Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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66

Am Morgen berichtete ihm Schwester Else zu seiner Verwunderung, Agnes Mordann sei nach Basel gefahren, offenbar im Auftrag ihres Vaters. Der Kranke schien sich merkwürdigerweise von dem gestrigen Anfall erholt zu haben. Er war auffallend agil, hatte sogar der Tochter schon vor dem Frühstück einen langen Brief diktiert. Gegen Mittag kam Agnes zurück, und kurz darauf trat die Wys-Wiggers bei Kerkhoven ein und sagte: »Herr Mordann wünscht Sie zu sprechen;« zögernd fügte sie hinzu: »Was da los sein mag; die zwei streiten miteinander wie die Teufel.« Kerkhoven ging eilends hinunter. Aber als er einen Augenblick vor der Tür von Mordanns Zimmer lauschte, vernahm er keinen Laut. Er klopfte, und da niemand antwortete, trat er ein. Agnes lehnte in feindseliger Haltung am Tisch, die Arme nach rückwärts gegen die Platte gestemmt. Mordann lag finster starrend ; seine auf der Bettdecke ruhenden Hände umfaßten ein mit einem blauen Band umschnürtes Briefpaket. Er schien zu frieren; trotz des warmen Märztages waren die Fenster zu, und in dem breiten weißen Kachelofen prasselte ein frisches Feuer. Bisweilen zuckte er nervös zusammen; er konnte das Geprassel des brennenden Holzes nicht ausstehen; wenn es noch Kohlen gewesen wären. Aber Kerkhoven war, aus hygienischen Erwägungen, nicht nur gegen mechanische Heizanlagen, sondern ließ auch im ganzen Haus ausschließlich mit Buchenscheiten heizen. Darüber hatte sich Mordann täglich erbost; jeder Ofen war ihm ein vorsintflutliches Monstrum, und in seiner barocken Launenhaftigkeit zog er manchmal statt der Ofenwärme vor, im kalten Zimmer zu liegen.

Daß ein Wortwechsel stattgefunden hatte, spürte man in der Luft. Als Kerkhoven Agnes fragend anblickte, zuckte sie wortlos die Achseln. »Sie soll gehen,« knurrte Mordann. – »Ich muß wissen, was du tust, ich muß wissen, was hier vorgeht,« brauste Agnes auf, »ich werde mich nicht einmischen, ich werde kein Wort reden, aber ich muß dabei sein.« Erregt ging sie zu dem nischenartig ausgebauten Mittelfenster, warf sich in einen Strohsessel und zerrte aus einem Stoß Zeitungen, der auf dem Sims lag, eine heraus, um sie geräuschvoll auseinanderzufalten. Mordann sagte bissig: »Da haben Sies, Professor. Dazu hat man Kinder.« – »Du hast keine Kinder, Gottseidank, du hast nur ein Kind,« kam die Antwort, die wie ein schriller Pfiff klang. – »Stimmt, stimmt, hat was für sich,« gab Mordann asthmatisch kichernd zurück.

Eine Weile herrschte Schweigen. Und aus dem Schweigen heraus fragte Mordann mit dürrer Stimme: »Wie lang geben Sie mir noch zu leben, Professor? Ich wünsche einen aufrichtigen, unverklausulierten Bescheid. Ich muß die Wahrheit wissen.« – Aus der Fensternische kam ein kurzes gequältes Auflachen. – »Nur ein Ignorant und Scharlatan hätte den Mut, Ihnen darauf präzis zu antworten,« sagte Kerkhoven; »ich bin weder das eine noch das andere.« – »Gut gebrüllt, Löwe. Aber das macht mir keinen Eindruck. Es ist die gewöhnliche standesgemässe Ausflucht. Feigheit, jawohl. Raffen Sie sich auf. Handeln Sie wie ein ehrlicher Mann.« – »Sie überschätzen meine Fähigkeiten.« – Mordann richtete sich mühselig aus den Kissen empor. Seine Augen flackerten in wilder, dringlicher Bitte. »Hören Sie zu, Mann,« knarrte seine Stimme in jammervoller Luftnot, »ich brauche notwendig noch sechs Wochen. Bieten Sie alle Mittel Ihrer Wissenschaft auf, Gifte, Zaubertränke, Zaubersprüche, was immer Sie wollen, aber die sechs Wochen muß ich haben.« – Kerkhoven verdrehte in seiner komischen Weise, wie ein Vogel, den Hals. »Ist es vorwitzig, wenn ich mich erkundige, zu welchem Zweck?« fragte er ohne tiefere Neugier. – »Können Sie getrost erfahren. Bevor ich ins Gras beiße, müssen die Lügen und Verleumdungen widerlegt werden, die über mich in der Welt umlaufen. Über und über bedeckt mit schweinischem Unrat, Herr... so kann man nicht sterben. Ich muß der Bande die Mäuler stopfen, die nicht davor zurückschrecken wird, noch mein Grab zu bespeien. Ich bin es mir schuldig, bin es meiner Vergangenheit schuldig. Mit einem Wort, es handelt sich darum, die Geschichte der letzten zwanzig Jahre meines Lebens zu Papier zu bringen.« – »Ich verstehe. Aber warum wollen Sie, selbst wenn ich die Möglichkeit eines baldigen Todes zur Diskussion stelle, was zu tun ich mich weigere, warum wollen Sie sich die Frist, die Sie noch haben, mit unfruchtbaren Auseinandersetzungen vergällen, mit überflüssiger Rechtfertigung, mit Groll und Haß und Anklage? Suchen Sie doch lieber den Frieden in Ihrem Innern.« – »Gottverfluchtes Gesabber, Mann! Ihr habt ja alle den Verstand verloren! Die dort redet mir auch zu, ich soll mich nicht auf posthumes Prozeßführen einlassen, soll mich schonen, was ich erstritten und vollbracht, wird für sich selber zeugen. Widerlicher Kohl. Habt Ihr ne Ahnung? Kapiert Ihr denn nicht, daß ich auf der Welt nichts besitze als meinen Namen, nichts hinterlasse als mein fleckenloses Schild? Wenn sie sich an meinem Namen vergreifen, die Hunde, wie sie sich an meiner Person vergriffen haben, dann mögen sie vor der Hand zittern, die sich aus meinem Sarg nach ihnen streckt.«

Diese gellenden Worte, ein Aufschrei fast, hatten etwas Erschütterndes für Kerkhoven. Sie enthüllten ihm, neben allen Anzeichen der Manie des Verfolgtseins, eine Form des Wahns, die er noch nicht kannte. Den Wahn des Tribuns; den Wahn von papierener Unsterblichkeit; den Wahn von der Dauer des gedruckten Worts, von der Dauer des bloßen Namens als stünde dahinter wirkliches Werk und wirkliche Tat und nicht leerer Schall, nicht eitler Machtrausch, nicht ein Zettelkasten mit achtzehntausend Nummern. Denkwürdige Erfahrung. Denkwürdige Zeit, die ein solches Menschengebilde hervorgebracht hatte.

»Sie sehen, was auf dem Spiel steht,« fing Mordann wieder an; »wenn Sie mir helfen, dann will ich... ich hab mir das mit den Briefen überlegt... dann will ich Ihnen die Brederodeschen Briefe ausliefern. Martin Mordann läßt sich nichts schenken. Sichern Sie mir noch sechs Wochen Leben zu, noch fünf, und Sie können die Briefe haben. Agnes hat sie aus Basel geholt. Hier sind sie.« Er hielt Kerkhoven das Paket in der ausgestreckten Hand mit einem grausig verführerischen Lächeln wie eine Lockspeise hin. In diesem Augenblick erhob sich Agnes, schleuderte die Zeitung zu Boden und verließ in erbittertem stummen Protest das Zimmer. Kerkhoven setzte sich an das Bett und legte seine Hand auf Mordanns Schulter als müsse er einen Delirierenden beruhigen. »Nehmen Sie Vernunft an, Herr Mordann,« sagte er mit einem Ton von Güte, den er sich bis dahin gegen diesen Mann nicht hatte abringen können; »wie ist es möglich, daß ein Geist wie der Ihre einem derartigen Aberglauben verfällt? Ich kann Ihrem Leben nicht eine einzige Minute hinzufügen. Nur Sie selber vermögen das. Wie und wodurch? ich habe es Ihnen schon einmal angedeutet.« – Mordanns Züge verzerrten sich zu einem Ausdruck der Raserei und Verzweiflung. »Kommen Sie mir am Ende wieder mit dem... mit dem Göttlichen?« lallte er mit schwerer Zunge, »mit dem... wie sagten Sie?... mit dem Gehorsam? mit all dem schwachsinnigen obskurantischen Zeugs da... scheren Sie sich zum Teufel, Mann... ich will Sie nicht mehr sehen... ich kündige Ihnen das Quartier... schicken Sie mir Ihre Rechnung...« Es würgte ihn in der Kehle, die Worte waren zur Hälfte unverständlich; als Kerkhoven sich mitleidig-widerstrebend erhob, warf er die Decke ab, sprang aus dem Bett, lief, die umschnürten Briefe in der Hand, auf abstoßend behaarten und abgemagerten Beinen zum Ofen, und ehe Kerkhoven es verhindern konnte, hatte er das Eisentürchen aufgerissen und das Paket ins Feuer geworfen. Danach brach er zusammen und war nur noch ein von einem lächerlich karierten Hemd bedeckter Haufen Fleisch.

Doch der Tod trat erst achtundvierzig Stunden später ein. Und am dritten Tag schon meldeten alle Zeitungen Europas mit sensationeller Schlagzeile das Ableben des berühmten Publizisten Martin Mordann, des letzten großen Kämpfers für Freiheit und Demokratie.


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