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Alexander hatte beschlossen, nach Mailand zu fahren, um sich mit seinem Sohn Ferry auszusprechen. Das heißt, er wollte Ferry vor die Entscheidung stellen, an wen er sich künftig zu halten gedenke, an ihn, den Vater, der ihm eine Existenz geschaffen hatte, ihm zeitlebens ein Freund gewesen war und auf alle Weise getrachtet hatte, ihn für eine glücklose Jugend zwischen hadernden Eltern zu entschädigen, oder an die Mutter, die mit einem verschwenderischen Aufwand an Gefühl, dem nie ein Tun entsprochen, Unfrieden und Zerstörung um sich verbreitet hatte. Verhängnisvolles Entweder-Oder. Es konnte zu keinem guten Ende führen. Bettina sah es voraus. Ihre Warnungen fruchteten nichts. Alexander bestand auf seinem Willen. Vorahnend weigerte sie sich aber energisch, ihn allein fahren zu lassen, wie er zuerst beabsichtigt hatte.
Sie wohnten im Hotel Cavour. Ferry hatte sich für zehn Uhr vormittags angesagt. Um halb zehn verließ Bettina das Hotel, um in die Brera zu gehen. Als sie gegen zwölf zurückkam, stieß sie in der Halle auf Ferry. Sie begrüßte ihn lebhaft. Sie hatte immer große Sympathie für ihn gehabt, obwohl sie wußte, daß er ihr die Ehe mit seinem Vater nicht verzieh. Als Vorwand für seine Abneigung, die allerdings von verkrochener und unsicherer Art war, hatte er sich eingeredet oder einreden lassen, sie sei zu sehr Dame und zu wenig Frau. Auch dies wußte Bettina und lächelte nachsichtig darüber, denn ihre Stellung Alexanders Kindern gegenüber war stets schwierig gewesen. Es hatte manchmal ihres ganzen Taktes und vieler Selbstüberwindung bedurft, um dieser Schwierigkeit Herr zu werden. Ferry gefiel ihr auch äußerlich. Er war ein hochgewachsener, gut aussehender Mann von melancholischem Temperament. Seine Wortkargheit ließ ihn oft mürrisch erscheinen, aber er war früh gereift, das Leben war nicht besonders glimpflich mit ihm umgegangen, und wie den meisten Frühgereiften fehlte ihm das Selbstvertrauen.
Bettina fragte ihn, warum er schon gehe, ob er nicht zum Essen bleiben wolle. Er antwortete kaum. Mit einer hastig gemurmelten Entschuldigung eilte er an ihr vorbei. Bestürzt schaute sie ihm nach. Dann eilte sie die Treppe hinauf, lief den vielfach geeckten Korridor entlang und stürzte ins Zimmer. Totenbleich stand Alexander vor ihr. »Was ist dir, um Gotteswillen?« stieß sie hervor. Er wankte zum nächsten Sessel und brach mit einem furchtbaren Weinkrampf zusammen.
Bettina, tief entsetzt, schlang die Arme um seine Schultern. Sie forschte nicht, fragte nicht, sie war nur zärtlich. Sie lag auf den Knien vor ihm und streichelte seine Hände. Was sie sprach, war hilfloses Gestammel, aber es beruhigte ihn, ihre Stimme zu hören war schon Trost. Er klammerte sich an sie wie ein Kind. Sie war nicht einen Augenblick im Zweifel über das, was vorgegangen war. Sie spürte es in der Luft des Zimmers. Wie sie es vorausgewußt, so hatte es sich abgespielt. In seiner Unschuld war Alexander nicht darauf gefaßt gewesen, daß ihm plötzlich der Sohn Gannas gegenüberstand. Trotz allem der Sohn Gannas. Und er hatte gehofft und geglaubt, seinen Sohn zu finden.
Sie sagte es ihm unverhohlen, mit grausamer Offenheit. Das hätte sie nicht tun sollen. Es war nicht richtig. Sie vergaß, daß der Sohn die Mutter nicht verleugnen darf, auch nicht, wenn er gegen sie steht, auch nicht, wenn seine Liebe dem Vater gehört. Er darf sie um des Vaters willen nicht verleugnen. Es gibt für ihn kein Recht und Gericht darin. Bettina vergaß es, weil es mit der Schonung nicht mehr weiterging, weil sie es müde war, den Wagebalken krampfhaft in der Gleichlage zu halten. »Er ist mein Fleisch und Blut,« wandte Alexander zornig-verstört ein, »das kannst du nicht mit dem Messer aus mir herausschneiden.« – »Fleisch und Blut sind eins und Gesinnung und Art ein anderes,« erwiderte Bettina leidenschaftlich erregt; »du opferst dich einem Götzen. In dir sitzt der Blutswahn, der Vaterwahn, der Verantwortlichkeitswahn, und die toten Pflichten machen dich blind gegen die lebendigen.« – »Gegen welche lebendigen?« – »Das fragst du? Die gegen mich zum Beispiel. Die gegen deinen jüngsten Sohn. Auch dein Fleisch und Blut. Aber der wird dir gehören, der wird dich nicht im Stich lassen.« – Alexander sah bedrückt vor sich hin. Nach einer Weile sagte er mit erloschener Stimme: »Das Helmutlein? Ja... vielleicht. Obwohl... ich glaube an keinen Menschen mehr. Nicht einmal an dich, Bettina.«
Bettina erschrak bis auf den Grund ihrer Seele.