Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Am Tag darauf kam ein alarmierender Brief von Bettina Herzog, offenbar in großer Hast und Verwirrung geschrieben. Sie und Alexander waren Hals über Kopf mit dem Buben von Ebenweiler abgereist und hatten sich, unerfindlich warum gerade dort, in einem kleinen Hotel im Prätigau eingemietet. Es machte den Eindruck eines Zusammenbruchs auf der Flucht. Kerkhoven rief das Gasthaus telephonisch an, und als Bettina am Apparat war, erkundigte er sich besorgt, was denn los sei, weshalb sie die Reise nicht bis Seeblick fortgesetzt hätten. Das sei ja die Absicht gewesen, erwiderte Bettina in flehend-ratlosem Ton, allein Alexander habe plötzlich erklärt, er könne keine Menschen sehen, er hasse den Bodensee, auch vor einem Aufenthalt in Zürich graue ihm, so habe sie mit ihm den Zug verlassen und in die Einöde gehen müssen, in der sie sich seit zwei Tagen befänden. Es sei wie ein hysterischer Anfall über ihn gekommen, sie wisse nicht, was sie tun solle. »Es muß doch ein bestimmter Grund vorliegen?« fragte Kerkhoven. Bettina entgegnete zögernd: »Unser Haus ist versteigert worden. Er kann und kann es nicht verwinden.« Kerkhoven dachte nach. Dann sagte er: »Hören Sie zu, Frau Bettina. Bleiben Sie getrost noch ein paar Tage dort. Widersetzen Sie sich ihm nicht. Überreden Sie ihn zu nichts. Tun Sie alles, was er verlangt, auch das Ungereimteste. Er wird morgen woandershin wollen. Fahren Sie mit ihm, wohin er will. Ich muß nur immer wissen, wo Sie sind. Vor allem Mut!«

Während des Gesprächs stand Marie hinter ihm. In wenigen Worten setzte er ihr auseinander, worum es sich handelte. Da er wußte, welchen Anteil sie an allem nahm, was Alexander Herzog und, seit sie Bettinas Brief gelesen, auch Bettina betraf, sagte er: »Wir werden die beiden bald im Hause haben. Ich möchte, daß du die Aufzeichnungen Herzogs kennen lernst. Du mußt über ihn und die Frau im Bild sein. Ich glaube, ich kanns wagen. Er wird es sicher gutheißen.«

Er gab ihr das Manuskript. Er sah die Wirkung voraus. Es konnte anders nicht sein, wer immer den Gannakreis betrat, auch nur das von einer belasteten Phantasie gemalte Abbild, wurde davon tingiert wie von einem ätzenden Farbstoff, der in alle Hautporen dringt. In den nächsten Tagen war er so beschäftigt, daß er Marie kaum zu Gesicht bekam. Er wurde dringend nach Solothurn berufen, den Tag darauf war er in Waldshut im Badischen wegen eines schweren Falls von Melancholia attonita; der betreffende Kranke war ein Freund aus seinen Universitätsjahren, der es inzwischen zu einer hohen Stellung bei der Regierung gebracht und sich plötzlich seiner erinnert hatte; er wollte von keinem andern Arzt wissen als von ihm, trotzdem fast ein Vierteljahrhundert verflossen war, seit sie einander zuletzt gesehen. Vermutlich hatte er von Kerkhovens Wirksamkeit vernommen, waren doch in der ganzen Gegend bis weit hinein ins Reich die sonderbarsten Gerüchte über ihn im Schwange. Keineswegs nur freundliche und gutartige; namentlich in seiner engeren Umgebung trat eine nicht recht zu fassende Feindseligkeit immer stärker hervor; er hatte den Eindruck als ob die Bevölkerung heimlich gegen ihn aufgewiegelt würde; sowohl Marie als auch Schwester Else hatten ihm schon von einzelnen häßlichen Gerüchten erzählt; er nahm es auf die leichte Achsel, obschon es ihn zuweilen verstimmte; die Frauen waren jedoch beunruhigt und forschten den verborgenen Urhebern nach.

Mit Marie konnte er schon deshalb wenig beisammen sein, weil sie ihre Tochter Aleid nicht eine Stunde allein ließ. Sie hatten nur den späten Abend für sich, und auch den nur, wenn Kerkhoven zu müde war, um zu arbeiten, zu müde sogar, um seine Notizen zu sichten und zu ordnen. Als sie ihm Ende der Woche die Herzogschen Bekenntnisse zurückbrachte, sah sie aus wie eine Leidende, die für kurze Zeit das Bett verlassen hat. Sie legte die Mappe stumm auf seinen Schreibtisch, setzte sich in einiger Entfernung von ihm nieder und schaute in die Luft. »Nun, was sagst du?« richtete er endlich das Wort an sie, nicht so sehr, um ihre Meinung zu hören als um ihr bedrückendes Schweigen zu brechen. – »Was soll man da sagen?« versetzte sie; »man schämt sich, daß man ein Weib ist.« – »Es scheint, du hast dich stark engagiert.« – »Du nicht?« – »Ich habe mich bemüht, es... wie soll ich sagen? es durchs Fernrohr zu betrachten.« – »Das glaub ich dir gern, aber wir andern sind keine Astronomen.« – »Es war auch für mich nicht so einfach wie du meinst. Ganna ist eine Formel für so viele Erscheinungen im Leben... die Figur faßt so vieles zusammen... auch in meiner Vergangenheit ist ja...« – »Du denkst an Nina? Mein Gott, Nina war ein unschuldiger Engel...« – »Das wohl, aber erinnere dich an ihre tyrannische Liebe. Wie die einen schuldig gemacht hat. Den Wahnsinn, der darin liegt, einen Menschen ausschließlich besitzen zu wollen. Erinnere dich. Doch an Nina hab ich nicht in erster Linie gedacht, sondern an meine Mutter. Das hat mehr mit meinem Blut und Hirn zu tun, wirst du zugeben. Sie war eine Maßlose durch und durch. Maßlos, wenn sie mich gezüchtigt hat und maßlos, wenn sie mich vergöttert hat. Als Kind war ich ein halber Psychopath unter ihrer Fuchtel. Ja, sie war eine Ganna, eine vom Stamm der Gannas. Du begreifst, daß ich mir diese fast leibhaftige Ganna nicht zu nah kommen lassen darf.« – »Ich find es wunderbar, daß du es in der Gewalt hast, Joseph.« – »Es kostet was, Liebste, es liegt was dahinter.« – »Ich weiß. Aber vergiß die zwei Menschen nicht. Die haben es nicht in der Gewalt.« – »Wie sollt ich die denn vergessen?« – »Na ja, ich meine nur... es könnte sonst zu spät sein.« – »Da sorg dich nicht. Die vergeß ich nicht. Die brauch ich.« Er sagte das in so eigenem Ton, daß Marie verwundert aufsah. »Wieso? was heißt das: brauchen?« – »Ich brauch sie eben,« wiederholte er und stach mit dem Bleistift Punkte auf ein Blatt Papier; »man braucht eben mal die und die Menschen. Ist dir das so neu?«

Marie schaute ihn aufmerksam an. Dann erhob sie sich, trat zu ihm hin und schob mit der Hand sein Kinn ein wenig in die Höhe, sodaß auch er sie anschauen mußte. »Du kommst mir verändert vor, Joseph,« sagte sie, »du verschweigst mir was. Sag mir, was es ist.« Er erschrak. Dies entging Marie nicht. Er ärgerte sich über sein Erschrecken und tat lustig entrüstet. Es gelang schlecht. Marie drängte, doch er schüttelte obstinat den Kopf und gab vor, nicht zu verstehen, was sie meinte. Da ließ sie ihn.


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