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Mit der Frühpost erhielt sie einen Brief von Alexander, der folgenden Wortlaut hatte:
»Seit du fort bist, liebe Bettina, liegt auf meinem Schreibtisch eine angefangene Arbeit, die die sonderbare Überschrift trägt: Bekenntnisse eines Gottlosen. Ich hatte sie mir als einen Versuch gedacht, hinunterzugraben bis an die Wurzel der geistigen Existenz, um den Urirrtum zu finden. Denn ohne solchen Irrtum, solche Grundverfehlung, das wirst du zugeben, wäre eine Lage nicht möglich wie die, in der ich mich befinde. Aber als ich heute das Geschriebene überlas, erkannte ich die Bemühung als eitel. Jeder Schriftsteller hat im Lauf seines Lebens einen derartigen Massenverbrauch an Worten, daß die Worte allgemach ihr Gesicht und ihr Gewicht verlieren. Nie ist das Ausgesagte das Letztgiltige, das Unumstößliche. So auch hier. Es ist der schlagende Mut nicht drin, die große Schonungslosigkeit nicht. Ich blätterte zurück und zurück, und jede Seite stierte mich an wie ein aufgeschmücktes Stück Verwesung.
»Was hat es gefrommt, Bettina, das Formen und Schmieden? Zwanzig oder mehr Bücher in die empfindungslose Zeit hineingeworfen: was hab ich ausgerichtet damit? was hat die herzverzehrende Plage gewirkt? wo ist die Ernte von all dem Säen, jetzt, in meinem neunundfünfzigsten Jahr? Nicht einmal aus meinem engsten Umkreis hab ich die Fratzen und Nachtmare bannen können; trauriges Vorbild für die, die ich zu einem trügerischen Glauben an mich verführt habe. Welchen Zweck soll es haben, weiterzubauen auf einem Fundament, das nicht trägt, an einem Bau, den niemand für bewohnbar, ja nur für vorhanden hält als ich selber? Auch die Bücher waren nur Gespenster, Schwaden aus der Wahnwelt. Vertan, vertan. Es gibt eine Krankheit des Schaffens wie es eine Krankheit des Tuns gibt, jenes Tuns, das Flucht vor der Tat ist. Wohl gibt es auch ein Schaffen, das Tat ist, aber dieses ist verwandelnd und gottnah; seinen begnadeten Bezirk wagt der Teufel nicht zu betreten, der Atem geht ihm darin aus.
»Es ist eine unmenschliche Traurigkeit in mir, Bettina. Sie schnürt mich ein wie eine Zwangsjacke. In meinem Denken ist kein System und keine Folge mehr. Ich begehre dumpf nach etwas, kann aber nicht ergründen, was es ist. Vielleicht ist es mein Selbst, nach dem ich begehre. Es kommt mir vor als sei mir dieses mein Selbst vor unbestimmbarer Zeit auf rätselhafte Weise gestohlen worden. Ich habe es nachher gesucht und überall reklamiert, doch ich habe es nicht mehr zurückerhalten. Ich kämpfte mit der Lust, die Handschrift der erwähnten Bekenntnisse ins Feuer zu werfen. Ich kann mich nicht dazu entschließen. Wahrscheinlich weil ich nicht fähig bin, die letzte Konsequenz zu ziehen. Mein ganzes Ich, der geistige, seelische und physische Teil, ist in einer heillosen Unordnung. Ich kann meine Empfindungen gleichsam nicht beaufsichtigen, mein Zeitgefühl ist gestört, bisweilen ist mir zumut als ginge ich mit dem Kopf nach unten. Es war wohl ein Sieg über Pappfiguren, den man errungen hat im lichtlosen Weltgewühl, gekettet an Haus und Hof und Weib und Kind und Soll und Haben. Gestern sagte ich mir in einem Moment inneren Stupors: es muß ein ungeheurer Sinn darin liegen, daß Männer, die ihrem Selbst oder ihrem Gott begegnen wollten, in die Wüste gegangen sind. Wäre nicht unser Söhnchen, unser Helmut, ich weiß nicht, was mit mir geschähe. In der Tiefe der Brust ist ein Befehl, man kann ihn nur nicht deutlich verstehen. Deine Briefe, was ists denn damit? ihr Ton hat so was Verloschenes, als seist du in China oder Kalifornien. Manchmal geh ich mitten in der Nacht durch die Zimmer und wundere mich über die verschlossenen Türen und Fenster...«