie sieht ein, daß man lachen muß und lacht mit. Das hat aber nicht zur Folge, daß sie es ein anderes Mal anders macht. Sie lebt mit Inbildern. Und mit denen macht sie es wie die berühmten Vögel, die von des Appelles gemalten Trauben picken wollen. Ich möchte ein wenig Ordnung in ihr Gemüt bringen, ein wenig Zusammenhalt. Schwer. Ganna gehört zu den Naturen, die nicht fähig sind, Erfahrungen zu machen und auf Grund von Erfahrungen zu handeln. Und mitgeteilt werden kann Erfahrung so wenig wie Schmerz. Mir ahnt alsbald, daß ich sie formen müßte. Ich müßte ihr eine Gestalt geben, denn sie hat noch keine. Es hat lang, sehr lang gedauert, bis ich dahinter kam, daß man sie nicht formen konnte. Nicht ihrer Weichheit oder ihrer Härte wegen. Das Weiche wie das Harte läßt sich formen. Nur was dazwischen ist, das Fließende, das Gallertige, das was ewig seine Substanz wechselt, läßt sich nicht formen.
Seelchen
In ihrer Unschuld wähnte sie, man brauche sich einem geliebten Mann nur hinzugeben, um ihn zu beglücken. Ihre Sinne waren ohne Differenziertheit. Zu einer vollkommenen Hingabe war sie unvermögend, weil der Wille in ihr nie ganz erlosch. Sie wollte willenlos werden, weiter ging es nicht: Keim eines Verhängnisses. Dem Blut nach war sie eine ungebändigte Naturkraft, an der jede Verfeinerungsabsicht scheiterte. Sie hielt es ihr Leben lang für einen brutalen Eingriff in ihre Persönlichkeit, wenn man das finster Elementare in ihr zügeln und veredeln wollte. Sie verstand nicht einmal die Bemühung. Und der Bluttrieb war der einzige, der sie zwischen poetisierender Geistigkeit und erdhafter Bindung mitteninne hielt, in gefährlicher Schwebe. Ich begriff instinktiv, daß ich ihr darin die Unbefangenheit nicht rauben durfte.
Ich war auch der Mann nicht, der in diesem Betracht erzieherisch hätte wirken können. Ich hatte eine so bannende Ehrfurcht vor dem unabänderlichen So-und-nicht-Anders-sein jeder Kreatur, daß ich den Mut nicht aufbrachte, gerade das Nächtigste und Urgeheimste eines Menschen zu bilden und aufzuhellen. Mit Feigheit im Leibe kann man nicht erziehlich wirken. Ich war auch kein Meister in der Liebe, schon deshalb nicht, weil meine Sinne durch eine Art schuldvoller Dunkelheit unfrei waren. Dies alles muß gesagt werden, es ist die verborgene Wurzel von allem Folgenden, niemand könnte sonst verstehen, wie sich die Dinge entwickelt haben.
Schuld: ich scheue das Wort; dennoch lag von Anfang an Schuld in meinem Verhältnis zu Ganna. Insofern nämlich, als ich keine Leidenschaft für sie empfand. Darauf kam ich nicht gleich. Es wurde mir erst langsam klar. Als es mir klar geworden war, mußte ich Gannas jähe Anfälle von Leidenschaft mit heimlichem Schrecken abwehren. Sie mißverstand mich. Sie mußte mich mißverstehen, sonst wäre sie ja aus allen Himmeln gestürzt. Das durfte ich nicht auf mich nehmen. Ich mußte dafür sorgen, daß sie möglichst lange in ihren Himmeln blieb. Es war nicht sehr schwierig. Sie flüchtete in eine Fiktion. Sie machte mich zu einem Robert Browning und sich zu einer Elisabeth Barrett. Das Vorbild einer hochgeistigen Ehe ermöglichte es ihr, meine wachsende Unlust an Liebesbeteuerungen, nach denen sie hungerte, in eine metaphysische Verbundenheit umzudeuten. Ich bewunderte die Kraft, mit der sie in einer Fiktion zu leben vermochte. Meine Bewunderung für sie war überhaupt ungeschwächt. Ich konnte alle meine Arbeitspläne mit ihr besprechen. Nach kurzer Zeit beherrschte sie die Handwerksausdrücke wie ein hartgesottener Literat. Als die Nachrichten, die ich aus Deutschland erhielt, keinen Zweifel mehr zuließen, daß mein Buch nicht nur einen künstlerischen, sondern auch einen materiellen Erfolg hatte (was freilich nicht zu erheblichen Einnahmen führte, da ich den Verleger gewechselt und der frühere eine hohe Abstandssumme und die Rückzahlung von Vorschüssen gefordert hatte), merkte ich, daß sie die Ruhe und Ausgeglichenheit verlor, die bis dahin über ihrem Wesen gelegen war wie Schmelz. Es hatte den Anschein als fühle sie sich meiner plötzlich nicht mehr so sicher. Ich fragte sie offen, ob dem so sei. Sie gab es zögernd zu. Sie fand, es sei ihres Amtes, die Verlockungen der Welt und die Süßigkeiten des Ruhms nicht an mich heranzulassen. »Warum?« fragte ich verwundert, »wovor hast du Angst?« Sie meinte, sie hätte keinerlei Bürgschaften für die Zukunft. »Braucht man denn Bürgschaften, Ganna?« fragte ich. Selbstverständlich, erwiderte sie, die Gegenwart sei zu wenig. »Aber du kannst mich doch nicht,« sagte ich, »wie die Känguruhweibchen ihre Jungen, in einer Hautfalte mit dir herumtragen?« Doch, das könne sie, das wünsche sie, versetzte sie mit ihrem liebenswürdig-schlauen Lächeln. Sie hatte nicht genug Sicherheit. Sie dürstete nach größerer Sicherheit. Sie räumte es ein. Ich streichelte beschwichtigend ihre Haare. Ich nannte sie Seelchen, mit dem zärtlichsten Namen, den die deutsche Sprache hat.
Bankkonto und Ananke
In Taormina logierten wir in einem steingepflasterten Loch in einer Spelunke. In den Betten waren Wanzen. Die Mosquitos fraßen uns auf, Netze waren nicht vorhanden. Ganna setzte am Abend allerlei Räuchereien in Brand, aber dann erstickte man nachts in Qualm und Gestank. Hätten wir täglich zwei Lire mehr ausgegeben, wir hätten menschenwürdig wohnen können. Davon wollte Ganna nichts hören. Das Budget einzuhalten war ihre bangste Sorge. Budget war eines der Zauberworte, von denen sich nach und nach viele am Horizont unserer Ehe erhoben gleich Leuchtkäferchen bei zunehmender Dunkelheit. Der Begriff Budget war verschwistert mit dem Begriff Bankkonto. Das Bankkonto war der größte Leuchtkäfer, der unheimlichste, ebenfalls ein Zauberwort. Der Vater hatte ihr eingeschärft, unter keinen Umständen das Kapital anzugreifen, niemals einen Heller mehr zu verbrauchen als die Zinsen. »Ein Mensch, der vom Kapital zehrt, ist zu jedem Verbrechen fähig,« hatte das drohende Diktum des Professors gelautet. Ganna hatte es zu ihrem Leitsatz gemacht. Der Vater, je mehr angebetete Figur, je mehr er in die Ferne rückt, war gewissermaßen der Oberpriester des »Kapitals«, eines höchst verehrten Fetischs, und er hielt seine mächtige Hand über der geheimnisvollen Institution jener mündelsicheren Papiere, auf denen das Bankkonto beruhte. Es waren lauter Sicherheiten.
Ganna wußte natürlich, daß sich die herrlich runde Summe von achtzigtausend Kronen um den Betrag verringert hatte, der zur Bezahlung meiner Schulden nötig gewesen war. Sie hatte einen Finanzplan entworfen, der den Fehlbetrag wieder hereinbringen sollte. Demnach durften wir in den nächsten Jahren statt des viereinhalbprozentigen Zinsenertrags von dreitausendsechshundert Kronen nur dreitausend verbrauchen, der Rest sollte zum Kapital geschlagen, der Mehrverbrauch von meinem Einkommen bestritten werden. Dies erschien mir als eine geniale Lösung. Äußerste Sparsamkeit war also geboten. Jede Wanze und jeder Mosquito in Signor Pancrazios jämmerlichem Quartier veranschaulichte in gewissem Sinn das Garantiesystem mit dem Oberpriester und dem mündelsicheren Tabernakel. Was für eine rührende Mühe gab sich Ganna, mir zu beweisen, daß meine spöttische Verachtung dieser gottähnlichen Sicherheiten Leichtsinn und Unkenntnis seien. Sie sprach beschwörend vom Ethos der Selbstbeschränkung und der sittlichen Pflicht, dem Schicksal das Schwert aus der Faust zu winden, mit dem es die Edlen ständig bedroht. In die Lektüre Platos vertieft, den Bleistift in erhobener Hand, mit dem sie Notizen an den Rand der Seiten schrieb, die Kinderstirn gerunzelt, wies sie auf die Ananke hin, diese alles durchdringende Macht, vor der man sich zu beugen habe. Es machte Eindruck auf mich. Ich stimmte ihr zu. Genau genommen, war ich ja nicht Herr über das Geld. Wiewohl das Bankkonto auch auf meinen Namen lief, unterwarf ich mich allen Sparmaßnahmen Gannas widerspruchslos. Ich war durchaus in der Lage eines Mannes, dem der Stolz und die Selbstachtung verbieten, fremde Gerechtsame anzutasten.
Ein Urwesen?
Ich unternahm einen Ausflug auf den Ätna und hatte Ganna versprochen, am Abend des dritten Tages wieder bei ihr zu sein. Ich verirrte mich aber in den Lavafeldern, zudem schlug das Wetter um, und ich mußte in der Hütte eines Hirten Zuflucht nehmen. Dadurch verspätete sich meine Rückkehr um sechs Stunden. Ganna hatte in wachsender Erregung auf mich gewartet. Schon um sechs Uhr nachmittags alarmierte sie Signor Pancrazio und seine Leute. Zwei Stunden darauf verlangte sie weinend, man solle die Polizei verständigen und eine Abteilung Carabinieri aussenden. Um elf Uhr ließ sie sich durch die Bitten der gesamten Familie des Wirts und der deutschen Logiergäste nicht abhalten, ihren Regenmantel umzuwerfen und schluchzend die stockfinstere Landstraße hinunterzulaufen, hinter ihr Pancrazios zwei Söhne, die sie endlich zur Umkehr bewogen. Als ich gegen Mitternacht kam, stürzte sie mir mit einem gellenden Schrei an die Brust wie eine Irre. Pancrazio und die Seinen, von so hoher Gattenliebe erschüttert, behandelten sie von da ab mit der ehrfürchtigen Rücksicht, deren nur Italiener fähig sind. Ein vierzehnjähriges Mädelchen äußerte mit entzückender Altklugheit die Vermutung, die fremde Signora sei wohl guter Hoffnung. Was sich alsbald auch bestätigte. Als zwei Tage später der Südwind den gelben Staub der Sahara auf die Insel herüberwehte, gelbe Dämmerung die Landschaft einhüllte, der Ätna Feuergarben spie und die erschrockene Bevölkerung Prozessionen veranstaltete, sagte Ganna mit großem Sybillenblick: »Begreifst du jetzt meine Angst? Ich habs gefühlt. Es war schon in mir.« Ich fragte mich bedrückt, wie ich mich fernerhin derartigen Hemmungslosigkeiten gewachsen zeigen solle. Ich war nicht abgeneigt zu glauben, daß es einen Zusammenhang gab zwischen ihr und den dunklen Kräften der Natur. Verwundert grübelte ich darüber nach, wie ein solches Urwesen dem nüchternen Schoß der Familie Mewis entschlüpft sein konnte.
Rückkehr
Die Schwangerschaft war wider das Programm. Wir hatten uns vorgenommen, in den ersten zwei Jahren kein Kind zu haben. Man kann nicht mit einem Kind hauslos in der Welt herumziehen. Es war in Rom, als sie mir, zitternd vor Glück, das große Geständnis machte. Ein Monarch kann sich nicht verantwortlicher dünken als Ganna in der Erwartung des Mutterwerdens. Sie ließ sich medizinische Spezialwerke aus Wien kommen. Sie befolgte eine entbehrungsreiche Diät eigener Erfindung. Sie suchte einen deutschen Arzt auf und beriet stundenlang mit ihm. Sie behandelte ihren Körper mit liebevoller Schonung. Sie ging innen und außen auf Zehenspitzen. Ihr einziger Gedanke war das Kind. Ihre einzige Sorge war, ob es schön werden würde, schön und bedeutend. Sie war überzeugt, dies stehe in ihrer Macht. Wie eine Bäuerin glaubte sie an Versehen und hütete sich vor häßlichen Eindrücken. Täglich verbrachte sie die Vormittage in den vatikanischen Sammlungen und saß mit bannendem, saugendem Blick vor Meisterwerken der Plastik. Sie kaufte eine Photographie des Neapler Wandgemäldes, das den Narkissos hingelagert darstellt. Sie hing das Bild über ihrem Bett auf und betrachtete es vor dem Einschlafen und beim Erwachen mit selbsthypnotischer Hingegebenheit. Sie traute ihrem unbändigen Wollen auch einen Einfluß auf den Vorgang der Menschwerdung zu. Ich durfte sie darin nicht irre machen, sonst wurde sie böse. Ironische Bemerkungen erzürnten sie. Sie hatte für Ironie kein Organ. Sie fand sich nicht belächelnswert, sie fand sich heilig. Und noch etwas kam hinzu. Die endgiltige Sicherheit, nach der sie schmachtete, die besaß sie jetzt. Da sie ihr Kind nicht in einer fremden Stadt zur Welt bringen und in der Nähe ihrer Familie sein wollte, kehrten wir im Herbst nach Wien zurück.
Das gelbe Zimmer
Mir bangte davor. Ich fürchtete die Ansprüche der Familie, die Unbekümmertheit, mit der sie meine Person beschlagnahmen würde. Ich fürchtete die ummauerte Existenz. Wenn ich mich ein für allemal zum Dasein des Bürgers und Steuerzahlers entschloß, mit dem Bankkonto im Rücken gegen alle Fährnisse gedeckt, Schoßkind und Stolz der Mewis, Schlemms und Lottelotts, dann war es aus mit dem Flammengang und Simsonskampf, dann hatten Fedora und Riemann Recht, dann war ich verkauft und verraten. Aber Ganna wußte mir meine Ängste auszureden. Sie sprach mit solcher Zuversicht und Begeisterung von einem Leben in stiller Häuslichkeit, daß ich mich gläubig fügte.
Nach vielem Suchen mieteten wir weit draußen in der westlichen Vorstadt, weit auch vom Hause Mewis, eine möblierte kleine Gartenwohnung, die den Winter über frei war. Ganna wollte sich noch nicht endgiltig niederlassen. Die Einrichtung hätte zu viel Geld gekostet. Hinausschieben war für sie wie Sparen. Die eine Front der Wohnung ging nach einer wurmartig gewundenen Straße mit einstöckigen Häusern und kleinen Vorgärten. Alle zwanzig Minuten rasselte eine Dampftramway am Haus vorbei. An der Lokomotive war eine Glocke angebracht, die man von fernher und lang nachdem sie vorüber war bimmeln hörte. Was Ganna an dem Quartier bestochen hatte, war ein saalartiges Zimmer mit einer Glaswand gegen den Garten, das vorne von Licht durchströmt, hinten aber so finster war, daß man auch bei Tag die Gasflamme brennen lassen mußte. Es war der Staats- und Empfangsraum, Wohn- und Eßzimmer, meine Arbeitsstätte und außerdem schlief ich auf einem Divan zwischen zwei Mauerfragmenten in den Wochen vor Gannas Niederkunft darin. Es war zitronengelb getüncht und durch eine zitronengelbe Stoffportiere in zwei Hälften geteilt. An der Wand links befand sich der sterbende Gallier, an der Wand rechts der Dornauszieher, beide auf stoffbehangenen Kisten als Postamenten, beide in Gips; römische Erinnerungen.
Ich verweile dabei so lange, weil der Raum viel Schicksalhaftes für mich hatte. Man weiß noch wenig vom Einfluß der Räume auf die Stimmung, die Gedanken, die Entschlüsse. Ein Zoll mehr oder weniger in Höhe oder Breite, und das Lebensgefühl ist verändert. Ich kam mir wie in einem zu weiten, beim Trödler gekauften Anzug vor, der einem um den Leib schlottert. Ich war nie richtig zuhause in dem Zimmer. Wenn ich in der Nacht aufwachte, sickerte das Schneelicht durch die Spalten des Vorhangs; dann wäre ich am liebsten durchs Fenster in den Garten gestiegen, um etwas Bübisches anzustellen, vielleicht das lächerliche Zimmer mit Schneeballen zu bombardieren. Oder ich wünschte, Heinzelmännchen möchten kommen, sich an den Schreibtisch setzen und die Arbeit schaffen, die mir nicht gelingen wollte, an der ich mich wund rieb seit Wochen, während die schellenklingelnde Lokomotive frech durch meinen Schädel donnerte. Es ist nicht gut, mit einem vielgeschäftigen Weib zu sein, wenn man zartes Bild zu malen, zartes Gewebe zu spinnen unternimmt. Es ist nicht eine einzelne Frau, es sind viele, so viel wache Stunden der Tag hat, so viele Gannas sind es, und jede will was anderes, jede ist voll von sich, jede freut sich, regt sich auf, plant etwas, hat ein Anliegen, und manche kenne ich noch gar nicht, ich müßte ihr erst vorgestellt werden.
Ich kriege Taschengeld
Kinderwäsche muß beschafft werden. Die Miete muß bezahlt werden. Dienstleute müssen entlohnt werden. Ich brauche einen Winteranzug. Ganna braucht einen Mantel. Die Zinsen langen nicht. Das Kapital muß angegriffen werden, Gannas böser Traum. Man muß etwas von den »Mündelsicheren« verkaufen, Gannas Entsetzen. Der heilige Respekt vor dem Bankguthaben hat mich bereits angesteckt. Es gibt nichts Penetranteres als das Geld und den Geist des Geldes. Am Monatsersten gehe ich zur Bank, um die für den Haushalt nötige Summe zu beheben. Es ist mir zumut wie einem Dieb. Der Kassier am Schalter, ein hagerer Mann mit goldgeränderter Brille, ist der Stellvertreter des alten Mewis auf Erden; sofort wird er mich einem strengen Verhör unterwerfen. Ein Mensch, der das Kapital angreift, ist zu jedem Verbrechen fähig. Gannas winzige Hände umschließen das Bankkonto wie eine Gesetzesrolle. Der Kassier läßt die Geldscheine auf die marmorne Platte flattern, das Kapital rauscht. Ich zähle sie scheu nach, und als ich sie in die Brieftasche stecke, habe ich das Gefühl, den Mann am Schalter überlistet zu haben und mit unrechtmäßig erlangtem Geld das Weite zu suchen. Ich entferne mich mit den Schritten eines Defraudanten. Ich habe keine Ruhe, bis ich Ganna das Geld auf Heller und Pfennig abgeliefert habe. Ganna schreibt auf, Ganna verrechnet, Ganna gibt mir mein Taschengeld. Ja, mein Taschengeld, wie einem Pensionär. Ich finde es selbstverständlich. Wozu braucht man bares Geld, wenn man in Kost und Logis lebt? Ich habe nicht übel Lust, dies dem Mann am Schalter das nächste Mal zu meiner Verteidigung mitzuteilen. Er wird mich dann milderen Auges betrachten.
Es klappt nicht alles wie es soll
»Gibts nicht bald was zu essen?« frage ich verdrießlich, wenn es auf der Pendeluhr in dem gelbgetünchten Heuschober zwei Uhr schlägt. »Gleich, Alexander,« haucht Ganna bestürzt, eine von den vielen täglichen Gannas, »sofort.« Aber was dann das schmuddlige »Mädchen für alles« auf den Tisch bringt! Dinge, die ihre Natur verleugnen. Fleisch, das wie Holzkohle aussieht. Torten, die an Bücherdeckel erinnern. Suppen, deren einziger Vorzug ist, daß sie dampfen. Alles mit mächtigem Eifer hergestellt, unter Gannas unendlicher Bemühung. Gannas Bemühung, das ist ein Kapitel für sich. Denkt euch eine rasante Stoßkraft, auf die nichts erfolgt, einfach nichts, die verpufft, spurlos. Eine beinahe wissenschaftliche Gründlichkeit, den ernstesten Vorsatz, und das Resultat ungefähr so wie wenn jemand mit dem Schmiedehammer eine Fliege auf einer Fensterscheibe erschlägt. Alles ist genau erwogen, es ist ein radikales Vorgehen, aber die Fensterscheibe geht dabei in Trümmer, was jeder andere voraussehen würde, nur Ganna nicht. Ganna wundert sich baß. Die Küchenschürze umgebunden, steht sie am Herd, rührt mit dem Kochlöffel den Teig in der Pfanne, und auf der Anrichte liegen aufgeschlagen die Gedichte von Hölderlin, in die sie träumerisch hineinschielt. Wenn der Teig unten schwarzgebrannt ist, weiß sie sich nicht zu helfen und schimpft mit dem Mädchen. Ich erkenne den Kern des Übels und sage belehrend: »Siehst du, Ganna, Hölderlin lesen und Pfannkuchen backen, das geht nicht zusammen. Du mußt dich für eins von beiden entscheiden.« Ganna sieht es ein, aber es ist schwer, da sie immer zugleich des Gottes und des Zweckes voll ist. Man kann ruhig sagen, daß sie vor Bemühung schwitzt. Wenn sie mir dienen will, ist ihr kein Weg zu weit, keine Unbequemlichkeit zu groß. Aber alles scheitert am Übermaß der Anstalten. Immer wenn sie daran geht, mir bei der Arbeit Ruhe zu verschaffen, geschieht es, daß sie den erwähnten symbolischen Stuhl umschmeißt. Es gibt Hausteufelchen, die wollen ihr nicht wohl. Ihre glühende Strebsamkeit zerschmilzt alles, wonach sie greift. Ich finde es interessant, atemberaubend sogar, doch es ist nicht eben das, was man unter einem friedlichen Dasein versteht. Man kommt sich vor wie auf einem Schiff, das durch die Ungeschicklichkeit des Steuermanns fortwährend in der Brandung herumtanzt.
Dann die dienstbaren Geister. Das erste Mädchen blieb sechs Tage, das zweite drei, das dritte vierzehn, von den folgenden keine länger als drei Wochen. Ganna kann sich die Sache nicht erklären; auch ich stehe vor einem Rätsel. Erst nach und nach geht mir ein Licht auf. Ich mache die Entdeckung, daß unter Gannas Herrschaft jeder Fehler eines Menschen alsbald zum Laster wird. Es ist geheimnisvoll. Wenn eine als Nascherin kommt, geht sie als Diebin fort. Die Unordentliche verwandelt sich in eine Verwüsterin. Da Ganna keine Ahnung hat, wie man ein Bett macht und eine Türklinke putzt, werden ihre Befehle mit stillem Hohn aufgenommen. Sie weiß nie, wieviel Zeit eine Arbeit beansprucht. Entweder fordert sie Unmögliches oder sie wird betrogen. Sie versteht das Volk und seine Sprache nicht. Ihre etwas geschwollene Ausdrucksweise macht die Leute stutzig, und sie mißtrauen ihr. Erst ist sie honigsüß, und ohne Übergang wird sie grob. Der bürgerliche Hochmut der Mewistochter und ihre literarische Bildung erlauben ihr nicht, die dienenden Menschen als Wesen ihresgleichen zu betrachten. Sie möchte manchmal gern, aber es gelingt ihr nicht. Beim geringste Streit erbost sie sich, und ihre Augen lodern wild. Anfang kann ich beschwichtigend einwirken, späterhin wendet sich ihr Zorn in solchen Fällen auch gegen mich. Ich bin gezwungen, sie gewähren zu lassen, sonst wäre der häusliche Kleinkrieg zu ermüdend.
Da war eine Resi, die es fertig brachte, Ganna um den Finger zu wickeln, weil sie ihr die dicksten Schmeicheleien sagte; die raubte eines Abends den Wäscheschrank aus und verschwand. Da war eine Kathi, die hatte mehrere Liebhaber, und wenn Ganna einen von ihnen in der Küche überraschte, gab es ein Riesengeschrei von beiden Seiten. Da war eine Pepi, die wurde von der Polizei abgeholt, weil sie im Verdacht einer Brandstiftung stand. Da war eine Hanna, von der sich herausstellte, daß sie schwer syphilitisch war; als wir sie entließen, schlich sich ihr Galan nachts ins Haus und bedrohte mich mit dem Revolver. Da kamen Aushilfsmädchen, so schmierig und verschlampt als hätte man sie bei einer Razzia aufgelesen. Da kamen Bedienerinnen, die unter ihren Röcken Mehl, Reis und Einmachgläser fortschleppten. Den ganzen Vormittag riecht es nach verbrannter Milch. Mädchen kommen, Mädchen gehen. Stundenlang steht Ganna bei Vermittlerinnen herum. Am Abend strahlt sie: sie hat eine »Perle« entdeckt. Zwei Tage später stellt es sich heraus, daß die Perle eine verfaulte Erbse ist. Ganna hat Anfälle von Mutlosigkeit, und ich muß sie trösten. Bisweilen erscheint eine der Schwestern, um Ganna beizustehen. Sie tun es nicht ohne Schadenfreude. Sie sehen die Zukunft schwarz. Ganna mag etwas von Büchern verstehen, sagen ihre Mienen, vom Leben hat sie keinen Dunst.
Einsiedelei
Während der Wehen Gannas ergriff ich die Flucht. Ich weiß, daß ich mich dieses Geständnisses zu schämen habe, allein es war der Überdruß am Nest, der mich forttrieb. Ich hielt mich den ganzen Nachmittag bei den Raubtieren in Schönbrunn auf. Etwas Kaltes und Glitschiges saß mir im Nacken. Ich hatte Ganna schreien gehört. Sie schrie tobender als andere Frauen, die kreißen. Ihre Natur setzte sich mit ungeheurer Wildheit gegen den Schmerz zur Wehr. Was, ich, Ganna, soll leiden, ich die Mewistochter, Alexander Herzogs Frau, soll leiden? Es nützte nichts, sie mußte leiden. Ich litt mit ihr, aber ich wollte es nicht sehen. Nicht nur aus gemeiner Mannsfeigheit, sondern weil es ja nicht meine Leidenschaft war, durch die ich sie leiden gemacht.
Als ich heimkam, lag etwas Schwarzes, Haariges auf weißem Linnen. Es war richtig ein Sohn, wie Ganna vorausgesagt hatte. Er wies aber vorläufig keine Ähnlichkeit mit dem Narkissos auf. Im blütensauberen Bett, die rostroten Haare unter einem blaugebänderten Häubchen, streckte mir Ganna mit seligmattem Lächeln die winzige Hand entgegen. Ihr Anblick rührte mich tief. »Findest du es schön?« fragte sie. – »Ja, sehr schön,« antwortete ich, und mein Gesicht wird wohl etwas dumm ausgesehen haben. Als ihr das Kind an die Brust gelegt wurde, feuchteten sich ihre Augen. Es war als gebe sie dieses Schauspiel der ganzen Welt, als habe noch nie eine Frau ein Kind geboren, noch nie eine Frau ein Kind gesäugt. Nun ja, sagte ich mir, manche Menschen erleben die Dinge wie die ersten Menschen sie erlebt haben. Wir nannten das haarige Amphibium Ferdinand, abgekürzt Ferry. In der Tat wurde es ein ungewöhnlich schönes Kind, auch hier hatte Ganna ihren Willen durchgesetzt.
Immer öfter fragte ich mich, durch welche Macht ich stets diesem Willen erlag. Ich bin nicht willenlos; willensschwach nur insoweit, als meine Natur jedem falschen Kräfteaufwand entgegenwirkt. So zog ich mit ihr in eine Gegend, wo die Füchse einander gute Nacht sagten, als wir im Frühjahr die Wohnung mit dem gelben Zimmer verlassen mußten. Es war ein Wirtshaus, die Einsiedelei genannt, seit dem ist es verdientermaßen vom Erdboden verschwunden. Ein trauriges und übles Logis war das, viel ärger als Signor Pancrazios Spelunke. Es erinnerte mich an das Mordwirtshaus im Märchen, in welchem die erschlagenen Gäste stets im Keller verscharrt werden. Einen Vorzug hatte es: es war billig. Der war ausschlaggebend für Ganna. Doch war sie auch der Bevormundung ihrer Schwestern satt, und noch viel mehr der höllischen Plackereien mit Dienstboten. Also auf in die romantische Baracke. Ganna sagte, sie wolle sich nun endlich wieder ihren höheren Aufgaben widmen. Ich stimmte ihr zu. Ich fand es an der Zeit. Zwar wußte ich nicht ganz genau, worin die höheren Aufgaben bestanden; ich kreditierte sie gleichsam, aber Näheres wußte ich nicht von ihnen.
Ich arbeitete in einer finstern Zelle, durch deren Decke der Regen drang, indes bei schönem Wetter das Johlen der Ausflügler im Wirtsgarten und bei jedem andern Gannas Gezanke mit der Kinderpflegerin meine Gedanken zerfetzte. Wozu war das alles, ging es mir zuweilen durch den Sinn, wenn ich nun leben soll wie der letzte Vagabund? Ein Bankkonto, so überlegte ich, ist offenbar eine Art Büchsenkonserve wie Gänseleber, es in frischem Zustand zu genießen, scheint verpönt zu sein. Was jene Pflegerin betrifft, Opřcek hieß sie, so war sie eine ausgemachte Verrückte. Das Einschläfern des Kindes bewirkte sie mit unzüchtigen Liedern, und wenn Ganna mit ihr stritt, verneigte sie sich kichernd, hob die Röcke bis ans Knie und murmelte tschechische Verwünschungen vor sich hin.
Ich entsinne mich einer Nacht, da ich von dem durchdringenden Kreischen meines Söhnchens erwachte. Ganna flattert aufgeregt im Zimmer herum und kocht beim Schein einer qualmenden Kerze Kamillentee. Die Opřcek hält das Kissen mit dem Säugling in hocherhobenen Armen und vollführt unter greulichen Gesängen einen Niggertanz. Ganna fleht mich an, ich solle einen Arzt holen. Es ist weit bis zum nächsten Arzt, aber Gannas Angst besiegt meine Schlaftrunkenheit. Ich ziehe mich an und gehe in die Nacht hinaus. Und während ich in den Vorort hinuntergehe, ergreift mich eine gestaltlose, bittere Sehnsucht, die mich nur so hintaumeln läßt durch die gewitter- und regenschwere Finsternis... Ich habe die Stunde nie vergessen können.
Das andere Gesicht
Im Herbst machten wir uns endlich seßhaft. Wir bezogen den oberen Trakt einer stattlichen Villa an der Grenze des dreizehnten Bezirks. Möbel, Spiegel, Geschirr, Vorhänge, Teppiche, Lampen mußten gekauft werden. Verheerender Eingriff ins Bankkonto. Ganna hatte schlaflose Nächte.
Das Haus gehörte einem alten Ehepaar namens Ohnegroll. Nie ist mir ein lügenhafterer Name vorgekommen. Der Mann war tückisch und boshaft, die Frau eine Megäre. In den Gartenbeeten standen farbige Terrakottazwerge mit Kegelhütchen. Über diese Zwerge ärgerte ich mich täglich derart als hätten sie mir meine Barschaft gestohlen. Eine Mansarde unter dem Dach diente mir als Arbeits-, oftmals auch als Schlafstätte. Sie gewährte Ausblick auf eine zerrupfte Wiese, auf der tagsüber unter Leierkastenbegleitung ein Karussel sich drehte. Aber abends und nachts war es totenstill, und da habe ich den ganzen Winter hindurch ungestört gearbeitet.
Als es Frühling wurde, kam die Reiselust über mich. Ganna wollte sich nicht von ihrem Kind trennen, so verabredete ich mich mit Konrad Fürst, und wir fuhren in den Süden. In Ferrara ging meinem Gefährten das Geld aus; bei der Rückkehr war er mir an siebenhundert Kronen schuldig. Es verging nicht eine Woche, da bestellte mich Fürst in ein Cafehaus und bat mich fast unter Tränen, ich möge ihm noch weitere tausend Kronen leihen; es handle sich um eine Spielschuld, er habe sein Ehrenwort verpfändet, wenn er bis zum andern Tag das Geld nicht aufbringe, müsse er sich erschießen. Ich antwortete kühl, mit solchen Kavaliersfaxen dürfe er mir nicht kommen; sei er in Not, gut, dann müsse ich ihm helfen, doch hielte ich es für geraten, daß wir einander die nächste Zeit nicht sähen. Es war ein verschleierter Bruch. Die frivole Lebenshaltung Fürsts und seine Großmannsallüren hatten mich seit langem mehr und mehr abgestoßen.
Da ich eine größere Zahlung von meinem Verleger erwartete, glaubte ich das Loch im Konto stopfen zu können, bevor Ganna es entdeckte. Indes verzögerte sich diese Zahlung, und ich war genötigt, Ganna das Geschehene mitzuteilen. Auf einen Ausbruch des Ärgers war ich gefaßt, nicht aber auf eine solche Flut von Empörung und Erbitterung. Zuerst starrte sie mich sprachlos an. »Na, weißt du, Alexander,« stotterte sie blaulippig, und wieder: »na, weißt du, Alexander...« Wie ein Mensch, vor dessen Augen Ideale zusammenbrechen. Mit ihren hackenden Schritten und winzigen Füßen stapfte sie auf und ab, zerrte die Decke vom Tisch, stieß mit den Knien die Stühle aus dem Weg, rieb die kleinen Zähne knirschend aufeinander, preßte die winzigen Hände an die Schläfen und schmählte endlos vor sich hin: ein sauberer Freund; ein schönes Lümpchen; unerhört, die Gutmütigkeit und den Leichtsinn eines Menschen, der Familienvater ist, zu mißbrauchen; sie wird sich die Schurkerei nicht bieten lassen; sie wird dem geschniegelten Hochstapler einen Brief schreiben, den er nicht an den Spiegel stecken wird...
Sie hatte Grund ungehalten zu sein. Sparte sie sich doch die Seele aus dem Leib, drehte jede Krone dreimal um, ehe sie sie ausgab, feilschte mit jedem Händler um den Korb Gemüse; gönnte sich kein neues Paar Schuhe, wenn die alten nicht schon in Fetzen gingen. Gut. Aber so hätte sie sich nicht aufführen dürfen. Da war das Unrecht, dessen ich mich schuldig gefühlt, plötzlich kein Unrecht mehr. Obgleich sie mich bald hernach wegen ihrer Heftigkeit weinend um Verzeihung bat, blieb ein Stachel, der sich einbohrte. Ich hatte ein anderes Gesicht gesehen. Sogar in ihrem reizend unschuldigen Lächeln war es drin, das andere Gesicht.
Im Konzert
Wie wenn Fäden auf einer trüben Flüssigkeit schwimmen und langsam zusammenschießen, um irgendwelche krause Figuren zu bilden, so machte der Unfriede in Ganna ihr Leben undurchsichtig und ihr Verhältnis zu Menschen und Dingen gesetzlos. Gewisse wiederkehrende Szenen sind dafür bezeichnend, deren typischer Ablauf Engramm geworden ist. Ich habe Karten für das philharmonische Konzert besorgt. Es beginnt um sieben. Fünfundvierzig Minuten muß man für die Fahrt in die Stadt rechnen. Um dreiviertelsechs ermahne ich Ganna, sich anzuziehen. Sie liegt träumerisch auf der Terrasse, in der Rechten ein Buch über die mystische Geistesrichtung der Präraphaeliten, in der Linken den obligaten Bleistift. »Gleich, sofort,« haucht sie erschrocken, legt das Buch achtlos auf das Blechsims, wo es auch verbleibt und am andern Morgen vom Regen durchweicht gefunden wird, und eilt ins Schlafzimmer. Es vergehen zehn, vergehen zwanzig Minuten, ich, schon in Hut und Mantel, schaue alle Augenblicke auf die Uhr, dann faß ich mir ein Herz und sehe nach, was mit Ganna los ist. Sie steht halbnackt im Badezimmer und wäscht sich die Haare, jetzt, um sechs Uhr zehn. Ich bin wütend. Ganna fleht, ich möge sie um Gotteswillen nicht hetzen, sie beeile sich ohnehin so viel sie könne. Sie ist das Opfer widriger Umstände. Ihre besten Absichten werden von tückischen Zufällen durchkreuzt. Alle treten mit Füßen auf der armen Ganna herum. Auch ich. Unter Seufzen, Keuchen, Klagen ist sie um sechs Uhr fünfunddreißig fertig. Noch ein »Sprung« ins Kinderzimmer, inbrünstiger Abschied von Ferry, hastige aber (weil man doch auf »die Person« angewiesen ist) mit schmelzender Stimme erteilte Verhaltungsmaßregeln an die Pflegerin (ich weiß nicht, die wievielte es ist), und man rennt zur Dampftrambahn. Dort wartet man weitere zehn Minuten, Ganna mit beleidigtem Gesicht und verpreßten Lippen. Kaum hat sie Platz genommen, so entdeckt sie, daß sie ihr Täschchen mit dem Opernglas und dem Geld vergessen hat. Vorwürfe. Das alles passiert nur, weil man sie »hetzt«. Sie findet, »das« hat sie nicht verdient. Sie gibt sich doch »solche« Mühe. Sie hadert ohne Aufhören. Ich geniere mich vor den Mitfahrenden: Ganna geniert sich keineswegs vor den Mitfahrenden. Das gehört zu ihrem Souveränitätsbewußtsein. Warum antworte ich ihr? Warum schweige ich nicht? Sie dauert mich, darum. Sie quält sich ab. Ich will sie versöhnlich stimmen. Es ist mir nicht wohl, wenn sie hadert und quengelt. Vielleicht ist es ihre Zauberkunst, die mich so nachgiebig macht. Vor dem Saal müssen wir wieder warten bis zur nächsten Pause. Noch immer rede ich auf sie ein, um ihr zu beweisen, daß sie im Unrecht ist, das sicherste Mittel, sie im Gefühl ihres Rechts zu bestärken. Doch ihr Ärger klingt nur noch als leeres Geplapper fort. Dann sitzt sie hingebungsbereit und mit verschwärmter Miene auf ihrem Platz. Musik wirkt auf sie wie Branntwein. Ich weiß längst, daß sie unmusikalisch ist wie ein Stück Holz, daß sie nicht das leiseste Verständnis für den Bau eines Werkes hat, das Gesamtgefüge, die Motivenführung, für Wert oder Unwert, Gehalt oder Leere, daß man ihr ruhig eine bessere Operettenouverture als Brucknersymphonie aufreden könnte, und sie käme prompt ins Schwelgen ; aber das hindert mich nicht an die Intensität ihres Gefühls zu glauben, die Echtheit ihrer Erschütterung. Ich empfinde ja Ganna wie ein Stück von mir selbst. Ich kann nicht anders; täte ich es nicht, es wäre um mich geschehen. Natürlich kommt es vor, daß der Anblick ihrer Betrunkenheit mein Schamgefühl verletzt, meinen urteilenden Sinn beleidigt; dann brauche ich mich nur zu erinnern, mit welcher feurigen Andacht, welcher helfenden Leidenschaft sie mir zuhört, Stunden und Stunden, wenn ich ihr meine Arbeiten vorlese, wie ich da ihr mitpochendes Blut spüre und ihr ganzes Wesen beglückte Zustimmung ist. Da ist mir die Betrunkenheit eben recht; darf ich sie also verdammen, wenn sie sich an anderem Ort hemmungslos auswirkt? Es sei denn, alles miteinander wäre Irrtum und Täuschung.
In Gesellschaft
Mit den meisten früheren Freunden und Bekannten hatte ich keinen Umgang mehr. Entweder hatte sich die Beziehung totgelebt, oder sie waren in Ämtern und Stellungen, oder sie verloren sich in der geistigen Unterwelt. Viele sagten, ich sei ein kaltherziger Menschenverbraucher. Vornehmlich die sagten es, die mich ihrerseits nahezu verbraucht hatten. In allen Menschen steckt eine bösartige Freßgier. Wer sich ihnen einmal gegeben hat, den wollen sie bis auf die Knochen verzehren; sträubt er sich, so nennen sie ihn treulos. Ich galt auch für hochmütig. In Wirklichkeit war ich in hohem Grad schüchtern und bin es noch. Ich vertrug nur nicht die selbstgefällige Unwissenheit der Bürger in Bezug auf meine Person und mein Tun, eine überhebliche Duldung, sowie man sich mit einem Nachbarn abfindet, der sein kümmerliches Gärtchen mit einer Festungsmauer umgibt.
Ganna predigte mir Weltlichkeit. Sie sagte, ich müsse aus meinem Turm heraus. »Du mußt unter Menschen, du brauchst Eindrücke,« sagte sie. Ich war nicht abgeneigt, unter Menschen zu gehen, doch leider meinte sie damit Leute, die einen Jour oder Rout gaben und berühmte Namen bei sich sehen wollten. Es war ihr Ehrgeiz, mir die gebührende Stellung in der großen Welt zu verschaffen; doch was sie für große Welt hielt, waren gewisse Intellektuellen- und Finanzkreise, in denen sie sich auch als Mädchen bewegt hatte. Sie war stolz darauf, Frau Alexander Herzog zu sein und wollte ihren sozialen Rang genießen. Jede Einladung war ihr eine ehrenvolle Bestätigung dieses Ranges. Für den Rang der Gesellschaft aber, in der sie sich genügte, fehlte ihr das Unterscheidungsvermögen. Wenn sie hinter sich ihren Namen wispern hörte, drang ihr das Wohlgefühl bis unter die Haarwurzeln. Wenn ihr ein Advokat oder ein Universitätsdozent die Hand küßte, strahlte sie. Wenn sie einen Sektionschef als Tischherrn hatte, war sie aufgeregt wie eine Theaterelevin, der man eine große Rolle zuerteilt. Ich war durchaus willens, all diesen Herren den Kredit einzuräumen, den ihnen Ganna so verschwenderisch bewilligte. Ich war ja ein kleiner Mann. Mein Selbstgefühl war schwach entwickelt. Geistige Leistungen haben mich nie übermütig werden lassen. Ich dachte, Ganna, erfahren in den Bräuchen ihrer Sphäre, werde schon das Richtige treffen. Ich ließ mich mitschleppen. Ich ging fromm »in die Häuser«, wie ich es manchmal sarkastisch nannte. Hie und da fiel mir bei, daß man sich eigentlich für die Einladungen revanchieren müßte. Ganna behauptete, das sei überflüssig, von einem Künstler erwarte man das nicht. Da es mir bequem war, glaubte ich ihr und stellte mich damit auf dieselbe Stufe mit dem Tenor, dessen man sich auch nur versicherte, weil sein Name in der Zeitung stand, auf eine niedrigere noch, denn der Tenor bezahlte für die Ehre, die man ihm erwies, indem er gelegentlich etwas zum besten gab. Leute zu bewirten, hätte zudem seine Schwierigkeiten gehabt; man aß furchtbar schlecht bei uns. Wenn Ganna ein Familienessen veranstaltete, wozu sie sich noch am ehesten entschloß, erhob sich manchmal verdächtiges Gekicher über den Geschmack und die rätselhafte Beschaffenheit eines Gerichts. Ganna hatte keine Ahnung, daß es schlecht war. Ihr selbst war es vollständig gleichgiltig, was man ihr vorsetzte. Sie verzehrte eine halbgare Kartoffel mit demselben fühllosen Eifer wie eine Ananas.
An einem Abend waren wir bei Bankdirektor Bugatto geladen, der damals eine gefeierte Finanzgröße war. Ich entsinne mich genau einer ganzen Reihe von unangenehmen Gefühlen, die mich bestürmten. Ich sehe, wie Ganna in ihrem Element ist. Sie bildet Cercle. Ein Kranz von Professoren, Doktoren, Rechtsanwälten, Statthaltereiräten, Industriellen samt einigen zugehörigen Damen umgibt sie. Sie stellt kühne Behauptungen auf und verficht sie bis zum äußersten. Es sind anfechtbare Paradoxe; es sind Lesefrüchte; aber sie freut sich des Beifalls; sie hat unstreitig Erfolg. Ein hochorigineller Kopf, sagen die Leute. Ich bin sehr zufrieden mit ihrem Erfolg, das versetzt sie in gute Stimmung für Tage. Es liegt mir daran, daß ihre glänzenden Eigenschaften anerkannt werden. Ich habe es dann leichter mit ihr. Peinlich ist mir nur, daß sie zehnmal öfter als notwendig »mein Mann« sagt. Ich hasse dieses besitzergreifende Fürwort.
Bei alledem wird mir die Langeweile schier unerträglich. Das öde Herumsitzen; das geistlose Frage- und Antwortspiel; der ordinäre Klatsch. Und Gannas liebedienerisches Wortgeplänkel: ich kann mir nicht länger verhehlen, daß sie sich ausbietet; ihr Geflöte, ihre provinzlerische Koketterie, ihre fahrige Aufgeregtheit: es macht mich leiden, macht mich wahrhaft leiden, spürt sie es denn nicht? nicht meine Scham, meine zweideutige Situation, ihre eigene Übertriebenheit, ihre Knechtseligkeit vor Perlen, Toiletten, Renten und Titeln? Nein, sie spürt es nicht. Sie geht auf wie Hefe. Sie blüht. Zwei-, dreimal nähere ich mich ihr und mahne zum Aufbruch. Sie fleht stumm, noch bleiben zu dürfen. Sie unterhält sich so herrlich. Auf dem Nachhauseweg fragt sie, was ich gegen sie hätte. Alle seien reizend nett gegen sie gewesen, nur ich hätte durch meine brummige Laune das schöne Beisammensein getrübt.
Sie versteht nicht, was soll man da tun? Sie fährt fort zu stochern und sich zu beschweren, bis mir die Geduld reißt und ich eine zornige Antwort gebe, durch die ich mich ins Unrecht setze. Darauf hat Ganna nur gewartet. Sie nützt den Vorteil rachsüchtig aus. Sie findet, ich mache mir die Menschen systematisch zu Feinden und dürfe mich daher nicht wundern oder beklagen, wenn es mir an Publikum fehle. Eine giftige Bemerkung, die dadurch nicht weniger verletzend ist, daß sie zwei verschiedene Kategorien rabulistisch verquickt. Rede, Widerrede, Ganna ergibt sich nicht. Es nimmt kein Ende, nimmt dermaßen kein Ende, daß nachts um zwei Uhr die Ohnegrolls mit einem Besenstiel von unten an die Decke stoßen. Ganna überhört es. Sie verbeißt sich in jedes meiner Worte. Kein Gesäusel und Geflöte mehr wie im Salon der Würdenträger und der Renten, sondern rechthaberisches Zetern und eine Suada, die keinen rhetorischen Kniff verschmäht, um den Gegner in die Kniee zu zwingen. Das Tolle ist, daß ich wirklich in die Kniee breche. Das hat mich immer wieder in starres Staunen versetzt. Bedenk ichs heute, so kann ich nicht umhin zu glauben, daß die Sinnlichkeit daran mitschuldig war, der augenlose Trieb, in dem etwas wie Betäubungssucht steckte.
Mit Schrecken erinnere ich mich an Tage, da der kleine Ferry krank war. Beim leisesten Anzeichen von Fieber geriet Ganna außer sich. Zunächst wurde das Kinderfräulein einem strengen Verhör unterzogen. Hatte sie eine Verfehlung begangen, in der Diät oder in der Wartung, dann brach das Unwetter über ihr los, und ihr wurde gekündigt. (Wenn das Fieber sank, wurde die Kündigung widerrufen.) In solchen Fällen versammelten sich in Gannas Hirn die Bilder aller erdenklichen und möglichen Krankheiten und durchrasten ihre Phantasie wie eine entfesselte Meute. Jede Exaltation rechtfertigte sich bei ihr durch die eingebildete Gefahr. Aber die Gefahr kann vermieden werden, wenn man beizeiten die Ursache erkennt. Der Mensch, will sagen Ganna, hat alles in der Hand, Glück und Unglück, Leben und Tod. Hält er sich an die Ratschläge der Ärzte und die Vorschriften der Wissenschaft, so kann ihm nicht viel passieren. Das größte Übel sind die Bazillen. Den Kampf gegen die Bazillen stellt sich Ganna im Grund als eine Art Flohjagd vor. Man ist immun, wenn man den Doktoren und Professoren den Trick abgeguckt hat, durch den sie diese bösartigen Organismen zähmen und dressieren. Da Ganna fast bei allen Krankheiten genau sagen kann, wie man sich die Krankheit zugezogen, gibt es auch immer eine Schuld und einen Schuldigen. Wenn sie Gliederreißen bekommt, weiß sie nach Wochen noch, daß ich ihr abgeredet habe, den Pelz anzuziehen, als wir an einem bestimmten Tag, den ich längst vergessen habe, zu Tante Klärchen fuhren. Ganna schaut der Natur auf die Finger. Sie glaubt an die Arzte wie ein frommer Katholik an das Sakrament. Bei der geringsten Unpäßlichkeit wird der Arzt gerufen, ja, wie sich von selbst versteht, der Spezialist für das betreffende Leiden. Jeder Arzt ist in ihren Augen ein allmächtiger bürgerlicher Gott. Aber wehe dem Gott, wenn ihm nicht rasche Heilung gelingt. Dann begeht sie Blasphemie und ruft, Tochter des heidnischen Krals, einen andern Gott zu Hilfe.
Ich habe oft dagegen angekämpft. Ich habe sie belehrt, gewarnt, beschworen. Vergeblich. Es sind Ausschweifungen des Gefühls, sagte ich mir dann, man lebt in einem Treibhaus der Gefühle. Der Alltag ist etwas Gemeines; das Gefühl verschlingt ihn. Das Gefühl wird Spiegel und Norm der Welt. Ganna in den Arm zu fallen und die Richtung ihrer Bewegung zu verändern ist so aussichtslos als wolle man einen Orkan bitten sich nach einer andern Himmelsgegend zu wenden. Ich begann ihre Maßlosigkeit zu fürchten. Da meine Kraft auf anderm Feld gebunden war, fehlte sie mir, wenn ich sie ihr gegenüber brauchte. Manchmal schloß ich einfach die Augen, wenn ich sah, was zu sehen mich nicht freute. Ich bemühte mich, das Erlebnis Ganna als meine Bestimmung hinzunehmen. Je mehr die Wirklichkeit auf mir lastete, je mehr entlastete mich das Bild, das ich mir von Ganna schuf. Es war wie aus Erz, unzerstörbar für lange. Ein dämonischer Mensch, sagte ich mir. Es war das erste Aufblitzen einer Erkenntnis, die später, viel später wie ein Feuerbrand über mich kam. Dämonisch; an sich besagt das Wort ja wenig. Es ist ein Ausredewort, eine falsche Münze. Es soll etwas Unerklärliches billig erklären und seelische Unzulänglichkeit einer unbekannten Macht in die Schuhe schieben. Zu jener Zeit war Ganna aber noch nicht aus den Fugen. Ich hätte sie noch in die Gewalt bekommen können, wenn ich aufmerksam, wenn ich wachsam, wenn ich härter gewesen wäre.