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Jeanne Mallery konnte nicht voraussehen, welch verhängnisvolle Torheit sie beging, als sie Karl Imst die Motive zu dem Selbstmord seiner Frau entschleierte, so wie Kerkhoven sie ihr dargestellt hatte, um sie von dem Schuldwahn zu erlösen. Sie hielt sich für verpflichtet, den Freund ebenfalls aufzuklären, vielleicht weil sie glaubte, auch ihrerseits ein Befreiungswerk damit zu tun. Hierin irrte sie jedoch gründlich. Es geschah etwas Unerwartetes. Er starrte Jeanne an als sei sie betrunken und rede im Rausch. Er tobte. Er schrie: »Du lügst; das lügst du in deinen verfluchten Hals hinein. Das hat sich der Professor Kerkhoven ausgedacht, um sich wichtig und mich unmöglich zu machen!« Jeanne wußte nicht, was sie davon denken sollte. Sie war wie erschlagen.
Was ging da vor? Etwas Lächerliches, Unglaubliches. In Karl Imst erwachte plötzlich der Bourgeois. Verholzte Begriffe von Familien- und Standesehre gewannen neues Leben und erlaubten ihm nicht, die augenfällige Wahrheit und Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Daß sein Eheweib, des Apothekers Imst angetraute Frau, solche Schlechtigkeit begangen, ihn durch ein teuflisch-überlegtes Selbstmordmanöver ins Zuchthaus gebracht haben sollte, war einfach nicht vorstellbar, und deshalb konnten sich die Dinge auch nicht so zugetragen haben. Indizien hin oder her; Beweise hin oder her; es war eine Erfindung, durch die der Name Imst auf ewig gebrandmarkt werden sollte. Von der Geschichte mit der Hellseherin Thirriot hatte er gehört; er erklärte das alles für Schwindel und konstruierte um Selmas Tod einen Sachverhalt, der ihm gestattete, die Vergangenheit auszulöschen und umzubiegen. Erstaunlicherweise lag ihm plötzlich an dem Phantom der bürgerlichen Wohlanständigkeit unendlich viel mehr als an seiner eigenen öffentlichen Lossprechung von der Mordschuld. Es war Ahnengötzendienst, Sippenwahn. Mit verbissenem Eifer machte er sich daran, die Megäre Selma in eine liebende und pflichtgetreue Gattin und Mutter zu verwandeln und Jeanne Mallery in eine von ihm zu spät durchschaute Verräterin und ein willenloses Werkzeug Kerkhovens.
Den Professor werde er zur Rechenschaft ziehen, brüllte er, werde ihn wegen Verursachung ehrenrühriger Nachrichten vor Gericht belangen. Jeanne lag vor ihm auf den Knien und flehte ihn an, sich zu mäßigen. Als die Auftritte sich wiederholten, schritt Kerkhoven ein. Er hatte das alles längst kommen gesehen. Der demolierte Kleinbürger, so nannte er Karl Imst im Stillen. Bei einem Versuch, den unflätig Tobenden zu bändigen, spuckte dieser vor ihm aus. Kerkhoven packte ihn bei den Schultern, drückte ihn in einen Sessel und sah ihm fest in die Augen. Da klappte er zusammen und murmelte etwas von seinem kranken Kopf. Am andern Tag war er verschwunden. Er hatte heimlich seinen Koffer gepackt und im Morgengrauen das Haus verlassen.
Diese Flucht war nicht so harmlos wie sie aussah. Man erfuhr, daß er in einem benachbarten Dorf Wohnung genommen hatte. Er ging unter den Bauern und Fischern herum und verbreitete üble Dinge über das Haus Seeblick. Unter anderm behauptete er, Jeanne Mallery werde gewaltsam ihrer Freiheit beraubt. Kerkhoven glaubte die Ausstreuungen eines bösen Narren nicht beachten zu sollen. Mit Unrecht. Böse Narren finden immer und überall Gehör. Die Feinde und Wühler, die bis jetzt im Verborgenen gearbeitet hatten, wagten sich nun ans Licht. Der Verleumdungsfeldzug des Karl Imst war der Beginn eines Kesseltreibens, das den Frieden von Seeblick alsbald ernstlich bedrohte.