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Er weigere sich, Kerkhoven als moralische Instanz anzuerkennen: auf diese Formel legte sich Mordann fest. Kerkhoven entgegnete, von einem moralischen Eingriff oder Urteil sei nicht die Rede; es gehe lediglich um die Aufhebung eines psychischen Drucks, etwas wie operative Entfernung eines Fremdkörpers. Mordann kreischte höhnisch. »Inwiefern denn, Herr Zauberer? Medizin mit Seelsorge freß ich nicht. Brauch ich einen Theologen, bin ich um Adressen nicht verlegen. Aber Martin Mordann und die Theologie sind lächerliche Unvereinbarkeiten, das können Sie sich an den Fingern abzählen.« – »Ich weiß es. Immerhin, Seelsorge ist ein weiter Begriff. Wir stecken da noch in den Anfangsstadien. Sie ist, wenn Sie schon die Theologie hereinziehen, noch so weit von Gott entfernt wie... na wie die Staatskunst vom Völkerfrieden. Erlauben Sie mir, auf meine Weise Arzt zu sein.« – »Habe nichts dagegen. Nur... mit welchem Fug vergreifen Sie sich an meiner Lebensidee? was Sie fordern, ist nicht mehr und nicht weniger, als daß ich zum Verräter an ihr werde.« – »Es würde mich wundern, wenn der eminente Schriftsteller, der vor mir sitzt, nicht Argumente fände, die ihn gegen jeden Angriff decken.« – »Sie werden nicht erleben, daß ich Ihnen dankbar die Hand lecke, weil Sie mir den Hof machen. Sie müssen es schlauer anpacken.« – »Die Briefe als solche interessieren mich nicht. Nur als Symptom.« – »Was soll das heißen, zum Donnerwetter? Symptom wofür?« – »Symptom eines Lebensirrtums.« – »Was sagen Sie da! Das ist hirnverbrannt!«
Kerkhoven sah unschlüssig aus. Sollte er das Messer ansetzen und den Schnitt in die kranke Seele wagen? Es war nicht minder verantwortungsvoll als wenn der Chirurg vor einer Operation auf Leben und Tod steht. Dem Chirurgen helfen Chloroform und Lokalanästhesie gegen den aufsässigen Körper, womit aber war der unbetäubbare, verzweifelt um sich schlagende Geist zu bändigen? Und war seine, des Arztes, Erkenntnis sakrosankt? War er unfehlbar? war die Diagnose richtig? und war die »Operation auf Leben und Tod« nicht doch mehr ein moralisches Gericht als eine Rettungstat? Welcher Mensch ist so klar über alle seine Motive, daß er jene Beweggründe ausschalten könnte, die er sich, um an seiner Sache nicht zweifeln zu müssen, verheimlicht?
»Ich sehe schon, Herr Mordann,« begann er, »ich muß Ihnen vor Augen führen, was Sie mit Ihrem großen Scharfsinn eigentlich wissen sollten, oder Sie wären nicht der glänzende Psychologe, als den Sie alle Welt bewundert. Der Aufdecker und Entdecker von Geheimnissen. Schön. Das war Ihr Verdienst und Ihr Ruhm; es ist zugleich die Ursache Ihrer gegenwärtigen Nervenkatastrophe...« – »Nanu, nanu, nanu!« rief Mordann, dreimal, mit schlecht verhehltem Schrecken, »was malen Sie mir denn da für einen Teufel an die Wand!« – »Es gilt, den Dingen ins Gesicht zu sehen, dann kann man die Folgen abwenden. Der Zusammenhang ist evident. Sie haben sich im Lauf Ihres Lebens so vieler menschlicher Geheimnisse bemächtigt, ob auf legale oder illegale Weise, untersuche ich nicht... das kommt auch nicht in Betracht... der Zweck kommt in Betracht... der Zweck ist ja immer der Verderber... Es war Ihnen um Macht zu tun... Macht um jeden Preis, Macht über einzelne, über Gruppen und Parteien, über ein ganzes Land. Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, daß Sie eine unterdrückte, entbehrungsreiche Jugend hatten. Ich entsinne mich, irgendwo in Ihren Schriften sprechen Sie von einem Helotendasein. Das erklärt natürlich vieles. Die Machtgier hat alle andern Triebe verdrängt und erstickt. Ihre Natur, Ihre Lebensform, Ihr Gemütshaushalt hat sich ausschließlich darauf eingestellt. Geheimnisse wissen, durch das Wissen von ihnen herrschen, die Welt unter Druck setzen, gefürchtet sein. Zuchtmeister, Präzeptor, den Höchstgestellten noch mit dem Bewußtsein gegenübertreten: ich kann dich zerschmettern, wenn ich will, denn ich habe dein Geheimnis... ich verstehe, man fühlt sich zum Gott werden, zum Rachegott, zum Sühnegott... da braucht man dann keine... wie sagten Sie?... keine Theologie. Gott selber braucht keine Theologie. Nur hatten Sie eines dabei vergessen: Ihr menschliches Maß, Ihre Tragfähigkeit, das was in jedem von uns und folglich auch in Ihnen als Blutsgewissen, als Seelengewissen steckt. Das ist keine moralische Feststellung, sondern eine dynamische, im Sinn des Kräftespiels. Was ich versuche, ist eine Deutung des Phänomens Martin Mordann, eine, die ihm vielleicht die Möglichkeit zur Reorganisation bietet. Sie sind sechzig, nicht wahr? über sechzig... ich glaube, ich habe schon einmal über den Rhythmusablauf mit Ihnen gesprochen. Dem liegt ein wunderbares Gesetz zugrunde, für das ich noch keine befriedigende Formulierung gefunden habe. Die menschliche Natur neigt, wahrscheinlich nach siebenjährigen Perioden, immer dann am stärksten zum Tode, wenn sie ihre seelischen Bestände verwirtschaftet hat. Um die sechzig herum stellt sich die letzte entscheidende Frage; das Leben nachher und seine Dauer beruhen auf der gewonnenen biologischen Weisheit, wenn es überhaupt Leben ist und nicht eine der vielen Altersformen von stationärer Agonie. Deshalb gibt es auch nichts Großartigeres als das Wiederaufflammen der Genialität bei Greisen. Denken Sie an Tizian, an Verdi, an Goethe oder Tolstoi. Sie sagen, daß ich Sie zum Verrat an Ihrer Idee verleiten will. Aber diese Idee haben Sie ja selber längst verraten. Brausen Sie nicht auf, es ist so. Und zwar durch die Abwürgung Ihrer warnenden Instinkte. Haben Sie nicht eines Tages gemerkt, daß Ihnen die Zeit den Rücken kehrte? Bestimmt haben Sie es gemerkt, Sie wollten es nur nicht wissen. Es ist eben das: die Macht, mit der man sich übernimmt, zerschellt schließlich an der Macht, die das letzte große Geheimnis auch für Sie bildet. Und das besitzen Sie nicht in Ihrem Zettelkasten, Herr Mordann. Wenn Sie die Briefe ausliefern, beendigen Sie quasi einen natürlichen Prozeß. Sie vollziehen damit eine Symbolhandlung, gegen deren wohltätige Folgen sich nur noch eine abgestorbene Erscheinungsform von Martin Mordann sträubt. Der Geist, der böse Geist sozusagen, der sich das Rebellieren nicht abgewöhnen kann, nicht der Mensch.«
Mordann saß am Tisch, den Kopf geduckt, die krampfhaft geballte Faust ans Kinn gepreßt, gnomhaft, vollständig starr. Kerkhoven hatte die Hände über den Knieen gekreuzt und sah ihn erwartungsvoll an. »Wo sind die Briefe deponiert?« fragte er leise. – »In einem Banksafe in Basel,« kam es wie aus einer Versenkung. – »Würden Sie gestatten, daß ich an den jungen Brederode ein paar Zeilen schicke?« – »Nein!« schrie Mordann außer sich und wandte ihm das verstörte Gesicht zu; »Sie quasseln, Herr. Sie wollen mich einschüchtern. Sie nützen Ihre Situation sträflich aus. Sie sind bezahlt, um mich klein zu kriegen, weiter nichts.« – Kerkhoven sagte kalt: »Ich habe sehr oft die Erfahrung gemacht, daß Leute, deren Beruf das Schreiben ist, auffallend wenig Einbildungskraft besitzen.« – »Ja, bin ich denn nach Ihrer Meinung bloß ein Skribent, der seinen eigenen Tod überlebt hat?« schäumte Mordann, in seiner Eitelkeit bis zur Qual getroffen; »wenn ich, nach Ihrer Theorie, nur meinen Machthunger hätte stillen wollen, hätte ich einen andern Gebrauch von meiner Wissenschaft machen können als es tatsächlich geschehen ist. Das unterste zu oberst hätte ich kehren können, nicht ein Stein wäre auf dem andern geblieben, zehn Jahre früher wäre der große Kladderadatsch hereingebrochen. Im kritischen Moment habe ich immer erst die Belastungsprobe angestellt, ob das, was zerstört werden mußte, das aufwog, was erhalten werden mußte.« – »Das ist eben Ihr Wahn: daß zerstört werden mußte. Und, verzeihen Sie das furchtbare Wort: Ihr Dünkel, daß Sie etwas erhalten konnten.« – »Ja, um Himmelswillen, Herr, ich hatte die Mission. Ich hatte den Auftrag.« – »Von wem?« – »Was heißt das: von wem? Von wem hat man den Auftrag, zu sein, wer man ist?« – »Da sind wir beim springenden Punkt,« sagte Kerkhoven und stemmte beide Arme auf die Tischplatte, »der Mensch steht genau in der Mitte zwischen Freiheit und Schicksal. Die Instinktverluste, die einer erleidet, und das ist ein Existenzproblem ersten Ranges, richten sich danach, wieviel Freiheit er sich anmaßt und wieviel Schicksal er zu tragen gewillt ist, er selbst, er allein. Nicht zu verhängen, zu tragen!« – »Versteh ich nicht. Ist mir zu tief. Obschon ich ungefähr ahne, wo Sie hinauswollen. Na, und? was hab ich schon davon gehabt? Bin ich etwa ein reicher Mann? Ich habe kaum zu leben. Hat man mich geehrt? Ich bin verschrieen wie ein toller Hund. Wo ist mein Lohn, wo sind meine Pfründe, wo meine Genugtuungen? In mir drin. Nirgends sonst als in mir drin.« Er schlug sich dröhnend auf die Brust, daß es klang wie wenn man auf eine leere Kiste schlägt. – »Es ist das Schreckliche bei einem Mann wie Ihnen,« sagte Kerkhoven trüb, »daß er sich im Hader der Dialektik verzehrt und nicht sieht, nicht spürt, die lebendige Welt nicht, das einfache Leben nicht. Geben Sie doch nach! Lassen Sie sich doch einmal fallen! Der selbstmörderische Geist... den habe ich gemeint vorhin, als ich von dem Mangel an Einbildungskraft sprach. Stellen Sie sich vor.... der junge Mensch... dieser junge Graf Brederode... ich habe Nachrichten eingezogen...« – »Aha! aha! mein ahnungsvolles Gemüt...« – »Nichts von dem, was Sie vermuten... selbstverständlich nicht... die Recherchen gingen auf unauffälligen Umwegen... es handelt sich da um einen Fall von Vaterkult... der bloße Gedanke, daß ein Hauch von Unglimpf das verehrte Bild beflecken könnte, macht ihn zu jedem Verbrechen fähig... nie würde er glauben, und wenn ers schwarz auf weiß vor Augen hätte... die Unantastbarkeit des Vaters ist für ihn ein religiöses Dogma... daß die Briefe eine Fälschung sind, steht für ihn fest... trotzdem zittert er vor der ehrenrührigen Beschuldigung. Erinnern Sie sich nicht an sein Gesicht? Er war dreimal bei Ihnen. Ist nicht der Eindruck einer überzeugenden Wahrhaftigkeit in Ihnen haften geblieben, oder spielt das keine Rolle? Stellen Sie sich vor: auf der einen Seite ein Mensch, dem das Fundament einzustürzen droht, dem Sie gewissermaßen ein Ideal schenken, auf der andern ein Haufen Papier in einem Safe...« – »Ich habe keine Ideale zu verschenken, man hat mir keine übrig gelassen, Herr!« – »Sie entscheiden nicht über ihn dabei, Sie entscheiden über sich.« – »Nein, ich tus nicht,« knirschte Mordann und erhob sich wankend, »scheren Sie sich zum Teufel! Nein, nein und nein!«
Kerkhoven packte ihn, um ihn zu stützen. Er selbst war einen Augenblick vor Erschöpfung schwindlig. Aber die Züge des Andern, den er um die Schulter gefaßt hatte, waren vom Tod gezeichnet.