Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Wir sehen Alexander Herzog in kainhafter Rastlosigkeit umhergetrieben. Aus seiner Erde, seiner Landschaft, seiner Stille gerissen, wurde ihm jeder andere Aufenthalt zur Pein. Dies äußerte sich in zweierlei Arten, teils in Menschenhunger, teils in Menschenscheu. Teils glich er einem abgesetzten und verjagten Fürsten, der seiner verlorenen Sache Anhänger gewinnen will, teils einem verurteilten Bankrotteur, der Angst hat, erkannt zu werden.

Als Kerkhoven späterhin diesen Zustand zu ergründen versuchte, stieß er auf ein verschlungenes Gewebe von Motiven, die eine ebenso unheimliche wie zeitbedingte Erkrankung aufdeckten: Einsturz des Identitätsbewußtseins. Daher auf der einen Seite der Drang, sich mitzuteilen, zu eröffnen, zu erklären, zu rechtfertigen und auf der andern die Furcht, als ein Ausgestoßener zu gelten, der nicht mehr mitzählt und sich und seine Rolle in der Welt heillos überschätzt hat.

Das Werk, das hinter ihm stand und das er fühlte wie eine Mutter von zehn oder zwölf Kindern die Existenz dieser Kinder fühlt, wurde ihm zum Popanz; der Ruhm, auf den er sich gestützt, zur eitlen Einbildung; die Liebe und Bewunderung von Vielen, die ihm zuströmte, zur Heuchelei; die erhoffte Altersernte gereiften Schaffens zur törichten Illusion. Es war eben alles zerschmettert.

Natürlich versuchte Bettina, obwohl sie selber mit ihren Kräften am Rande war, gegen diese gefährliche Verdüsterung anzukämpfen. Wie beredt sie war mitten in ihrem eigenen grauen Leid! Welche Mühe sie sich gab, ihm eine Zuversicht einzuflößen, die sie zuzeiten selbst nicht mehr empfand! Er hörte ihr zu und schüttelte den Kopf. »Wie willst du mir beweisen, daß ich für die Welt noch da bin?« fragte er dumpf, »daß ich ihr noch was wert bin? du siehst den Alexander Herzog, der ich zu sein glaube, nicht den traurigen Überrest von ihm, der sich künstlich mit den Inhalten eines bereits in Verwesung übergegangenen Lebens füllt. Gehöre ich der Zeit noch an oder hat sie mich am Wege stehen gelassen? Antworte, wenn du kannst. Du kannst nicht antworten. Auch in deinen Augen bin ich erledigt. Ein entlassener Domestik, der froh sein muß, wenn man ihm das Zeugnis gibt, daß er treu, fleißig und ehrlich gedient hat. So ist es. Ganna hat nur die Axt an einen umgestürzten Baum gelegt.«

Bei solchen Verzweiflungsausbrüchen erstarrte Bettina das Herz. Ihren Widerspruch hielt er für unaufrichtig. Er brauchte andere Bestätigungen als die ihren. Um sie zu finden, raste er von Stadt zu Stadt, nach Genf, nach München, nach Heidelberg, nach Paris, nach Sankt Moritz, in seine fränkische Heimat. Überall umgab er sich einen Tag lang mit Menschen, bekannten und unbekannten. Aus ihrem Verhalten zog er heimlich Schlüsse, wie es um ihn stand. Bei jedem Gespräch lag die stumme angstvolle Frage in seinen Augen: bin ich noch ich? ist meine Welt noch eure Welt? sprech ich noch zu euch und hört ihr mich, wenn ich spreche? Was ihn damals bewegt und gehetzt hatte, als er in die Bergwildnis gegangen, wütete jetzt in ihm wie eine fressende Flamme.

Kam man ihm herzlich entgegen, so folgte der anfänglichen freudigen Überraschung das tiefste Mißtrauen. Feierte man ihn, so stellte er mit Bitterkeit fest, daß andere, die geringere Verdienste hatten, enthusiastischer bejubelt wurden. Bezeigten ihm junge Leute ihre Verehrung, so schrieb er es ihrem Mangel an Urteil zu; taten es ältere, so argwöhnte er, daß sie ihn als Parteigänger für ihre reaktionären Anschauungen gewinnen wollten. Frauen schienen ihm von vornherein befangen, Freunde durch Sympathie bestochen. Jede Teilnahme, jede Anerkennung war im besten Fall ein großmütiges Trinkgeld. Es war immer zu wenig, es war immer zu viel.

Die Menschen machten ihn unglücklich. Ihre Interessen langweilten ihn, ihre Geschäfte verachtete er. Fremdling bis ins Innerste, fühlte er sich niemals wirklich auf- und angenommen. Gesellschaften haßte er, Einzelne strengten ihn an. Er war zu höflich, um zu schweigen, zu ungeduldig, um zuzuhören, zu intensiv mit sich beschäftigt, um sich hinzugeben, zu wählerisch, um sich mit Quantitäten zu begnügen oder mit einem bloßen stimulierenden Beisammensein. Er empfing Leute aus Pflichtgefühl, aus Neugier, aus Furcht, nein zu sagen, und nach einer halben Stunde war er wie gerädert. Blieb er aber unbesucht und unbemerkt, so verfiel er in die finsterste Melancholie und sah alle seine Befürchtungen bewahrheitet. Jeder Ort wurde ihm unleidlich, sobald er ihn betrat, und jeder Abschied wurde ihm schwer, vom gleichgiltigsten Menschen, von einem Wirtshauszimmer, von einer Zufallsgesellschaft. Aufbruch war sein Wesen und seine Qual, Verweilen seine Sehnsucht und seine Unmöglichkeit.

Es wurde schlimmer und schlimmer. Für Bettina entstand die Frage, wie sie es ertragen sollte. Sie hatte den kleinen Helmut bei einer Freundin in Winterthur untergebracht. Wenn sie von der wilden Hatz erschöpft war, fuhr sie zu ihrem Söhnchen. Bekam sie dann keine Nachricht von Alexander, so war sie vor Sorge wie von Sinnen und zählte die Stunden bis sie wieder bei ihm sein konnte. Er sagte: »Wenn du nicht bei mir bist, geh ich zugrunde.« War sie jedoch bei ihm, so spielte er den Griesgram und benahm sich als sei sie ihm eine Last, da ihm ja alles Last war, sein Innen und sein Außen, was er haßte und was er liebte. Sie redete ihm zur Arbeit zu. Er sagte: »Ich kann nicht. Ich habe keine Ruhe, ich habe keinen Boden. Ich bin fertig.« Sie flehte ihn mit gefalteten Händen an, mit ihr zu Kerkhoven zu fahren. Er sagte: »Ich will nicht. Ich brauche keinen Wärter.«

Eines Tages las sie ihm eine Stelle aus einem Brief Kerkhovens vor, die von dem Gannabuch handelte. »Richten Sie Ihrem Gatten aus,« hieß es in dem Brief, »daß ich unaufhörlich unter dem Eindruck seiner Konfession stehe. Während des Lesens war mir zumut als würde ich an den Haaren durch eine brennende Gasse geschleift. Es geht nicht an, daß er mir eine solche Botschaft ins Haus schickt und sich dann unsichtbar macht. Er muß sich mir stellen. Ich warte. Er hat mir eine Bürde aufgeladen, die mir nur er wieder abnehmen kann.« Alexander schwieg verdutzt. Dann murmelte er: »Nein.« Dann sagte er mit bitterem Auflachen: »Daß er wenigstens einen Ton von sich gibt!« Und dann, herumgehend: »Wozu beklag ich mich? was hats denn auf sich? der arme Lazarus hat seine Memoiren geschrieben. Dergleichen Klienten hat er wahrscheinlich zu Dutzenden.« – »Was verlangst du von ihm?« fragte Bettina ungehalten; »was hätte er denn tun sollen?«

Jedoch darüber äußerte sich Alexander nicht. Vielleicht hatte er erwartet, daß Kerkhoven an ihn schreiben und nicht Bettina als Vermittlerin wählen würde. Später begriff er, daß ein solcher Brief, hätte er die gewünschte Wirkung haben sollen, für Kerkhoven eine Arbeit von Tagen bedeutet und zudem seine eigentliche Absicht durchkreuzt hätte.


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