Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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30

Sie machte sich auf den Weg. Mit einem Ausweis versehen, begab sie sich in die verschiedenen Quartiere. Sie erblickte Dinge, Menschen, Zustände, die ihr das Herz im Leibe auseinanderrissen. Nie wird man wieder lachen können, nie wird man sich wieder freuen können, war ihr steter Gedanke. Da waren Kinder, die sie mit verwilderten Augen anglotzten wie den bösen Feind. Weil die Fürsorge überall gefürchtet und gehaßt war, hatte man ihnen die dümmsten Lügen eingebläut, die sie angstvoll und trotzig herplapperten. Manche standen vor ihr, wie galvanisierte kleine Leichname; die verblödeten Mienen erregten den Verdacht, als verständen sie die menschliche Sprache nicht. Mit dem Mißtrauen waren sie auf die Welt gekommen, alle, Hunger, Schmutz, Roheit, Hoffnungslosigkeit waren ihre natürlichen Lebensbedingungen, von andern ahnten sie nicht einmal etwas. Auch in den Augen der Aufgeweckten wohnte meist eine unergründliche tierische Traurigkeit. Sie hausten in übelriechenden Löchern, gepfercht wie Schafe. Ihre Haut war graugelb, wie die Haut mancher Pilze. Wenn sie die Lippen öffneten, sah man farbloses Zahnfleisch.

Zum Weinen ist keine Zeit, sagte sich Marie, wenn ihr der Atem stockte und die Hände kalt wurden, zum Weinen haben wir kein Recht, wir, die mit verschränkten Armen dasitzen wie freche Götzen; wie stellen es nur diese Leute an, die aus der sogenannten Hilfsaktion einen Beruf machen? wie kommt es, daß sie ruhig in ihren Häusern wohnen, daß sie essen und schlafen können. Wie sollen wir nach dem, was Tag für Tag geschieht vor unseren Kindern bestehen? was sollen sie von uns denken, wenn ihnen später einmal klar wird, daß wir sie mit Phrasen und Unwahrheiten gefüttert und ihnen eine Welt voll Grausamkeit und Irrsinn hinterlassen haben?

Sie hatte fünf oder sechs Kindern Unterkunft geben wollen, aber als sie es einmal begonnen hatte, war es schwer, die Grenze zu ziehen. Sie durfte vor allem ihre Mittel nicht überschreiten, sonst war der Anfang auch schon das Ende. Sie brauchte freiwillige Helferinnen für die Pflege. Die fanden sich. Ellen Ritter empfahl ihr mehrere, unter denen sie wählen konnte. Sie entschied sich für zwei junge Mädchen, Fräulein Bertvani, Tochter eines Studienrats, und Grete Kohl, ein rothaariges, etwas vertrocknetes, aber gutherziges Geschöpf. Eine Zeitlang hatte Marie auch an Aleid gedacht, ihre Tochter aus erster Ehe; sie war in dem Alter, daß sie der Mutter hätte beistehen können. Marie hatte ihr geschrieben, jedoch eine ausweichende Antwort bekommen; die Großmutter wolle sie nicht fortlassen; sie könne sich jetzt nicht gut von Dresden trennen, gewisse Beziehungen hielten sie fest und dergleichen mehr. Sie wußte längst, daß sie Aleid verloren hatte. Man verliert eben Kinder, auch wenn man sich noch so sehr um sie bemüht hat.

Manches Kopfzerbrechen bereitete ihr die Frage, wie sie die veränderte Haushalts- und Lebensform Robert und Johann, ihren zwei Knaben, begreiflich machen sollte. Fünf- und neunjährige Buben sind Autokraten, die Mutter erscheint ihnen als ihr ausschließliches Eigentum. Zudem hatte sich Marie seit der Abreise ihres Vaters auf das innigste mit ihnen befaßt. Die Zumutung ihre Mutter mit einer Anzahl wildfremder Jungens und Mädels zu teilen, konnte das neugeschaffene Verhältnis ernstlich gefährden. Am ehesten waren sie durch List für die Sache zu gewinnen, durch Hinweis auf Spiel und Unterhaltung. Sie fand sie zugänglicher, als sie erwartet hatte. Besonders Johann war Feuer und Flamme. Die Beschützer- und Helferrolle, die sie ihm zugedacht hatte, schmeichelte ihm. Der kleine Robert schwankte zwischen Neugier und Eifersucht, faßte aber das ganze schließlich doch als Abenteuer auf. Blieb immer noch das Problem der Zeiteinteilung. Sie hatte bis jetzt viele Stunden täglich mit den beiden verbracht. Fühlten sie sich vernachlässigt, gerieten sie in Trotz gegen sie (die schwersten Verluste erleidet man durch Trotz), so büßte sie auf der einen Seite ein, im Bereich des Bluts sozusagen, was sie auf der andern, im Bereich des Dienstes gewann.

Aber was gewann sie denn ? Sie hatte sich alles viel einfacher, natürlicher und leichter vorgestellt als es war. Sie hatte nur mit sich, mit der Kraft ihres Wollens, mit der Erfülltheit ihres Herzens gerechnet, nicht aber mit den Menschen, mit denen sie zusammenstieß.


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