Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Sie saßen Aug in Auge, vorgebeugt beide; einer spürte den Atem des andern. Ein paar Sekunden lang stockte Kerkhoven der Puls, und es schwindelte ihm. Das Gesicht ihm gegenüber erschien ihm wie eine von einem Erdbeben zerrissene Landschaft. Zunächst hatte er das zornig-leidvolle Gefühl: das ist nicht erlaubt, damit dringt der Mann zu heftig auf mich ein; doch er befreite sich von der dumpfen Abwehrregung und fragte tonlos: »Sie brauchen ihn demnach?« – »Ja. Ich brauche ihn.« – »Und da soll ich Ihnen sagen, ob es ihn gibt?« – »Sie sind der einzige Mensch auf Erden, der es mir sagen kann.« – »Wieso das?« – »Weil Sie mit der Todesgewißheit leben können.« – »Sie etwa nicht? Das müssen wir alle.« – »Wir andern leben im Wahn unendlicher Zeit. Zeit und Tod schließen einander aus. Sie hingegen haben das Gesetz umgestoßen und den Tod in die Zeit eingebaut.« – »Ein etwas verkrampfter Gedanke. Mit der Philosophie überhaupt... Aber gesetzt den Fall, Sie hätten Recht; wie dürfte ich Armseliger es wagen und für Sie die Entscheidung treffen?« – »Ich frage ja nur, wie ich einen Seher fragen würde; was hast du erschaut?« – »Sie meinen, ich hätte ihn erschaut?« – »Ich frage, ich frage.« – »Ist er denn ein Gegenstand? ein Leib? eine Erscheinung? Kann man sein Vorhandensein lehren? Kann er erkannt werden? Nein.« – »Aber was sonst? Ich frage, ich frage...« – »Schon im Versuch der Verpersönlichung liegt der Grundirrtum. Auch dann, wenn Sie irgendeinen Geistbegriff, irgendeinen Traumbegriff damit verbinden.« – »Aber Ihre Erfahrung... Ein Mann wie Sie tritt doch nicht eines Tages willkürlich aus der Empirie heraus. Da ist doch ein vernunftgebotener Gang...« – »Erfahrung... was soll ich darauf antworten? Vielleicht ist er die Kraftsumme in den Atomen und Elektronen. Vielleicht ein Geheimnis der inneren Sekretion. Vielleicht steckt er in den Fermenten und Enzymen, deren chemische Zusammensetzung wir nicht kennen und die die Umwandlung von Nahrung und Atemluft in Energien bewirken; sie erhalten sich ja jahrtausendelang, sodaß man sie in den Muskelgeweben ägyptischer Mumien noch zum Leben erwecken konnte. Vielleicht schwingt er im Ätherwirbel, vielleicht reguliert er den Reizleitungsapparat des Herzens, von dem wir so wenig wissen wie von den schweifenden Nebelkernen im Weltall. Denn wir, Sie und ich, haben keinen Einfluß darauf, auf nichts, auf den Flug der Fliege nicht, auf die Geburt eines Goethe nicht. Wenn ich nur zehn Atemzüge nach meinem eigenen Ermessen tue, sterbe ich sofort an Kohlensäurevergiftung. Alles dies in eins gefaßt, Mikro- und Makrokosmos, Wunder und Grauen, Unerforschtes und Offenbartes, Dämonen und Cherubim, Kraft und Stoff, hat keine sinnliche Existenz, ist auch kein von irdischen Gehirnen erdenkbarer Pangott. Was bedeutets viel, wenn ich sage, es ist das Namenlose, es liegt hinter dem Tod und über der Zeit, das sind zerredete Formeln. Oder wenn ich sage, im Erschauern kommt er... in der weltentbundenen Gelassenheit. Oder wenn ich sage, es ist eine innere Begegnung... das hauptsächlich, das vor allem... und darauf muß man vorbereitet sein, muß gleichsam wahlverwandte Vorläufer gehabt haben... es gibt da etwas wie einen Stammbaum der Seelen. Aber immer wird es in der einen Seele allein wirklich und nur in der Selbstentscheidung. Da heißt es: gehorche und erwidere! Nichts anderes. Es sind die beiden Pole des menschlichen Verhaltens...«

Er hatte schon seit einigen Minuten mit sichtlicher Anstrengung gesprochen; bei den letzten Worten wurde er kalkweiß im Gesicht und griff mit konvulsivischen Bewegungen nach dem Mauervorsprung des Kamins, an dem er sich anklammerte. Alexander sprang auf und faßte ihn um die Brust. Der Körper war zu schwer und zu mächtig als daß er ihn hätte emporziehen können. »Lassen Sie nur,« keuchte Kerkhoven, »es geht schon vorüber...« Er schloß die Augen und atmete in tiefen Zügen. Mit ungeheurer Kraft überwand er den Anfall. Der eiserne Druck, mit dem er Alexanders Hände festhielt, war wie Hinausdrängung der tödlichen Schwäche. Er sagte lächelnd: »Das Nachtgespenst... vor dieser Heimsuchung ist man nie sicher... gehn Sie jetzt, lieber Freund, sonst kommt das Morgengrauen über uns.« Eine echt Kerkhovensche Doppelsinnigkeit. Alexander verließ ihn mit düsterer Sorge.


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