Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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38

Den Entschluß, Berlin zu verlassen, faßte sie ganz plötzlich; den Anstoß gab Eugen Hansen. Eines Abends kam sie von einem Gang in die Apotheke nachhause. Es war ziemlich spät, der warme Juniabend hatte sie noch in den nahen Park gelockt, in der Wohnung war schon Schlafensruhe. Als sie ihr Zimmer betrat und das Licht aufdrehte, fuhr sie zurück: Hansen saß auf einem Stuhl am Fenster, stumm und steif, als ob er ihr Kommen nicht bemerkt hätte. »Was soll das heißen... wer hat Sie hereingelassen?« stammelte sie. Er kehrte ihr langsam, mit einem verzerrten Grinsen, das Gesicht zu. »Kleine Verschwörung,« murmelte er, »regen Sie sich nicht auf, Frau Marie.« Nachher stellte es sich heraus, daß er dem Mädchen vorgelogen hatte, er habe der gnädigen Frau etwas Wichtiges mitzuteilen und müsse unbedingt auf sie warten. »Das geht zu weit,« sagte Marie zornig; »ist man wehrlos gegen Überfälle?« Er erhob sich und schritt auf sie zu. »Sie wollen Ihre Leute herbeiklingeln,« sagte er mit unheimlicher Ruhe, als sie eine Bewegung nach der elektrischen Klingel machte; »aber bis die kommen, wird alles vorüber sein.« Damit zog er einen Revolver aus der Rocktasche und entsicherte ihn bedächtig.

Einen Augenblick lang lief es Marie kalt über den Rücken. Daß der Mann keinen Spaß machte, daran war nicht zu zweifeln, das spürte sie. Sein Benehmen war gänzlich untheatralisch, die Haltung salopp, die Miene finster und gleichgiltig. »Fürchten Sie nichts für sich,« begann er wieder mit dürrer Stimme und sonderbar grellem Lächeln; »obwohl... es wäre eine nette Sensation... Mord und Selbstmord in der Niebuhrstraße... was meinen Sie, was das für ein Fressen für die Zeitungen wäre... Frau des berühmten Joseph Kerkhoven Opfer eines unglücklich Verliebten und so weiter... Aber davon ist nicht die Rede. Der Plan war eigentlich... ich wollte mich hier erledigen, bevor Sie zurückkamen. Sie sollten sehen, was Sie aus mir gemacht haben. Bißchen rachsüchtig, ich gebs zu. Indessen... es ging nicht... wollte Sie noch einmal... mit dem letzten Blick auf Ihr wunderbares Gesicht, Marie... Ihr Leben ist kostbarer als meins, das beste, was ich dafür tun kann, ist, es Ihnen vor die Füße zu werfen... man demonstriert eben, wenn man sonst keinen Ausweg sieht...«

Er umfaßte den Griff des Revolvers, legte den Finger an den Hahn und hob den Blick langsam bis zu Maries Mund. Trotz der unerträglichen Spannung des Moments hatte sie dieselbe peinliche Empfindung, die sie stets überkam, seit ihren Mädchenjahren, wenn ihr ein Mann auf den Mund schaute. Sie wich ein wenig zurück, gegen die Wand, um sich zu stützen. Nicht aus Schwäche oder Angst, keineswegs. Die Hände flach an die Mauer gedrückt, den Kopf in den Nacken werfend, sagte sie: »Also los! Schießen Sie! Wozu das Geschwätz? Es ist nicht schade um so einen. Los!«

Zehn Sekunden Schweigen. Der Ausdruck in Hansens Gesicht erinnerte an den eines Hundes, der in einem Anfall von Raserei durch das befehlende Wort seines Herrn stutzig wird und ihn betroffen anstarrt. Der Arm mit der Waffe sank schlaff herunter. Der ganze Mensch schwankte unmerklich. Marie ging mit etwas schleppenden Schritten zum Sofa, setzte sich hin, deutete mit der Hand auf den daneben stehenden Stuhl und sagte: »Wollen Sie mich einen Augenblick anhören? Nehmen Sie, bitte, Platz.« Er gehorchte zögernd, immer noch mit dem Ausdruck verstörter Unschlüssigkeit. Die Haare hingen ihm schweißnaß in die Stirn. Marie fuhr fort: »Wenn Sie glauben, Sie können mich durch Erpressung willfährig machen, sind Sie im Irrtum. Schweigen Sie, es ist eine Erpressung. Ich will Ihnen was sagen: ich gehöre nicht zu denen, die sich prinzipiell entsetzen, wenn ein Mann von ihnen verlangt, daß sie mit ihm schlafen sollen. Das liegt mir nicht. Aber mich dazu vergewaltigen lassen? Nein. Erst hätten Sie mir beweisen müssen, daß Sie wer sind. Wenn Sie sich eine Kugel in den Kopf jagen, läßt mich das genau so kalt wie wenn Sie mir eine Tausendmarknote auf den Tisch legen als Preis für eine Nacht. Es geht mich nichts an. Es rührt mich nicht. Ich kenne Sie ja kaum. Was soll mich für Sie einnehmen? Von Rücksicht oder Zartheit oder Männlichkeit haben Sie mir bis jetzt nichts gezeigt. Bloß weil Sie sichs in den Kopf gesetzt haben, soll ich mich fügen? weil Sie daherkommen wie ein Wegelagerer, der rauben will, was man ihm nicht schenkt? Nein, lieber Freund, so tun wir nicht. So nicht.« Sie schüttelte verächtlich den Kopf.

Hansen hatte den Arm auf die Lehne des Sessels, das Kinn in die Hand gestützt und hörte zu, vernichtet. »Was Sie sagen, ist fürchterlich wahr,« sprach er dumpf vor sich hin, »aber es bringt mich keinen Schritt weiter. Ich frage Sie jetzt wie man einen... wie ich Joseph Kerkhoven fragen würde, wenn er vor mir stünde: was soll ich machen? wie soll ich wieder zu einer Art Seelenruhe kommen?« – »Unsinn,« entgegnete Marie lebhaft, »niemand kann Ihnen raten und helfen außer Sie selber. Der Wille ist ein Herr.« – »Verzeihen Sie, das sind philosophische Küchenabfälle.« – »So? finden Sie? Ach, ich weiß, alles was ein Mensch dem andern sagt, kann zum Schlechten mißbraucht werden.« – »Ich habe Verwandte in Schweden. Die würden mich aufnehmen. Ich könnte mich um das Rockefeller-Stipendium bewerben...« – »Ja, ja, also,« rief Marie. – »Wenn ich mir vorstellen könnte, Frau Marie, daß Sie nur mit einem Funken Ihres Herzens an mich glauben, daß ich nicht bloß ein Dreck in Ihren Augen bin...« – »Unsinn Nummer zwei, Doktor Hansen. Der leiseste Versuch, aus der Tollheit herauszukommen, rettet Sie für mich. Daß ich achten kann, ist meine Lebensgrundlage. Wenn ich nicht mehr achten kann, bin ich verloren. Ich, nicht der andere.« – »Ist das wahr?« – »Es ist wahr. Und sehen Sie, auch ich würde Ihnen gesagt haben: gehen Sie weg, nach Schweden, in die Südsee, wohin Sie wollen, bauen Sie sich ein Schicksal, stellen Sie sich eine Aufgabe, machen Sie Schluß mit dem Selbsthaß und dem Welthaß, aber ich bin selber im Aufbruch, selber auf der Flucht, meine Existenz brennt an allen Ecken und Enden. Hätten Sie das nur bemerkt, die Gedanken nach mir wären Ihnen vergangen.«

Hansen schaute eine Weile schweigend zu Boden. Dann stand er auf und sagte in verändertem Ton: »Ich werde Sie zu vergessen suchen, Frau Marie. Nicht Ihr Bild, das kann ich nicht, aber das andere... den Irrtum. Klingt es nicht abgedroschen, wenn man sagt: Sie haben einen neuen Menschen aus mir gemacht? Gibt es das überhaupt? Jedenfalls gibt es so jemand wie Sie auf der Welt. Das genügt.« Marie schüttelte wehmütig abwehrend den Kopf, doch er wiederholte: »Das genügt. Das genügt.«

Als er fort war, ließ sich Marie in die Kissen des Sofas fallen und lag regungslos bis über Mitternacht. Sie war unsäglich müd. Warum denn? warum denn so müd? rief sie sich verzweifelt zu; wo sollen denn da die Kräfte herkommen, mit denen ich von vorn anfangen will? Und immer wieder hörte sie die erschütternde Frage des jungen Arztes: einen neuen Menschen, gibt es das überhaupt?


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