Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Der Kampf brannte immer heißer. Es war wie wenn sich vier Menschen vor einer verschlossenen Pforte zusammendrängen und keinem von ihnen wird Einlaß gewährt. Keiner besitzt den Schlüssel, obgleich jeder hofft, daß der andere ihn hat. Sie studieren die Beschaffenheit des Schlosses und der Riegel: keine Aussicht, daß sich das ehern versperrte Tor öffnen läßt. Wo mag der Schlüssel sein? Denn es stellt sich heraus, daß keiner ahnt, wo er sich befindet und wie man seiner habhaft werden kann. Vielleicht braucht man keinen Schlüssel und muß nur ein Zauberwort wissen oder auf eine geheime Feder drücken. Sie spähen, sie lauschen, sie beraten, sie senden Rufe aus in der Erwartung, daß ihnen von jenseits der Pforte ein Zeichen wird. Nichts dergleichen geschieht. Wenn sie den Schlüssel nicht haben, gibt es keinen Zugang.

Das ist ungefähr, bildlich gesehen, die Situation. Man muß sich fragen: was ist der Antrieb? Was geht in diesen Menschen vor? Was bewegt sie und was ist das Ziel der Bewegung? Es handelt sich ja nicht um ein Konventikel, nicht um irgendwelche sektiererische Gelüste oder überspannte Ideen, noch weniger um eine spintisierende oder theoretische Gottsucherei. Beide Männer und beide Frauen stehen auf dem Scheitelpunkt ihres Lebens; sie sind gesättigt von Erfahrungen, ausgestattet mit allen Erkenntnissen ihrer Zeit; jeder hat sein vollabgemessenes Tagewerk, seine beruflichen und häuslichen Pflichten und schreitet fest auf der Erde, tätig unter Tätigen: was versetzt sie also in die geisterhafte Unruhe?

Sie finden nicht mehr ihr Auslangen mit den Erfahrungen und Erkenntnissen, das ist es. Das tägliche Tun, sie können es sich nicht länger verhehlen, wird allmählich zu einem freudlosen Betrieb. Die wiederkehrenden Geschäfte und gleichbleibenden Verrichtungen erstarren zu einer bloßen Mechanik des Lebens. Man kommt nicht mehr weiter mit dem Gegebenen. Man hat keine Vorräte mehr, von denen man zehren kann. Die Kammern und Truhen, in denen man sie aufgespeichert gewähnt, erweisen sich als leer. In allen Dingen des inneren Seins sieht man sich auf einen Bodensatz, auf schäbige, verdorrte Überbleibsel angewiesen. Es beginnt mit der Nahrung zu hapern. Eine Weile läßt sich der Schein aufrechterhalten als hätte man noch reichlich zu essen. Aber nach und nach stellt sich der Hunger ein. Und die Folgen des Hungers sind Schwäche, Verzweiflung und die immer unstillbarer werdende Begierde nach Speise.

Aber das ist nicht etwa eine Einzelerscheinung, beschränkt auf diese zufälligen vier Personen. Es ist eine Hungerepidemie. Es ist ein europäischer Hunger, es ist ein planetarischer Hunger. Die vier Personen, von denen die Rede ist, sind nur insofern in einer besonderen Lage, als ihre Nerven- und Seelenverfassung sie zu außergewöhnlich empfindlichen Registrierapparaten macht. Sie spüren den Zustand der Welt bis in ihre Pulsadern hinein. Das Wort vom traumatischen Tetanus, Seelentetanus, ist eine Kerkhovensche Prägung; daß man zwanzig Jahre lang wie unter einem glühenden Bleidach gelebt habe, im Starrkrampfschlaf. Und nun: die ganze Menschheit ein zitternder Leib, von Fieberschweiß bedeckt, zähneklappernd in der Weltraumkälte liegend, in Hungerdelirien, nichts vor Augen als den Tod. Aber es stehen einige auf, die treffen Anstalten, den Tod von sich abzuschütteln, den Tod als Tatsache; und sie gehen mit dem brennenden Hunger in den Eingeweiden unter ihren Brüdern und Schwestern herum mit Mienen als hörten sie die Steine singen; es sind die Menschen des Aufbruchs, die den Weg von vielen in sich tragen. Ihre Wirkung ist geheim und anonym und eben daraus schöpfen sie eine Kraft, die jeden Widerstand niederschlägt.

Da ist zunächst Marie Kerkhoven. Von Haus aus ein Weltkind; erzogen und aufgewachsen in Sorglosigkeit, in einer Sphäre des Geschmacks und der Kultur, von Kindheit an gewohnt, ihre luxuriösen Neigungen zu befriedigen, in ihrer Denkungsart von der Tradition bestimmt und in ihren Handlungen von ihr behütet, voller Reiz, voller Impuls, so reich an Herz wie an Verstand, aber ohne eigentliche Mitte und ohne sichere Führung. Bis in ihr fünfunddreißigstes Jahr läßt sie sich treiben und merkt nicht, daß ihr Schiff leck geworden ist. Da kommt sie in die Verkettung, in die Konflikte der Leidenschaft; erlebt Enttäuschung und Verrat, den Zusammenbruch des geliebten Mannes, der sie dann durch einen Akt heroischen Verzichts zu sich selbst zurückführt; sie, die niemals allein gewesen, steht plötzlich allein in einer Welt, die nicht mehr die ihre ist (denn ihre ist verschwunden, zerschlagen, ausgerottet), und angesichts deren maßloser Zerrüttung nur eines zu tun übrig bleibt, wenn man nicht mit in den Abgrund geschleudert werden will: Hand anlegen; retten, was noch zu retten ist; die Isolierzelle verlassen und Menschendienst leisten. Sie befolgt das innere Gebot und macht es sich zum äußern Gesetz. Doch es zeigt sich, daß das Haus, an dem sie helfen will zu bauen, eine Ruine ist. Lächerlich, ein paar Ziegel und ein paar Kellen Mörtel herbeizuschleppen, es stürzt auf allen Seiten ein. Es gibt kein Vollbringen, es reift keine Frucht, es meldet sich keine Freudigkeit, der Glockenschlag des Herzens ist nicht da. Und den will sie vernehmen, sonst lohnt sich das alles nicht. Die alten Stützen wanken, jeder Weg endigt an der bewußten Mauer, die gleichwohl zu dem einen zwingt, was dem Leben bisher gefehlt hat: Aufblick. Aber wenn der Blick keinen Gegenblick trifft, verzweifeln die Augen. Ist wer droben, der dich sieht? Ist ein Wesen, ein Geist, ein Unsagbares, dem du zuströmen kannst? Wo? was mußt du tun, um es zu finden? Glauben? Woran glauben? An einen Sinn, eine Gestalt, ein Gedachtes, ein Gefühltes? Glauben: vielspältiger Begriff, zerhadertes Wort, das, wie ein geheimnisvoller Vogel oder wie ein Komet, eine parabolische Bahn beschreibt vom Innern der Brust in die Unendlichkeit und aus der Unendlichkeit zurückkehrt in die Brust, tödlich schweigsam.

In einem früheren Teil dieses Buches wurde in etwas verändertem Bild bereits von dem »Schlüssel« gesprochen, nach welchem Marie suchte. »Sie hätte erst den Schlüssel haben müssen,« heißt es dort, »um die Tür aufzusperren, hinter der sie als die unabänderlich geprägte Person Marie Kerkhoven gefangen saß. Sie hätte das Gehäuse Marie Kerkhoven sprengen müssen. Und an dieser Aufgabe verzweifelte sie: aus Anhänglichkeit an ihre Form, aus Furcht vor den damit verbundenen Leiden, aus Liebe zu sich selbst.« Sie fragt sich dann, ob sie je den Menschen finden würde, dessen Sein oder Schicksal ihr zur Überwindung helfen könnte, denn ohne einen lebendigen Menschen, einen irdischen und sinnlich greifbaren, scheint es nicht möglich. »Sie sollte ihn finden, diesen Menschen,« heißt es zum Schluß.

Der unbewußte Helfer ist Alexander Herzog. Als er in ihr Leben tritt, ist das seine an der untersten Grenze angelangt und gänzlich aus den Fugen. Marie braucht ihm nur die Hand hinzustrecken, und er ergreift sie mit einer Dankbarkeit als wäre es das erste Erlebnis dieser Art, als hätte er nie eine Bettina gehabt. Darin sind ja die Menschen seltsam: immer ist eine neue Begegnung vonnöten, wenn Erneuerung geschehen soll: wir nützen uns alle aneinander ab und werden faul in der süßen Vertraulichkeit. Das leidenschaftliche Bekennertum in der aufgeschriebenen Geschichte seines Lebens wirkt auf Marie wie eine Offenbarung. Ein Märtyrer, aber ein glaubensloser; trotzdem steht er auf rätselhafte Weise in der Gnade. Ein Mensch von stark entwickeltem metaphysischem Bedürfnis, aber sein Reich ist ganz und gar von dieser Welt. Ein Herz voll Demut, aber er ist niemals auf den Knien gelegen. Er weiß nicht vom Gebet, in keinem Sinn, dennoch scheint er dem unbekannten Gott nahe zu sein. Er hat die große Leidensgeduld derer, die sich dem Schicksal beugen, und hängt mit animalischer Dumpfheit an den kleinen Genüssen des Daseins. Er ist imstande, andere zu ergreifen und zu befeuern, sich selbst läßt er ratlos im Stich. Diese Widersprüche verwirren Marie unbeschreiblich. Ihr ist als blicke sie in ein trüb kochendes Element. Der sänftigende Einfluß, den sie auf ihn ausübt, gibt ihr nach und nach ein Gefühl des Selbstvertrauens, das sie lang entbehrt hat. Daß sie ihm seelisch etwas bedeutet, zeigt ihr den Weg, den sie gehen muß, um ihn aus seiner Schattenwelt zu reißen. Auf einmal ist er es, der die Worte findet, nach denen sie ringt, der den heimlichen Wünschen Ausdruck verleiht, die in ihr brennen; es ist wie höhere Eingebung, sie möchte ihn am liebsten in die Arme schließen und ihn beschwören: streif deine Ketten ab, gefesselter Mensch! Er spürt ihre Not, er erkennt ihre eigentliche Fähigkeit, das Persönlichste an ihr, die angeborene Gabe, zu lehren und zu erziehen und überzeugt sie so nachdrücklich davon, daß sie zum zweiten Mal den Versuch mit Kindern unternimmt, planvoller, nicht so im leeren Raum sozialer Betätigung zerbröckelnd wie damals in Berlin. Ihre beiden Söhne, das Helmutlein und der kleine Imst (den sein Vater ruhig bei Jeanne Mallery gelassen hat), bilden die Keimzelle einer Anstalt, die keine ist, nur Spiel- und Heimstätte für allerlei umherschweifendes Kindervolk, Kinder von Taglöhnern, Handwerkern, alleinstehenden Frauen und politischen Flüchtlingen. Sie kommen und gehen, wann es ihnen paßt. Sie werden nicht gerufen, sie stellen sich ein, zuerst aus Neugier und weil man was zu futtern kriegt, dann aus Vergnügen an der scheinbar ungebundenen Vergesellschaftung und in wachsendem Respekt vor einer Führung, die ihnen die Illusion der Freiheit läßt. Die Sache redet sich herum, einer erzählt es dem andern, und ohne daß je eine Kundmachung oder gar Anlockung erfolgt ist, muß man alsbald trachten, den Zustrom zu dämmen. Es gibt keinen regulären Unterricht, keinen Stundenplan, es gibt nur Spiele, Wandern und Gespräch, sonderbares Gespräch oft, von Gott und göttlichen Dingen, die wie Sportregeln behandelt werden. Endlich hat Marie das Gefühl einer Leistung, noch mehr, einer Erfüllung. Ihr Tag ist gegliedert und reich an Geschehnis und Einblick. Sie weiß nichts von Müdigkeit, ihr ist als fliege sie über ein zerklüftetes Gebirge hin. Sie hat spezielle Freunde unter ihren Schützlingen, wenn sie mit denen spricht, sieht sie aus wie die strahlende junge Mutter eines ganzen Heerbanns von Kindern. Alexander Herzog, der wenig Talent hat für den Umgang mit der Jugend, ist zutiefst erstaunt über das, was er in ihr zum Leben erweckt hat, und in einem enthusiastischen Augenblick vergleicht er sie mit einem Kinderheiland. Lasset die Kindlein zu mir kommen, immer klingt dieses Erlöserwort auf, wenn eine Welt vor dem Umschwung steht. Marie erschrickt; nicht bloß vor dem Unziemlichen des Vergleichs, sondern weil sie sich kennt; sie weiß aus Erfahrung, wie leicht sie ihr Maß verliert, das körperlich gesetzte wie jenes, das ihr durch das Verhältnis zu den blut- und herzverbundenen Menschen vorgeschrieben ist. Nicht noch einmal darf es geschehen, daß Joseph Kerkhoven sich als Fremdgewordener außerhalb der Sphäre bewegt, in der sie allzu selbstvergessen schaltet. Sie muß sich ihm bewahren, ja aufsparen, sie muß an seiner Seite bleiben, im Geist und im Leibe. Und da ist auch noch Aleid; auch um die muß sie bangen, auch die muß sie halten. So schlingt sich Band um Band um sie, Pflicht um Pflicht, und mahnt sie, daß nur die gegenwärtige Stunde das Leben zu meistern vermag, wie immer die Gestirne stehen.


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