Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Die Versetzung auf die tropische Insel bewirkte ziemlich genau das, was Kerkhoven erwartet hatte, einen seelischen Stoff- oder Substanzwechsel, der anfangs wie Selbstverlust wirkte, indem er die Erinnerungen an das frühere Leben fast gänzlich verwischte. Die Frage blieb natürlich offen, ob ein Mann, der an der Schwelle der Fünfzig steht, so vergessen darf, wenn er nicht seine moralischen und geistigen Verantwortungen aufheben will, und welchen Mächten er sich an deren Stelle unterwirft.

Er hatte nichts vom Meer gewußt. Während der Fahrt trat zuweilen eine sonderbare Illusionsverschiebung ein; er wähnte sich im vertikalen Sinn fortbewegt; das senkrecht strömende Licht hob in seiner verwirrenden Fülle die Entfernungen in der Horizontale auf. Auch von der Sonne hatte er nichts gewußt. Sie war ein neues Element. Sie glühte gestocktes Blut und gestockte Gefühle aus. Für die Dauer von Stunden lebte man ohne Schwere.

Andere Menschengesichter, Wolkengesichter, Blumengesichter. Die Natur gigantisch und maßlos, die Vegetation wie unter dem Einfluß keimtreibender Gifte wuchernd, die Wetter urweltliche Entladungen, Klima und Atmosphäre gefährlich aufrüttelnd in den Höhen, tödlich erschlaffend in den Niederungen. Achtunddreißig Vulkane, wie unheimliche Schmiedewerkstätten, rasselten im Bauch der Erde.

Überwältigender noch die Farben. Das Auge des nordischen Menschen, wohltätige Mattheit und schwimmende Übergänge gewöhnt, erfuhr schmerzhafte Blendungen durch die Intensität jedes Farbenfeldes und die Schärfe seiner Grenzen. Alle Dinge flammten, belebte und unbelebte, mit rotierendem Leuchtkern und aus violetter Schwärze herausgeschnittener Kontur. Das Rot, Grün, Blau, Gelb von Blumen, Stoffen, Lufterscheinungen, Insekten war die Eruption aus einem verborgenen Farbenkrater und schlug in die Netzhaut hinein wie ein Hieb.

So sehr dies einerseits Steigerung des Lebens und der Sinneseindrücke war, so verwandt war es andererseits dem Tod. Er mußte sich gestehen, daß er das Todeserlebnis noch nie mit solcher Heftigkeit erfahren hatte wie in dieser Zeit der hohen Nervenspannungen. Er hatte den Tod nur beobachtet, nur festgestellt, nur bekämpft, nie als im eigenen Körper ansässige Macht empfunden. Insofern war er wahrscheinlich als Arzt unzulänglich. Der europäische Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts ist in sein Ich hineinerstarrt wie die Spinne in den Bernstein. Es bedarf eines Schmelzprozesses, um ihn herauszulösen. Er begriff etwas Neues: den Tod im Intervall; Sterben in fortgesetzten kleinsten Zeiträumen bis der Leib seinen Endtod aus sich selbst erzeugt hat. Das bedeutete, daß Krankheit und Krankwerden wie auch Verbrechen und Wahn auf unreifem Tod beruhen.


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