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Es war halb zehn, als er in Seeblick eintraf. Beim Durchqueren des Gartens begegnete er Alexander und Bettina. Sie waren in hastigem Gespräch, anscheinend keinem erfreulichen, denn Alexander sah versorgt und zerquält aus. Kerkhoven blieb stehen. Bettina erzählte ihm in raschen Worten, der kleine Helmut habe sie am Abend durch einen Tränenausbruch erschreckt, bei dem heiteren und stets gut aufgelegten Kind etwas Seltenes. Lange hatte sie vergeblich in ihn gedrängt, ihr zu sagen, was ihn so schmerze, endlich war es herausgekommen; er sehnte sich nach Ebenweiler; er sehnte sich nach seinem »Hausli«; er konnte sich hier nicht zurechtfinden; er vermißte »seine« Stube, »seinen« Balkon, »seinen« Garten, »seinen« See. Bettina hatte schließlich zum äußersten Mittel gegriffen, um ihn zu beruhigen, einem nie versagenden: sie hatte die Geige geholt, um ihm vorzuspielen. Da hatte er sich wieder zufrieden gegeben. »Aber spiel was Taktvolles, Mutter,« hatte er sie gebeten; darunter verstand er einen ihm zugänglichen Rhythmus. »Was sagen Sie dazu? was raten Sie mir?« schloß Bettina ihren bewegten Bericht. – »Darin ist er wohl sehr Alexander Herzogs Sohn,« erwiderte Kerkhoven lächelnd, »wir wollen es ein wenig überdenken;« und sich an Alexander wendend, setzte er hinzu: »Kommen Sie doch noch eine Stunde zu mir hinauf. Wir könnten über dies und anderes ein bißchen plaudern.«
Oben war es drückend schwül. Kerkhoven öffnete die hochangebrachten Lüftungsklappen, dann holte er aus einer Mauernische eine Schale mit Birnen und lud seinen Gast ein, mitzuhalten. Dieser dankte ablehnend. Während er eine Birne schälte, sagte Kerkhoven: »Ich habe Ihnen heute Konkurrenz gemacht. Ganna ist mir erschienen. Tatsächlich erschienen. Ich könnte sie Ihnen Zug für Zug beschreiben. Es war höchst merkwürdig.« Er schilderte so trocken wie möglich die imaginäre Begegnung. Alexander Herzog sah ihn zweifelnd und erstaunt an. »Und...?« fragte er nur. – Kerkhoven lachte still. »Ja... und!... Was wollen Sie denn noch wissen?« – »Sie haben sich in diesem Punkt bis jetzt in vorsichtiges Schweigen gehüllt,« antwortete Alexander; »soll ich diese... diese Erscheinung ernst nehmen?« – »Das sollen Sie allerdings.« – »Was für Folgerungen ziehen Sie daraus?« – »Daß Sie einem Blendwerk erlegen sind.« – »Ich? Sie sagten doch eben...« – »Na ja, Sie haben mich angesteckt. In diesem Fall sind Sie der Meister gewesen. Sie haben es fertig gebracht, mich vollständig mit Ganna und der Ganna-Atmosphäre zu durchtränken. Es wird geradezu eine Gefahr für mich.« – »Das beweist nur, daß sie glaubhaft ist, diese Ganna, daß sie wahr ist.« – »Lieber Himmel, sie ist so wahr, daß man inbrünstig wünscht, sie möchte nicht existieren. Entsetzlich wahr. Verrucht wahr.« – »Wie hab ich das aufzufassen?« fragte Alexander Herzog erbleichend. – »Daß Sie, wenn ich mir eine Meinung erlauben darf, über das Zulässige hinausgegangen sind.« – »Inwiefern?« – »Die Wahrheit hängt wie ein abgeschnittener Kopf im Raum.« – »Keine Ahnung, was Sie damit meinen.«
Kerkhoven rückte tiefer in den Halbschatten als wolle er von seinem Gegenüber nicht gesehen werden. Er legte den rechten Fuß auf das linke Knie und umspannte mit der Hand den Knöchel. »Ich meine es wörtlich. Es gibt eine Wahrheit, die das Leben köpft. Sie verzerrt alle Verhältnisse, sie fälscht alle Eindrücke. Auch der Traum ist, absolut genommen, wahr, und hat doch keine Wirklichkeit.« – »Demnach sprechen Sie Ganna die Wirklichkeit ab?« -– »Das nicht. Sie hat nur nicht die Wirklichkeit, die Sie ihr gegeben haben.« – »Welche denn?« – Kerkhoven lachte leise vor sich hin. »Sie verhören mich wie ein Untersuchungsrichter. Tja... es ist da etwas Diabolisches geschehen. Sie haben alle Mittel Ihrer Kunst, Ihre ganze Überredungskraft und Gemütsmacht aufgeboten, um eine unendliche Fülle realer Tatbestände derart zusammenzuschweißen, daß der täuschende Schein eines Organismus entsteht. Man bemerkt keine Nähte mehr, man findet keine Kuppelungen mehr, und trotzdem hat man keine Fleisch- und Blutswirklichkeit vor sich, sondern eine Phantasmagorie. Woher kommt das?« – »Das weiß ich nicht,« sagte Alexander Herzog bestürzt; »wenn es so ist, dann... ich weiß es nicht.« – »Verstehen Sie mich recht,« fuhr Kerkhoven fort, gerührt von dem Ausdruck der Niedergeschlagenheit, der sich in Alexanders Mienen malte, »ich habe nichts gegen das Gebilde als solches einzuwenden, das mich ja überzeugt, wie es jeden überzeugen muß. Meine Abwehr beginnt dort, wo Ihnen die eigene Kreatur über den Kopf wächst und Sie sich als Mensch aufgeben. Da geh ich nicht mehr mit. An dem Punkt überschreiten Sie Ihre Vollmacht. Nicht die von mir erteilte meine ich, so unbescheiden bin ich nicht, eine andere Vollmacht, eine höhere. Was war denn der Sinn des großen Bekenntnisses? Reinigung. Entlastung...« – »Die aber nur möglich waren, wenn mir der lebendige Mensch gelang,« warf Alexander erregt ein, »Worte entlasten nicht, der Zeuge entlastet. Darin waren wir doch einig.« – »Gewiß, gewiß. Aber ich hatte mir etwas vorgestellt wie die Scheidung der Wasser, nach dem Bibelwort; das Feste kommt herauf, das Chaos zerteilt sich. Den Sieg über das Formlose hab ich mir vorgestellt, doch klar, nicht? Statt dessen haben Sie sich unterkriegen lassen, das Chaos über sich Herr werden lassen, und nicht allein das, wenns nur das wäre, berauscht haben Sie sich daran, Wollust haben Sie daraus getrunken. Das ist mein Vorwurf. Daß Sie das Maß verloren haben. Die Freiheit. Daß Sie die Finsterkeit nicht mehr heraustun können aus Ihrer Seele und Ihrem Bewußtsein. Sie muß aber heraus. Sie muß heraus, sage ich Ihnen. Sie halten es für unmöglich. Ich werde Ihnen beweisen, daß das schauerlich Überlebensgroße, das hexenhaft Abstruse nur in Ihrer Einbildung vorhanden ist, daß es keine Wirklichkeit besitzt, daß es nichts weiter ist als Wahn, Alexander Herzogs ureigenster, geliebter Wahn.«
Kerkhoven hatte sich erhoben und war aus dem Schatten hervorgetreten. Wie ein gewaltiger Riese stand er vor Alexander Herzog. In diesem Augenblick kamen die beiden Frauen herein, Marie und Bettina, und setzten sich still in eine Ecke.