Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Die Geschichte mit dem Zettelkasten wollte ihm nicht aus dem Kopf. Es war als hätte man ihm von den Lebensgewohnheiten eines unentdeckten, äußerst seltsamen Insekts Kunde gegeben. Je tiefer er dem Phänomen auf den Grund ging, je anhaltender beschäftigte es ihn. Welch eigentümlich gebautes Gehirn, was für eine fanatische Sammlerseele! Ein Aktuar in Überlebensgröße, der siebzehn Stunden täglich am Schreibtisch sitzt, um ein moralisches Schuldenregister von ungezählten Tausenden seiner Nebenmenschen anzulegen; ein gigantischer Detektiv, der imstande ist, jede öffentliche Person in ihren Handlungen zu lähmen und unter Verdacht zu setzen, weil er sich für alle Fälle und lange vorher mit belastenden Indizien versehen hat; denn wer ist dagegen gefeit, wessen Leben so rein, wessen Charakter so fleckenlos, daß es keinen dunklen Punkt, keine verschwiegene Verirrung darin gäbe? Großsiegelbewahrer aller Geheimnisse von halb Europa; Sittenwächter und allmächtiger Gendarm, gestützt auf ein System raffinierter Spionage und mit Ameisenfleiß zusammengetragener Tatsachen, die im einzelnen vielleicht nicht viel besagen, aber in ihrem Gesamt, durch richtige Verwendung, halbe Deutlichkeit, halbe Giftigkeit, zur tödlichen Waffe werden: beispielloser Vorgang. Einen solchen Mann mußte man von seinen Fundamenten her verstehen. Von der Macht her, die er ausgeübt, von dem Machtgefühl, das er in sich aufgehäuft und das ihn zum Meinungsdiktator einer vierzigjährigen Geschichtsepoche hatte werden lassen, ob zu Recht oder zu Unrecht, zur Ehre oder zur Schande der Zeit, war nicht zu untersuchen. Da er nunmehr von ihr ausgestoßen war und mit seinem ganzen Tun und Sinn und Sein so gut wie verspielt hatte, war nur noch die Maske von ihm vorhanden, das Gespenst von ihm, das geheilt werden wollte, – fragte sich nur: wozu? Das blieb zu entscheiden. Es liefen schon so viele lebende Gespenster herum, daß man nachgerade fürchten mußte, die Erde werde ihre Bewohnbarkeit durch sie einbüßen.


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