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Es lag nicht in Kerkhovens Charakter, mit verschränkten Armen dazustehn und sich mit Schmutz bewerfen zu lassen. Um die Ausstreuungen wegen der Jeanne Mallery zum Schweigen zu bringen, ersuchte er die Behörde, eine Kommission abzuordnen und die Patientin gerichtlich zu verhören. Dem wurde stattgegeben, zwei Funktionäre und ein Amtsarzt erschienen in Seeblick, besichtigten den Raum, den die Mallery innehatte, richteten eine Reihe von Fragen an sie und gaben die Antworten zu Protokoll. Die einwandfreie Pflege und Behandlung wurde dem Professor Kerkhoven in aller Form bestätigt. Den Gerichtsentscheid veröffentlichte er im Thurgauer Anzeiger, dem Konkurrenzunternehmen des Stadt- und Landboten. Er hatte nun aber nicht länger Lust, Jeanne Mallery in seinem Haus zu beherbergen und legte ihr schonend nahe, zu ihren Verwandten in die Innerschweiz zu gehen. Er entschloß sich hiezu umso leichter, als sie von ihren krankhaften Zuständen fast gänzlich geheilt war. Die dauernde Trennung von Karl Imst hatte wohltätig auf sie eingewirkt. Sie gestand selbst, daß sie seitdem das Gefühl habe, sie könne wieder atmen. Dennoch hatte sie Angst vor der Welt draußen, und als ihr Kerkhoven das Quartier aufkündigte, drückte sie das Gesicht in die Hände und schluchzte. Hauptsächlich war es der Abschied von Marie, den sie nicht verwinden konnte; »was soll ich nur machen ohne die Frau Professor!« rief sie immer wieder, »es war ja schon ein Glück für mich, wenn ich sie nur sehen durfte.«
Eine vernünftige Regelung mußte auch in Bezug auf Maries Kinderwerk getroffen werden. Kerkhoven schlug ihr vor, einheimische Hilfskräfte aufzunehmen. Dazu reichte der von Frau de Ruyters gestiftete Fonds gerade noch aus. Man gewann auf diese Weise nicht bloß besoldete Anhänger und Stimmungsmacher für die Sache, sondern steuerte auch dem wilden Zudrang und der Schwierigkeit, die unbändigen Horden zu beaufsichtigen. Marie wollte zuerst nichts davon wissen. Es war ein Verlust. Verlust an Freiheit, an schönem Übermut, Verzicht auf das Prinzip der Selbsterziehung und der Selbsteinfügung in eine Gemeinschaft. Es war nicht mehr das, was ihr vorschwebte. Es war Rückkehr zum Programm, Umkehr ins Übliche. Indes beugte sie sich den guten Gründen Kerkhovens; »ich will ja nicht, daß du deine Idee preisgibst und gegen dein Gefühl handelst,« sagte er, »ich möchte nur verhüten, daß du dort scheiterst, wo du bei einiger Nachgiebigkeit gar nicht zu scheitern brauchst. Die Fanatiker nennen es Kompromiß, aber zeige mir ein fruchtbares Wirken ohne Kompromiß. Was bedeutet denn eigentlich das Wort? Zugeständnis. Also etwas Loyales und Honnettes. Gestehen wir der Welt das Recht auf ihre Form zu, und sie wird sich nicht starrsinnig weigern, sie zu verändern.«
Marie sah es ein. Doch mitten in den Maßnahmen, die auf eine Umgestaltung der bisherigen Führung zielten, wurde eines Nachts von unbekannten Frevlern der neue Schulpavillon am Ende des Parks angezündet; man benachrichtigte die nächsten Feuerwehren, aber bevor noch eine von ihnen anlangte, war der ganze Holzbau niedergebrannt. Die polizeilichen Nachforschungen waren erfolglos. Obgleich gegründeter Verdacht gegen mehrere Personen bestand, waren die Täter nicht zu fassen.
Der Brand hatte die Seeblickleute in große Aufregung versetzt. Kerkhoven war um vier Uhr morgens beim ersten Alarm des Gärtners erwacht. Notdürftig angekleidet eilte er auf den Brandplatz. Die Spritzvorrichtung versagte; der Schlauch war brüchig. Zum Unglück herrschte ein sturmartiger Wind; im Zeitraum einer Viertelstunde war der Dachstuhl eine einzige Fackel. Als Marie, Bettina, Aleid, Schwester Else, Alexander Herzog und einige aufgeschreckte Patienten herzueilten, stand Kerkhoven unbeweglich zwischen allerlei Gerät, Tischen, Stühlen, Schränken, die er und der Gärtner aus dem qualmerfüllten Innern des Gebäudes ins Freie geschafft hatten. Seine Hose war in Fetzen gerissen, das Haar und die Brauen waren angesengt. Merkwürdigerweise blieb er stumm, als sich Marie und die Herzogs mit erregten Fragen an ihn wandten. Die Hände auf die Hüften gestützt, das Gesicht rauchgeschwärzt, schaute er mit einem Ausdruck in die hoch wirbelnde Flammensäule und den knisternden Funkenregen als wäre das Weltenei geborsten und enthülle ihm das Geheimnis seines feurigen Kerns. Bettina konnte die Augen nicht von ihm lassen. Sie hatte das Gefühl, er selbst sei in eine Flamme verwandelt.
Am nämlichen Morgen ließen sich die beiden Herren bei ihm melden, von welchen bereits die Rede war. Sie kamen in einem eleganten blauen Auto, stellten sich als Beauftragte eines Freundes vor, die Namen, unter denen sie sich einführten, waren vermutlich fingiert, der Auftrag (wie ebenfalls erwähnt worden ist), bestand darin, nach dem Verbleib der Brederodeschen Briefe zu forschen. Sie geberdeten sich wie Kriminalbeamte. Sie hatten keinerlei Befugnis, konnten sie gar nicht haben, es war eine rein private Mission, die sie übernommen hatten, dennoch traten sie mit dünkelhafter Strenge und kalter Gemessenheit auf als wären ihre Taschen mit Haftbefehlen nur so gespickt. Kerkhoven war außerordentlich höflich. Er hätte die Auskunft verweigern können. Er tat es nicht im Gefühl einer Würde, die ihm Winkelzüge und Vorsichtsmaßregeln in einer Sache verbot, wo die einfache Wahrheit den Beunruhigungen des verborgenen Auftraggebers ein Ende setzen mußte. In knappen Worten berichtete er, was mit den Briefen geschehen war. Die beiden sahen ihn ungläubig an. Der eine, blonde, zuckte die Achseln, der andere, brünette, ließ ein unverschämtes Hm hören. Darauf stellte der Blonde das Ansinnen an Kerkhoven, er möge mit seinem Ehrenwort bekräftigen, daß sich die Dinge tatsächlich so abgespielt hätten, wie er sie erzählt. Dies lehnte Kerkhoven freundlichen Tones ab. Die Herren erhoben sich. »Dann müssen wir uns weitere Schritte vorbehalten,« sagte der brünette Herr eisig. Kerkhoven schien es zu billigen. Die beiden klappten die Hacken zusammen, verbeugten sich steif und gingen.
Man hörte nichts mehr von ihnen, aber der Zwischenfall wirkte ungewöhnlich deprimierend auf Kerkhoven, er wußte kaum weshalb.