Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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14

Aus tiefem Schweigen heraus sagte sie: »Auch ich... du begreifst, ich kann nicht zuschauen, bis mir die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. In all den Jahren hab ich nicht viel Ersprießliches geleistet. Ja, das Gut... aber wenn man bloß zu befehlen braucht... Nicht einmal um meine Kinder hab ich mich richtig gekümmert. Es ist so, glaub mir. Ich hab sie wachsen lassen, das war alles. Wie lang wirds dauern, und man muß sie hinausschicken. Sie sind nicht vorbereitet für das was kommt. Eines Tages werden sie einem vor die Hunde gehen, und man hat sie in der Watte aufgezogen.« – »Du hast nicht Unrecht. Es kommt eine finstere Zeit. Seit einem Jahrtausend war keine ähnliche.« – »Und ich selber,« fuhr Marie fort, »ich hab gelebt wie eine Prinzessin. Es gibt Aufgaben. Schön, was du vom Wiederanfangen gesagt hast, Joseph. Es gilt auch für mich. Was ich tun will... ich weiß noch nicht genau. Ich hab nur ein dunkles Bild davon. Darf ich dir erzählen, was mir letzte Nacht geträumt hat? Ich bin geflogen. Immer höher und höher. Dabei war mir angst und bang, weil ich das Gefühl hatte, ich sollte dich nie wiedersehen. Auf einmal war ich so hoch oben, daß ich wußte, jetzt bin ich nah bei Gott. Und ich hatte nur die einzige Sehnsucht, daß mich sein Blick treffen sollte. Es erschien mir wichtiger als das Leben, daß er mich sah, und ich wechselte immerfort den Platz, um seinen Blick zu erhaschen, es war aber umsonst, und in meinem Kummer darüber fing ich entsetzlich zu weinen an. Im selben Moment fiel ich wieder herunter, ganz langsam, und darüber war ich selig, ich fühlte, Gottes Blick hielt mich jetzt, sonst hätte ich nicht so langsam fallen können. Je näher ich der Erde kam, je glücklicher wurde ich und dann wachte ich auf... wie in einem Rausch von Glück, immer noch mit dem Gefühl: sein Blick hält mich jetzt. Sonderbarer Traum, nicht?« – »Ja, sonderbar,« sagte Kerkhoven kopfschüttelnd.

Nach einer Weile begann Marie wieder: »Jetzt mußt du mir auch gestehen... was ist denn das Schwere, was du mir zu sagen hast? Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich werde nicht feig sein.« – Kerkhoven beugte sich so weit vor, daß die zwischen den Schenkeln gefalteten Hände fast den Teppich streiften: es war die Haltung, die er oft bei entscheidenden Mitteilungen annahm. »Es ist allerdings schwer,« gab er zu, »sehr schwer. Doch ist es das einzige Mittel um... wenn du mir nicht mit allen deinen Kräften dabei hilfst, Marie, geht es wohl kaum... ich dachte es mir ziemlich einfach, es dir zu sagen... indessen...« Mit einem Ruck warf er den Kopf hoch, sein Gesicht war fahl geworden. »Wir müssen uns trennen, Marie. Und zwar für lange Zeit.« – Marie, ebenfalls blaß, schaute ihn stumm an. – »Wenn du mich nach den Gründen fragst,« fuhr er fort, »kann ich dir keinen einzigen nennen, der vollauf zureichend wäre. Es ist ein Entschluß, zu dem du nur ja oder nein sagen kannst.« – Auf den Ellbogen gestützt, schaute ihn Marie regungslos an. Nur die Haut des Halses bebte wie von krampfhaftem Schlucken. – »Wir haben etwas mitsammen durchgelebt, Marie... na, erspar mir den Kommentar. Ich kann nicht als Ruine eines Mannes bei dir bleiben. Dazu bist du mir zu viel. Diese Liebe... ich habe sie ja erst jetzt entdeckt. Sie war natürlich da, aber von ihrem Ausmaß hatte ich keinen Begriff. Das muß vorausgeschickt werden, damit du besser überblickst, worum es sich handelt. Nicht bloß um unsere Beziehung... obgleich... in ihr liegt der Schlüssel. Es hilft nichts, es zu verhehlen... ich bin ein Entmannter auch als Arzt. Weiterschustern würde das Übel irreparabel machen. Da heißt es: Abstinenz. Alle Bindungen müssen für eine Weile zerschnitten werden. Ein Mensch wie ich kann sich kaum mehr vorstellen, was das praktisch bedeutet. Möglich, daß ich diesen Andergast suche. Erschrick nicht, Liebste, es ist vielleicht eine Wahnidee. Ich habe zuviel seelisches Kapital in den Menschen gesteckt. Damit ist er durchgegangen wie ein Defraudant. Kann sein, ich brauche ihm nur drei Sekunden in die Augen zu sehen, und ich hab ihn, wo ich ihn haben will.« – »Nein!« rief Marie mit einer kalten wehen Stimme, »denk nicht mehr daran.«

Kerkhoven erhob sich und ging mit großen Schritten zwischen Wand und Wand auf und ab. »Gut, gut, gut,« sagte er vor sich hin, »das sind Velleitäten. Aber ich habe nicht die Absicht, etwas zu unterlassen, was mir den Rücken frei macht. Es geht ums Ganze. Um die Probe auf Blut und Nieren. Wenn man seinen Impulsen stets ausgewichen ist, lohnt sich sogar mal eine Dummheit. Als Namenloser kann ich mir das unter Umständen leisten. Verstehst du was ich will? Namenlos werden, hauslos. Wo hab ich das Wort her, das mir beständig durch den Kopf geht, vom Gang in die Wüste? Erinnerst du dich noch an die Flucht des achtzigjährigen Tolstoi? Wie er in einer kleinen Bahnstation in der Steppe starb? Du warst schon ein erwachsener Mensch damals, du mußt dich erinnern. Grandiose Sache. Ein Memento. Gelebte Prophetie. Na... sterben werd ich nicht gerade. Nein, will ich gar nicht. Man hat ein untrügliches Gefühl vom Sinn dessen in sich, was mit einem geschieht. Die biologische Sicherheit; fundamental. Nur fordert es vom andern unbedingtes Vertrauen; in diesem Fall von dir. Hast du das Vertrauen, so erschaffst du mit, was aus mir wird.«

Er hatte ziemlich erregt gesprochen, und auf Maries scheue Frage: »Ich werde also nicht wissen, wo du bist?« antwortete er, die Hand an die Stirn pressend: »Ich kanns noch nicht sagen. Das Schlimmste sind Halbheiten. Zunächst will ich mich treiben lassen. Ohne Programm. Vor ein paar Tagen hab ich einen Antrag der holländischen Regierung bekommen. Ich soll einer Studienkommission beitreten, die nach Java geht. Ich überlege noch. Ich habe vier Wochen Zeit, mich zu entscheiden, und viereinhalb Monate bis zur Reise. Es garantiert wenigstens die äußere Existenz. Aber du darfst mir nicht nachforschen, was immer passiert. Es ist hart, aber es muß sein. Es muß ganzer unabänderlicher Ernst sein, Marie. Eines Tages werde ich dir schreiben. Bist du dann so bereit wie ich, dann steht kein Hindernis mehr zwischen uns.«


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