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»Willst du noch eine halbe Stunde zu mir kommen?« fragte er, als sie draußen waren und den Flur entlangschritten. Sie nickte. Er schob seinen Arm unter ihren. »Bist du nicht zu müd?« erkundigte er sich besorgt. – »Du bist ja auch nicht müd und hast mehr getan als ich,« antwortete sie; »du wirst wohl nie müde, wie? du weißt gar nicht, wie das ist?« – »Müde macht mich nur die Zweckarbeit,« sagte er.
Als sie oben waren, drückte er sie in den Lehnsessel, schob einen Schemel heran und setzte sich neben sie. »Sag mal, Marie,« begann er, »du betest da mit dem Kind... das Vaterunser... ich weiß, du tust es jeden Abend... sag mir: glaubst du an das Gebet, während du es sprichst?« Da ihn Marie erstaunt anblickte, fuhr er in dringenderem Ton fort: »Wenn du sagst: ›Vater unser, der du bist im Himmel‹, glaubst du da wirklich und tatsächlich an den Vater im Himmel? Denk einmal genau nach. Mit dem Beinahglauben und Alsobglauben ist es nämlich eine heikle Sache.« – »Was soll ich dir antworten?« fragte Marie bestürzt, »es ist...« – »Nein oder ja sollst du antworten,« unterbrach sie Kerkhoven lebhaft; »glaubst du es einschränkungslos, wörtlich, unbedingt, wenn du sagst: Vater unser, der du bist im Himmel...?« Marie sah ihn scheu und ängstlich an. »Ich weiß es nicht genau, Joseph,« gab sie flüsternd zu, »wenn ich ehrlich sein soll, weiß ichs nicht.« – »Hm. Du weißt es nicht,« sagte er grübelnd, »vielleicht sind wir da an der Wurzel von allen deinen Ungewißheiten.« – »Das kann schon sein,« hauchte Marie; »das war ja immer die Barriere, schon damals in Berlin, wie ich die fremden Kinder zu mir ins Haus nahm... und dann in Dürrwangen, mit dem gelähmten Mädchen... ich hab dir ja davon erzählt... um Haaresbreite... um einen Herzschlag mehr, du verstehst, was ich meine... und man hätte glauben können... trotzdem... zum Schluß war die Mauer da... Wie kommt man durch die Mauer durch?«
Kerkhoven erhob sich und ging mit schweren Schritten auf und ab. »Nicht ohne einen umfassenden, für mich vorläufig kaum ausdenkbaren Verzicht wahrscheinlich,« sprach er im Gehen vor sich hin. »Vater unser, der du bist im Himmel... wundervolles Wort... aber bist du damit nach allen Seiten hin gedeckt und geschützt? Das ist die Frage. Ich will dir was sagen, Marie: glauben, wirklich glauben, das heißt so viel wie den Faust dichten oder die Matthäuspassion komponieren. Alles andere ist Annäherung und Notbehelf. Wenn einer zu mir kommt und fragt: Was soll ich tun, um zu glauben? so frag ich zurück: wo sind deine Eingebungen, deine Offenbarungen, wo ist dein Werk? Glauben ist eine höchste menschliche Leistung, werde ich ihm sagen, ein ungeheurer Aufflug; traust du dir zu, da oben zu atmen, wo dir dein Ich aus der Seele geblasen wird wie ein Rußkorn aus einem entzündeten Auge?«
Marie legte die Fingerspitzen aneinander und erwiderte mit zweifelvollem Kopf schütteln: »Das hilft mir nicht. Es ist Dialektik. Du wehrst dich mit Händen und Füßen gegen das einfache Gefühl.« – »Das Gefühl ist nicht einfach, Marie, wenn es das bedeuten soll, was du meinst. Es ist das Endstadium eines langen und schweren Prozesses oder es ist eben nur die kleine Angst, die Kinderangst, der Kindertrost.« – »Nein, Joseph. Aus dir spricht das Wissen von Menschen und Dingen. Das vielzuviele Wissen. Es macht dich zum Theologen, zum Scholasten. Du kannst nicht mehr hinein in das Vaterunser, aber vielleicht ist es ein größeres Gehäuse als irgendeines, das du dir mit deiner Erfahrung baust.« – Kerkhoven blieb vor ihr stehen. »Ich wünschte, es wäre so,« sagte er traurig; »hast du noch nicht bemerkt, daß mir dieses ganze Wissen, die ganze Erfahrung längst brüchig und verdächtig geworden sind? Ich tue doch nichts anderes mehr als verzweifelt um das eine zentrale Geheimnis herumlaufen und einen Zugang dazu suchen! Ich bin wahrhaftig nicht der Mann, der sich einbildet, den Mäusen die Ohren angenäht zu haben, damit sie die Katze hören können.«
Marie schwieg bedrückt. Sie streckte die Arme aus, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn zart.