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Schon in den letzten Monaten des Jahres 1930 hatte unmerklich jener seltsame Aufstieg Joseph Kerkhovens begonnen, der nicht auf sozialen, auch nicht auf ärztlich-wissenschaftlichen, sondern fast ausschließlich auf menschlichen Errungenschaften und Leistungen beruhte. Was bedeutet aber der unklare Begriff »menschlich« hier? Unaufhörlichen Einsatz der Persönlichkeit bis zum Selbstopfer. Um Kranke und Leidende ging es nur im engsten Kreis seines Wirkens, und wo er sich als Arzt im eigentlichen Sinn zu betätigen hatte, war er sich in den meisten Fällen schon der Vergeblichkeit, ja Zweckwidrigkeit seines Tuns bewußt. Der Kranke und der Leidende stellten ihn vor ein vollzogenes Faktum. Manchmal ließen sich die Wunden zur Not heilen, manchmal nicht; man konnte dem und jenem, der Leib und Seele töricht oder lästerlich hatte verkommen lassen, für eine Weile wieder aufhelfen, die geschädigte Funktion wieder zum Dienst zwingen, das mißhandelte Organ wieder gebrauchsfähig machen, Schmerzen, wenn nicht beseitigen, so doch betäuben, ein verfinstertes Gemüt, wenn nicht nachhaltig, so doch vorübergehend aufhellen; man konnte einen Gehirntumor im Entstehen diagnostizieren und durch rechtzeitige Operation das gefährdete Leben retten; man konnte ein zugrundegerichtetes Herz durch unendliche Sorgfalt aus der Todesnähe entfernen, aber das alles war Flick- und Stückwerk, das einmal angegriffene und bedrohte Leben war fast immer schon ein verlorenes Leben. Selten war Krankheit fruchtbringend; selten war Leiden ein Lebenswert; wenn sie es waren, dann freilich stand der Arzt vor seinen höchsten Aufgaben. Es im einzelnen zu erkennen, war schwer; die Entscheidung zu treffen, führte zu kaum tragbaren Verantwortungen.
Darüber hinaus waren es aber die Zeit, die allgemeine Seelenlage, die beispiellose Seelennot, die verheerend um sich greifende Existenzangst, die Verdorrung aller Liebesinstinkte, die Abdrängung und Abschnürung von drei Vierteln der Menschheit von Produkten, von Arbeit, von der Verbundenheit mit dem Ganzen, von jeglicher Erfüllung überhaupt, die Kerkhovens Aufmerksamkeit in einem Maße auf sich zogen, daß ihm demgegenüber alles andere nicht mehr von Belang erschien. Und da bewahrheitete sich wieder die Erfahrung, daß einer nur bis zum Kern seines Wesens, erkennend oder wirkend, in einer Sache zu stehen braucht, und er wird, durch eine Art von Magnetismus, zum Richtpunkt und zur Zuflucht aller derer, die kämpfend oder untergehend darin verstrickt sind. Aber wie gesagt, mit seinem ganzen Denken und Fühlen muß er erfaßt sein, dann kann er in der Wüste Gobi oder in der Antarktis oder in einem afrikanischen Urwald sitzen, und die Ausstrahlung seines Willens und Geistes, die gesammelte Bereitschaft in ihm, das tätige Herz wird die Menschen zu ihm hintreiben wie Bienen durch die Emanationen einer reifen Blüte zu meilenlangem Flug bewogen werden.
Dies ist, im Fall Joseph Kerkhoven, keine Erfindung, keine schöne Fabel. Wir haben hierüber die bestimmtesten Nachrichten und schlagendsten Belege und könnten mit einer Überfülle von Beispielen dienen. Rätselhaft, wie viele Leute, in allen möglichen Ländern verstreut, sich plötzlich seiner erinnerten und wie sie herausbrachten, wo er wohnte und wie er zu erreichen war. Die ihm Briefe schickten, entweder mit den Schilderungen eigenen Elends erfüllt oder mit dem ihrer Freunde, Genossen und Verwandten. Ob es Hungernde und Unterstandslose waren, politische Flüchtlinge oder in ihrem Beruf Entgleiste, mitten in einem Werk Niedergebrochene oder über Nacht Verarmte, Leute aus allen Ständen und Schichten, von jeglicher Geisteshaltung, Greise und Jünglinge, Mädchen und Frauen: alle, alle kamen zu ihm, standen an seinem Weg, drängten sich zu jeder Tages- und Nachtstunde in seine Einsamkeit, telephonierten und schrieben, legten ihm Dokumente vor, erzählten ihre Schicksale, sprachen von ihren Hoffnungen, baten um Empfehlungen, um Rat, um Brot, um Stellung, um Arbeit, und wen nicht das eigene Hangen und Bangen zu ihm führte, der verlangte Aufschluß, Deutung der Katastrophe, von der die Menschheit heimgesucht war, Gespräch und tröstendes Wort.
Er suchte zu genügen. Er machte sich zum Postenjäger für eine Armee von Beschäftigungslosen. Wo immer ein vakantes Amt war, er hatte einen Anwärter dafür, dem er es verschaffte. Wenn hier eine Schreibmaschine war und hundert Kilometer weit entfernt ein Mensch, der ihrer bedurfte, so brachte er die Maschine und den Menschen zusammen. Wurde in einer Tuberkulosenheilstätte ein Platz frei, so hatte er sofort die Person bei der Hand, die darauf wartete. Leuten, die Bilder und Möbel veräußern wollten, verhalf er zu einem Käufer und sorgte dafür, daß sie nicht betrogen wurden. Er wußte, wo man Hauslehrer, Hofmeister, Erzieherinnen, Pflegerinnen brauchte, und schickte diejenigen hin, die hiezu geeignet waren. Zu dem Zweck mußte er fortwährend weitverästelte Beziehungen unterhalten und sein Gedächtnis mit Namen und Adressen vollstopfen. Menschen, die in der Krise ihr Vermögen eingebüßt hatten, entlockte er wie ein geistiger Schatzgräber bisher brachgelegene Gaben und Fähigkeiten, durch die sie eine Weile ihr Leben fristen konnten. Er fügte Ehen wieder zusammen, die durch jahrelangen Unfrieden zerstört waren, und brachte Paare zum Auseinandergehen, die sich in tödlichem Hader aufrieben. Wenn er sich in einer der benachbarten Städte aufhielt, waren auf seiner Liste immer schon so viele Fälle vorgemerkt, daß er alle Neuhinzukommenden abweisen mußte, und oft erinnerte er sich erst am Abend während der Heimfahrt, daß er seit dem Frühstück keinen Bissen zu sich genommen hatte. Obwohl seine materiellen Umstände nicht die besten waren (die Einnahmen aus der Praxis waren gering, und das Kapital, das er damals in Berlin hatte flüssig machen können, ging stark auf die Neige), half er mit Geld aus, wo er konnte, nicht selten mit ansehnlichen Summen. Es war ihm unmöglich, eine Notlage zu ignorieren, wenn ihr mit einem Hundertfrankenschein, den er in der Tasche trug, gesteuert werden konnte.
Verzweiflung nahm er nicht an; er bewilligte sie sozusagen nicht; keinem. Er anerkannte nicht das Pathos, in das sich jeder Verzweifelte hüllt wie ein Schauspieler in sein Kostüm. Er übte auch nicht Kritik, weder an den Menschen noch an ihrem Schicksal noch am Zustand der Welt. Dazu ließ er sich nicht herab. Sich gegen das Unabwendbare aufzulehnen macht klein. Die freundliche Ruhe, womit er die trübsten Geständnisse anhörte, den zu Boden Geschlagenen aufrichtete und noch in der aussichtslosesten Verwirrung mit divinatorischer Sicherheit den einzig gangbaren Weg zeigte, wirkte auf viele wie ein Wunder und war an sich schon Hilfe.
Aber auch in einer unermeßlich reichen Seele erschöpft sich der Kräftevorrat, wenn zu keiner Zeit mit ihm hausgehalten wird. Eines Tages meldet sich die Natur und hält dem Verwirtschafter die Rechnung vor. Und dieser Tag ließ nicht lange auf sich warten.