Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Immerhin ist es eine Brandstätte. Man muß den Schutt wegräumen und sehen, was sich von den Trümmern für den Neuaufbau verwenden läßt. Eine Generalrevision. Die Gespräche, die sie führen, bewegen sich nicht mehr in den Abgrund hinunter, sie nehmen allmählich die Richtung nach oben. Der unterste Punkt scheint überwunden, obwohl sich ringsum noch überall die Weglosigkeit des Nachtbezirks ausbreitet.

Sie sind schier unzertrennlich. Nie haben sie in so herzlicher Vereinigung gelebt. Es ist als lernten sie einander erst kennen. Sie machen die lehrreiche Erfahrung, daß ihre Ehe ein zehnjähriger Entfremdungsprozeß war. Sie werden einander neu. Das schafft eine neue Fremdheit, aber eine fruchtbare. Es gelingt Marie, ihn zu Entschlüssen zu bekehren, bei denen er die Illusion hat als habe er sie aus eigener Kraft gefaßt. Er bezwingt die selbstzerstörenden und Marie zerstörenden Begierden. Ohne den Frieden der Nerven und der Sinne sind alle Rettungsversuche kindisches Bemühen. Der Frevel, den er begangen hat, wird ihm bewußt. Das Gebot der Entsagung formt sich als erste Stufe des Aufstiegs. Marie geht nicht von ihrer Überzeugung ab, daß man eine Frau, die man liebt, vor allem einmal freigeben muß. Er denkt lange darüber nach und gibt es endlich zu. Er fragt, ob es, in seinem und ihrem Fall, nicht zu spät sei. Nein, dazu ist es nie zu spät. Er ist also willens, es zu tun. Sie soll so frei sein, daß kein Gedanke von ihm, kein Wunsch sie mehr bindet und verpflichtet. Als wenn er selber unsichtbar wäre, nur noch als Schutzgeist vorhanden. Schwer. Aber gibt es wahrhafte Entsagung, die leicht ist?

So könnte er möglicherweise die Überlegenheit wiedergewinnen, um sie aus der Verstrickung zu lösen. Könnte die Angst von ihr nehmen. Könnte die Leidenschaftserinnerungen vermauern. Es müßte freilich mit äußerster Behutsamkeit geschehen. Sie dürfte die Absicht nicht merken. Es wäre ein Anfang. Dann müßte er ihr allerdings frische Lebensspeise geben, etwas, wovon sie sich seelisch nähren und sättigen könnte, eine Spannung, eine tragende Bewegung, denn so weit ist er ja nun in der Kenntnis ihrer Natur gelangt, daß er in diesem Liebeserlebnis nicht mehr etwas Zufälliges und Gesetzloses sieht, den leichtfertigen Treubruch einer ihm zugehörigen Frau, sondern einen Akt der Herzensnot, eine dämonische Entfaltung. Das muß man wissen, sagt er sich, sonst kann man einen solchen Menschen nicht verstehen.

Aber Marie, deren Inneres alle seine Regungen seismographisch registriert, findet, daß er dabei nach der entgegengesetzten Seite übers Ziel schießt. Warum es denn so schwer nehmen? fragt sie; warum es mit Zentnergewichten beladen? Er möge sich doch, unbeeinflußt von seinem persönlichen Anteil, vorstellen, was tatsächlich und wirklich passiert sei. Nichts, nichts, nichts. Ihm nämlich nicht: der sich aufführe wie ein Mann, dem das bitterste Unrecht widerfahren ist. Er solle es doch natürlich und vernünftig betrachten, Joseph Kerkhovenisch, nicht mit dem Pathos eines Leidtragenden, der seine Liebe bestatten muß, denn gerade diese Liebe sei in keiner Weise in Mitleidenschaft gezogen. Das alles sei nicht mehr wahr, es sei sogar ein wenig mauvais genre, sehe er das nicht ein?

Immer wieder kommt sie darauf zurück, und obwohl ihr durchaus nicht scherzhaft zumute ist, bemüht sie sich, um ihn heller und leichter zu machen und weil sie nur aufzuatmen vermag, wenn er nicht wie die verkörperte Düsternis durchs Haus wandelt, sein Verhalten ins Komische zu ziehen, und manchmal lacht sie ihn direkt aus. Sie hat so viel Humor, und wo es eine Gelegenheit zu spotten gibt, läßt sie sie schwerlich vorübergehen, auch wenn sie zwei Minuten vorher nicht gewußt hat, wie sie sich aus ihrem Jammer retten soll. Bisweilen lächelt Kerkhoven auch wirklich; es erscheint ihm nicht ausgeschlossen, daß er sich mit der Zeit in die souveräne Haltung würde hineinleben können, die Marie mit der Ungeduld einer nervös Ermüdeten von ihm fordert. Jedoch es ist der Körper, der Widerstand leistet, der dumpfe, plumpe, schwunglose Mannsleib, dem seit Jahrhunderten und Generationen die unerschütterliche Vorstellung vom garantierten Besitz einer Frau innewohnt, sodaß er es als Mneme in sich trägt und sich grimmig wehrt gegen Raub und Entehrung. Das liegt im Blut, keine Wandlung der Sitte und der Zeiten macht es alt und überlebt. Eine Frau ist kein Versatzobjekt und kann nicht ausgeliehen werden und nicht dem ersten besten Wegelagerer als vorübergehendes Eigentum zufallen, das verwüstet die Ordnung, greift ein in heilige Form, entzieht der Familie und wahren Ehegemeinschaft den Boden, und die angenehm temperierte Gewohnheit der Sinnenliebe, Palliativ gegen alle Gelüste und Abenteuer, einem wohlbehüteten Herdfeuer zu vergleichen, wird zum fragwürdigen und umstrittenen Recht. Das ist nicht erlaubt, das darf nicht sein, es ist eine mißverstandene Freiheit.

Marie schüttelt trostlos den Kopf. Dieses ewige Bohren im Vergangenen! zum Verzweifeln. Sie reden tagelang, nächtelang ; kein Fertigwerden, man dreht sich im Kreis. Doch umgibt er sie dabei mit einer unvergleichlich zarten Sorgfalt. Er findet Mittel, sie abzulenken, die äußerlich scheinen, aber auf listige Weise ins Innere wirken. Sie unternehmen gemeinsame Fahrten in die Landschaft, Wanderungen durch die Wälder. Kerkhoven läßt seltene Früchte, seltene Blumen aus der Stadt kommen, alte Stiche, alte Drucke, die Marie liebt. Er, dem es immer ein Mißbehagen verursacht hat, an die Überflüssigkeiten des Lebens zu denken, das Schmückende und Verschönende, anerkennt auf einmal ihre Bedeutung und ist unermüdlich in der Herbeischaffung. Es macht manchmal den Eindruck als wolle er sich in der Obsorge betäuben. Aber es liegt eine tiefere Absicht dahinter. Er hat erfahren müssen (bei einem ganz bestimmten Fall, wir werden gleich davon zu sprechen haben), daß die geschlechtliche Ohnmacht auf das ganze geistige und seelische Gebiet übergegriffen hat, und er sieht in dem inneren Wiederaufbau, den er an Marie vornimmt, die einzige Möglichkeit, wie er wieder Arzt werden kann. Von der Liebe aus. Von einer Halluzination des Herzens aus. Sonst geht es auf keine Weise mehr, alle andern Wege hat er bis zum Ende abgeschritten.


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