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Eine Woche später meldete sich nämlich die Mutter; sie kam zu Marie und forderte das Bübchen barsch zurück. Sie hieß Marie Papier, hatte noch ein halbes Dutzend anderer Kinder, mit denen sie in einem Scheunenraum in der Rückertstraße wohnte. Das Recht den Knaben zu verlangen, konnte man ihr nicht abstreiten: seinen Aufenthalt hatte sie nach endlosen Laufereien und Erkundigungen ausfindig gemacht; allein der kleine Chaim sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, ihr ausgeliefert zu werden. Als sie ins Zimmer trat, verzerrte sich sein blasses Gesichtchen krampfig, er lief zu Marie und klammerte sich fest an ihren Rock. Marie wunderte sich; für ein Judenkind war ein solches Verhalten ungewöhnlich, da doch bei Juden, wie sie wußte, zwischen Eltern und Kindern ein wahrer Kultus der Zusammengehörigkeit herrschte. Es erschütterte sie nicht weniger, als sie später den Grund dieser unerklärlichen Aufsässigkeit erfuhr. Der Knabe war von den christlichen Kindern der Nachbarwohnungen wegen seines jüdischen Namens und Aussehens Tag für Tag beschimpft und verprügelt worden; zum Schluß hatte sich eine derartige Angst und Verzweiflung seiner bemächtigt, daß er eines Abends einfach weggelaufen, einfach in die Welt hinausgelaufen war. Und jetzt kam zu alledem noch dazu, daß er eine seltsame, halb rührende, halb phantasievolle Leidenschaft für Marie gefaßt hatte. Die fremde Frau, die wie ein Engel in sein düsteres Leben getreten war, erschien ihm überirdisch gut und schön, sodaß der Gedanke, sie verlassen zu sollen, von ihr fortgenommen zu werden, ihm das größte Unglück dünkte, das ihm widerfahren konnte. Marie, die, wie gesagt, sein heftiges Sträuben zunächst nicht begriff, es war immerhin die Mutter, die ihn zurückbegehrte, dem äußeren nach eine rechtschaffene und gutmütige Frau, hatte Erbarmen mit seinem Zustand und erlangte durch diplomatisches Zureden von Frau Papier eine achttägige Frist, während welcher sie das widerspenstige Kind gefügig zu machen versprach. Die Frau schien damit zufrieden und entfernte sich.
Am andern Tag mußte Marie in ein Haus in der Memler Straße, weit draußen an der Frankfurter Allee. Sie war schon eine Woche zuvor dort gewesen. Es handelte sich um zwei Kinder eines Schuhmachers, zehn- und elfjährige Mädchen, von denen ihr besonders die jüngere, Hede mit Namen, am Herzen lag und Sorgen einflößte. Die Behausung der Familie war eher ein Stall als eine menschliche Zufluchtsstätte, der Mann verdiente nichts und soff (neunzig Prozent aller dieser Männer und Väter waren unheilbare Alkoholiker), die Frau lag seit Weihnachten krank darnieder. Es war zwischen acht und neun Uhr abends, als Marie hinkam; sie war in der Station bei Ellen Ritter aufgehalten worden, dann hatte sie den Doktor Hansen nicht loswerden können, der trotz ihrer Ablehnung dabei beharrt hatte, sie ein Stück Wegs zu begleiten. Auf der Stiege vernahm sie entsetzlichen Lärm. Leute rannten schreiend auf und ab, riefen nach der Schupo, nach dem Rettungswagen, auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung des Schusters war ein Gedränge von Männern und Weibern, ein Frauenzimmer, das unter einem grellroten Schal nur ein Hemd anhatte, berichtete Marie in kaum verständlichem Berlinerisch und mit aufgeregter Hast, was vorgefallen war: sie hatte vom Nebenraum aus alles mitangehört. Vor einer halben Stunde war der Mann sternhagelvoll heimgekommen. Die Frau lag ächzend vor Schmerzen im Finstern, die zwei Mädchen hatten sich auch schon niedergelegt, der besoffene Kerl brüllte und tobte, weil er die Kerze nicht finden konnte. Bei seinem Suchen schmiß er Gläser, Teller und Flaschen auf die Erde, daß die Scherben den ganzen Fußboden bedeckten, endlich entdeckte er einen Kerzenstumpf und zündete ihn an. Da sich die Frau nicht rührte, um ihm zu helfen, überhäufte er sie mit gräulichen Flüchen und als sie ihn um Gotteswillen bat, stillzusein, sie halte es nicht mehr aus, fiel er mit der Schusterahle über sie her, stach blindlings auf sie los und verletzte sie schwer an Brust und Hals. Die Mädchen sprangen aus ihrem Bett, die älteste lief auf den Flur und schrie. Hede stellte sich schützend vor ihre Mutter, doch konnte das schmächtige und kraftlose Kind gegen den Wüterich nichts ausrichten, er stach auch auf sie los, so daß sie blutüberströmt zusammenbrach. Da erhob sich die kranke Frau mit einem dumpfen Wehelaut von ihrem Lager, schleppte sich mit letzter Kraft zum Fenster, riß es auf und stürzte sich, vier Stock hoch, in den Hof hinunter, gerade in dem Augenblick, als die Nachbarn in die Stube drangen, um den Unhold zu bändigen.
Es war wie ein Angsttraum. Das Durcheinander von Stimmen, das Gewühl der Leiber, die Gerüche von Schweiß, Blut, Schnaps, der Krankendunst und Pfeifenrauch umnebelten Maries Sinne. Sie wollte zu dem kleinen Mädchen hinein. Während sie sich gegen die Tür drängte, sagte jemand auf der Stiege, die Frau sei tot, ein anderer widersprach und behauptete, sie atme noch, aber es gehe mit ihr zu Ende. Als die Helme einiger Schupoleute auftauchten, war Marie schon in der Stube drinnen. Vier Männer hielten den tobsüchtigen Schuhmacher fest. Marie konnte später nicht sagen, wie es zugegangen war, daß der Mensch sich losgerissen hatte, während sie vor dem bewußtlosen Kind kniete und ihm das Blut von Mund und Augen wischte; ob er sie oder die Ohnmächtige schlagen gewollt, ließ sich natürlich auch nicht mehr ermitteln; jedenfalls taumelte er in kochender Wut, geifernd und röchelnd, auf sie zu, und ehe sie dem Schlag ausweichen konnte, traf sie seine steinharte Faust an der Schläfe. Als sie wieder zur Besinnung kam, lag sie im Rettungsauto; auf ihre geflüsterte Bitte schaffte man sie in ihre Wohnung, die erschrockene Grete Kohl kleidete sie aus und brachte sie zu Bett, indes Anna Bertram nach der Doktorin Ritter telefonierte. Diese stellte einen Nervenchock mit achtunddreißig Grad Fieber fest. »Ich glaube, wir müssen unsern wilden Eifer dämpfen,« sagte die Ärztin mißbilligend. Marie antwortete mit leichtem Frösteln: »Den Eifer kann man dämpfen, Ellen, aber man weiß doch jetzt... man weiß doch...«