Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Es war nicht anders, es nützte nichts, dagegen anzukämpfen; ein innerer Widerstand gegen die Tochter blieb in Marie. Bei aller Liebe, allem Wissen, allem Verständnis. Und wie es manchmal geht, war es ein anscheinend harmloser Umstand, durch den es ihr bewußt geworden war: Aleid frönte dem Laster des Nägelbeißens. Dies reizte Marie bis zum Zorn, bis zur Wut, und sie wurde dann ungerecht in allem, was Aleid betraf.

Wohl sah sie, daß die eisige Frechheit der Auflehnung in dem jungen Geschöpf nur die Maske eines endgiltigen Nihilismus war. Worte trafen da nicht hin. Es hätten niegesagte Worte sein müssen, und wer ist deren mächtig? Mitgefühl stieß auf Hohn, Glaube an eine höhere Ordnung der Dinge auf Gelächter. Alle Leidenschaft erschöpfte sich in der Ratio, im Greifbaren, im Verfechtbaren, das Schicksal wohnte nicht mehr über den Sternen, es war der Ausdruck für den feindseligen Zusammenprall sozialer Übel und menschlicher Niedertracht. Und sobald die Wurzel allen Leids solcherart bloßgelegt werden konnte, gab es nur noch die Wahl zwischen dem Schwächeeingeständnis und der Entschlossenheit, die seiende Welt zu vernichten, um eine andere aufzubauen.

Marie spürte es in jedem Nerv; diese Jugend war geistigen Qualen ausgesetzt, von deren Umfang und Schwere frühere Generationen nichts geahnt hatten. Ihre Ungewißheiten reichten tiefer und wirkten sich verheerender aus als die religiösen Zweifel jener Jahrhunderte, in welchen Gott noch eine persönliche Gestalt besaß. Sie hatten keine Weiser, keine Lehrer, keine Herren, keine Fürsten mehr, nur noch Verwirrer und Vergewaltiger. Sie liebten nicht mehr das Leben, sie liebten den Tod; ein Überdruß war ihnen das Leben. Sie beteten die Macht an und verachteten den Menschen. Kein Wunder, denn was für ein Erbe hatten sie angetreten? Verzweiflung, Schrecken und Not, das Werk der Väter und Mütter, die so stolz darauf waren, sich Menschen zu heißen.

Das alles sagte sich Marie immer wieder vor, wenn sie über Aleid nachdachte. Doch der seltsame Widerstand, der fast einer Abneigung gleichkam, blieb und führte zu Konflikten.


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