Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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3

Er wollte nicht richten, er wollte wissen. Zunächst erfüllte ihn nur die qualvolle Begierde, zu erfahren, wie und wann sie sich verloren hatte. Diese Auffassung des Sichverlorenhabens wirft ein bezeichnendes Licht auf die Gemütslage eines Mannes, der unter andern Umständen nicht daran gedacht hätte, sich moralisch aufzulehnen. Sie war der Beginn eines verhängnisvollen inneren Konflikts. Und Marie, verwirrt in Herz und Seele, empfand die Geständnisse, zu denen er sie fanatisch drängte, als Erleichterung und als Vergeltung.

Es muß aus ihr heraus, sonst vergeht sie in Scham, Bitterkeit, Zerknirschung und Verzweiflung. Und in Sehnsucht, das ist das Schreckliche, in Sehnsucht nach dem, der sie verlassen hat und geflüchtet ist, man weiß nicht wohin. Nicht dem Gatten erschließt sie sich mit der Schonungslosigkeit der Selbstzüchtigerin, dem Freund wirft sie sich hin, dem einzigen Menschen auf der Welt, der das Geschehene begreifen muß. Das verlangt sie von ihm mit der Naivität, die allen Seelenkranken eigen ist: daß er nicht mit ihr rechte, daß er sich selbst und seinen Schmerz hintanstelle, daß sie zu ihm aufsehen und sich alles vom Herzen reden kann, was sie peinigt und bedrückt. Sie ist schuldig, maßlos schuldig, aber sie kann es nur zugeben, wenn er sie nicht für schuldig erklärt.

Es ist nicht mehr die Marie, die er kennt oder zu kennen geglaubt hat. Es ist eine Frau, die ihr einmaliges, unwiderrufliches Sinnen- und Blutserlebnis gehabt hat, und dieses gibt sie nicht preis. Ihre Person gibt sie preis; gut, du kannst mit mir machen, was du willst, scheint sie zu sagen, jag mich auf und davon, nimm mir die Kinder weg, nenn mich Betrügerin und Lügnerin: ja, ja, ja: das Erlebte gibt sie hingegen nicht preis.

Kerkhoven steht vor einem Rätsel. Er meint doch einigen Einblick zu haben in die Dämonien der Seele, aber was hier vorgeht, kann er nicht ergründen. Es ist wohl die Gebundenheit an sie, die Liebesnähe, die unsichtbare Nabelschnur zwischen ihr und ihm, die ihn so ratlos machen. Sie ist zu tief hinuntergestürzt, denkt er, ich kann sie nicht erreichen. Den eigenen Sturz nimmt er plötzlich nicht mehr wahr oder vergißt ihn, weil es ihn tröstet, daß er die Haltung dessen vortäuschen kann, der sich hinabbeugt. Und sie läßt sich auf das Spiel ein und fleht mit gefalteten Händen zu ihm empor, er möge sie hinaufziehen. Er hat nicht die Kraft. Noch nicht. Er will wissen. Zuerst muß er alles wissen. Im Wissen steckt eine erlösende Mitverschuldung.


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