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Eines Tages geschah es, daß Marie Kerkhoven mit der Assistentin Wys-Wiggers ins Gespräch kam und diese plötzlich anfing, ihr von dem Fall zu erzählen. Nicht von ungefähr; es stellte sich heraus, daß sie bis ins Herz davon erfüllt war. Sie war eine Verwandte von Karl Imst; er war ihr leiblicher Vetter. Sie kannte ihn von jugendauf. Sie war von seiner Schuldlosigkeit durchdrungen. Sie hielt ihn des Verbrechens, dessen man ihn beschuldigt, für vollkommen unfähig. Sie hielt auch Jeanne Mallery für schuldlos. Sie war überzeugt, daß an den beiden ein Justizmord begangen worden sei. Von diesem Gedanken war sie besessen wie von einem Leiden, das ihre Existenz untergrub. Alles womit sie sich sonst beschäftigte, war nur Betäubung und leeres Tun. Während Imst in Untersuchungshaft gewesen, hatte sie durch ihre unablässigen Bemühungen einmal die Erlaubnis erhalten, ihn zu besuchen. Seitdem war der letzte Zweifel an seiner Unschuld in ihr geschwunden. Als sie diese Begegnung schilderte, wurde sie totenbleich und verstummte vor Entsetzen, jetzt noch, nach vielen Jahren. Sie hatte der Gerichtsverhandlung beigewohnt, hatte Karl und Jeanne beobachtet, die Zeugen beobachtet, die Reden mitangehört und gestand, es habe ihrer ganzen Selbstbeherrschung bedurft, um bei der Urteilsverkündigung nicht aufzuspringen und in den Saal zu schreien: halt! halt! um Gotteswillen halt! ihr seid es, die mordet! sie sind unschuldig, der Mann und das Weib! Nachher war sie wochenlang krank. Sie besaß sämtliche Zeitungsberichte über den Prozeß, Abschriften der Verhörsprotokolle und der Sachverständigen-Gutachten und war mit der Materie so vertraut als hätte sie selber die Verteidigung geführt.
Marie hatte zuerst geglaubt, die junge Person sei von einer fixen Idee besessen. Aber Else Wys-Wiggers machte keineswegs den Eindruck einer Phantastin; auch Kerkhoven rühmte stets ihre Ruhe und Verläßlichkeit. Und je öfter sich Marie mit ihr unterhielt, je stärker wurde ihr Interesse, je unabweisbarer das Gefühl, daß hier wirklich zwei Unschuldige fälschlich gerichtet worden waren. Sie vertiefte sich in die Lektüre der Akten und Berichte, und das Gefühl wurde langsam zur Gewißheit. Dies aber brachte ihre Seele in Aufruhr. Plötzlich war sie eng beteiligt; plötzlich war sie selber in den Maschen des Geschehens drin; plötzlich war sie es, die Sühne zu fordern hatte für die beleidigte Gerechtigkeit und Wahrheit. Sie hatte keinen Frieden mehr; ständig kreisten ihre Gedanken um die zwei Menschen im Zuchthaus, und wie ihnen zumute sein mußte im Bewußtsein der Unschuld. Kaum zu ertragende Gedanken. Dabei empfand sie es als eine schier unheimliche Fügung, daß sie gleichsam das Kernerlebnis des Menschen übernahm, der ihr einst zum Schicksal geworden war und sie aus einer Träumerin zu einer Wachen gemacht hatte, aus einer abseitigen Zuschauerin zu einem lebendigen und handelnden Weib. Ohne daß er es gewollt und gemeint freilich, aber als Träger der Bestimmung. Das verlieh ihr Zuversicht und Kraft, denn die unserm Schicksal innewohnende spürbare Folgerichtigkeit ist es, die unser Herz stählt und uns vor uns selbst bestätigt.
»Aber hören Sie zu, Else,« sagte sie eines Abends zu der Assistentin, »wenn weder Karl Imst noch Jeanne Mallery etwas mit dem Verbrechen zu schaffen haben, wer hat die Frau getötet?« – »Wer?« fragte die andere mit großen Augen zurück, »wer? das fragen Sie!« – »Ich weiß, ich weiß,« flüsterte Marie, »es gab ja immer nur die zwei Möglichkeiten: Mord oder Selbstmord. Ich sehe nur den Grund nicht, weshalb sie sich hätte umbringen sollen. Natürlich, sie war schwer verbittert und verzweifelt, vor allem hatte sie nicht mehr den Glauben an sich... aber sie hing doch so am Leben... und solcher Entschluß...« – »Sie sehen wirklich nicht den Grund? Wirklich nicht? Er liegt doch so nah, daß man ihn mit Händen greifen kann!« Sie schauten einander starr in die Augen. Marie erbebte. »Das läßt sich nicht zu Ende denken,« murmelte sie verstört. – »Denken Sie es ruhig zu Ende, und Sie werden richtig denken,« sagte die Wys-Wiggers finster. – »Nein, ich kann nicht, ich weigere mich, es wäre die schwärzeste Hölle,« beharrte Marie. – Die Andere zuckte die Achseln. »Beweisen müßte man es können,« erwiderte sie dumpf; »solange die Beweise fehlen, gibt es keine Revision. Und wenn nicht ein Gott eingreift, kann mans nicht beweisen.«
Revision des Urteils, das war ihr einziges Ziel. Sie war unermüdlich gewesen in Umfragen und Erkundungen. Sie korrespondierte mit den Anwälten des Imst und der Mallery, mit hohen Gerichtsfunktionären, mit Chemikern und mit Rechtsgelehrten. Für eine nachhaltige Aktion hatte sie die Mittel nicht. Ihre geheime Hoffnung war, Marie und durch diese Joseph Kerkhoven zu gewinnen. Wenn ein Mann wie Kerkhoven sich mit dem Gewicht seines Namens für die Sache einsetzte und ihr die Wege in die Öffentlichkeit ebnete, war ein großer Schritt getan. Marie, von ihrer Glut mitergriffen, in jener heiligen Ungeduld, die das verletzte Recht in den Seelen derer wachruft, die noch an Recht und Gerechtigkeit glauben, sprach, wieder und wieder, mit Joseph darüber. Sie weihte ihn in den Fall ein. Es gelang ihr, ihn zum Studium der aktenmäßigen Darstellungen zu überreden. Er verstand sehr genau, worum es ihr ging. Der geistige Ursprung ihrer Bewegung blieb ihm nicht verborgen; er sah darin einen Läuterungsvorgang, der das Bild Maries mit neuen Zügen bereicherte, ja ihm einen neuen Begriff ihrer Natur gab. Seine Bedenken richteten sich gegen die eigenen Möglichkeiten. »Es ist nicht meines Amtes,« sagte er, »es führt ins Unabsehbare; so etwas verlangt alle Zeit, die man hat, vielleicht das ganze Leben. Denk an Andergast; es hätte ihn beinahe den Hals gekostet. Es ist eine andere Welt als die meine. Man muß achtgeben... Aber ich wills mal überlegen... ich werde nicht drüber hinweggehen, Marie, sei unbesorgt...« Und abermals war es die besondere Fügung, die den Gang der Dinge förderte und Kerkhoven, rascher als er geahnt und gewollt, zu tätigem Anteil zwang.