Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Bettina Herzog befand sich gewissermaßen auf der Flucht. Ihr Aufenthalt in Zürich war eigentlich ein befristetes Exil. Dessen war sie sich bewußt, das wußten auch die zwei oder drei Freunde, die zu sehen und mit denen zusammen zu sein ein treibendes Motiv ihrer Reise gewesen war.

Einer dieser Freunde, ein junger Röntgenologe, hatte sie, um sie aufzuheitern und ihren traurigen Gedanken zu entreißen ungeachtet ihres Widerstands in jenes Haus mitgenommen, wo sie die Bekanntschaft Joseph Kerkhovens machte.

In einem niedrigen, stark überheizten Bücherzimmer saßen eng gedrängt zehn bis zwölf Personen, darunter nur vier Frauen.

Mit dem Augenblick, da sie das Zimmer betrat, überkam Bettina eine gespannte, unbehagliche Empfindung, die ihr nicht neu war. Sie hatte jedesmal mit ihr zu kämpfen, wenn sie im selben Raum mit einem Menschen war, von dem eine bestimmte atmosphärische oder körperliche oder geistige Wirkung ausging, gleichviel, ob die Gesellschaft groß oder klein war. Und je länger sie sich dieser Wirkung aussetzte, je mehr steigerte sich das hinstrebende Unbehagen, dem das instinktive Bemühen zugrundelag, den Ort der magnetischen Anziehung festzustellen.

Sie forschte unauffällig in den verschiedenen Gesichtern, bis ihr Blick auf eines traf, von dem sie dann sofort wußte, daß es der Urheber der geheimen Beunruhigung war. Obenhin betrachtet, sah der Mann aus wie ein wohlhabender Bauer oder Grundbesitzer, wie solche in der Schweiz auch in bürgerlichen Kreisen vielfach verkehren, aber da es eine Zusammenkunft von Ärzten und Wissenschaftlern war, schloß sich dies wohl aus. Er trug ein kurzes Kinnbärtchen, das im Zwielicht gelblich schien, sich aber nachher als angegraut erwies. Er saß auf einem für seine mächtige Figur viel zu kleinen Stuhl, der in den Schatten gerückt war, vermutlich nicht ohne Absicht. Er hatte die Beine nicht übereinandergelegt, was die unbequeme Gezwungenheit seines Dasitzens noch stärker betonte.

Bettina konnte nicht anders, sie mußte fortwährend seine Hände anschauen, die breit, knochig und vollständig unbeweglich auf den Knien lagen. Sie erinnerten an zwei kauernde Zwillingstiere. Etwas Wachsames, Fremdartiges und Schützendes war um sie.

Er war ihr natürlich vorgestellt worden, doch sie hatte den Namen nicht verstanden. Leise erkundigte sie sich bei der Hausfrau, wer der Mann sei. Diese klärte sie auf. »Haben Sie nie von ihm gehört?« fragte sie verwundert. Bettina mußte ihre Unwissenheit bekennen. Da vernahm sie die Stimme des Mannes. Er machte eine ruhige Bemerkung zu seinem Nachbarn. Ach so, war Bettinas naiver und befriedigter Gedanke, wenn einer eine solche Stimme hat...

Es gelang ihr aber im Lauf des Abends nicht, mehr als ein paar gleichgütige Worte mit Kerkhoven zu wechseln. Er war von einer höflichen, anscheinend schwer besiegbaren Wortkargheit.


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