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Worin Rutilio seine Lebensgeschichte erzählt.
» Mein Name ist Rutilio, und ich bin in Siena, einer der ersten Städte Italiens, geboren. Ich war Tanzmeister, zeichnete mich in dieser Kunst sehr aus und hätte ein glückliches Schicksal haben können.
In Siena lebte ein reicher Cavalier, dem der Himmel eine Tochter geschenkt, die mehr schön als verständig war. Der Vater hatte die Absicht, sie mit einem florentinischen Ritter zu vermählen. Damit diese Braut mit aller Liebenswürdigkeit geschmückt würde, obwol es ihr an Geist mangelte, wollte der Vater, daß sie von mir das Tanzen lernen sollte; denn die Zierlichkeit, Kraft und Schönheit des Körpers entwickelt sich in keiner Gelegenheit so reizend, als bei einem anständigen Tanze, und es ist geziemend für vornehme Damen, diese Kunst zu verstehen und sich, wenn die Umstände es fordern, darin zu zeigen.
Ich fing damit an, ihr die Bewegungen des Körpers zu lehren, aber zugleich ward ihr Gemüth aufgeregt; denn da sie nicht verständig war, wie ich schon sagte, ergab sich ihr Herz dem meinigen, und das Schicksal, was schon seit lange meinen Weg auf die Bahn des Unglücks leitete, wollte es, daß ich sie, damit wir ungestört unserer Liebe genießen könnten, aus dem Hause ihres Vaters entführte, und mit ihr nach Rom ging; aber da die Liebe ihre Freuden nicht wohlfeil verkauft und dem Verbrechen die Strafe auf dem Fuße folgt, so wurden wir Beide schon auf dem Wege ergriffen, da ihr Vater sehr eilig gewesen war, uns aufzusuchen. Ihre Aussage, sie begleite ihren Gemahl, und die meinige, ich führe meine Frau hinweg, rechtfertigte uns so wenig, daß der Richter vielmehr, von meinem Verbrechen überzeugt, sich bewogen und verpflichtet fühlte, mich zum Tode zu verdammen.
Sie trennten uns, und im Gefängniß wurde ich zu Denen gebracht, welche wegen noch ehrloserer Verbrechen zur Todesstrafe verurtheilt waren. Im Kerker besuchte mich eine Frau, welche, wie sie sagten, wegen Hexerei gefangen saß. Die Gemahlin des Alcalden, der die Oberaufsicht beim Gefängniß führte, hatte dieser die Ketten abnehmen und sie in ihre Wohnung bringen lassen, damit sie durch ihre Tränke und Zaubersprüche ihre Tochter von einer Krankheit heile, an der die Aerzte ihre Kunst vergeblich versucht hatten.
Kurz, um meine Geschichte nicht in die Länge zu ziehen, denn keine Erzählung, sei sie auch noch so gut, kann gut bleiben, wenn sie allzulang wird: Ich war in Ketten, das Messer mir an der Kehle, und zum Tode verurtheilt ohne irgend eine Hoffnung und Möglichkeit der Rettung, und so gab ich der Hexe mein Jawort, welche verlangte, ich solle sie heirathen, wenn sie mich aus dieser Bedrängniß befreite. Sie sagte mir, ich möge unbekümmert sein, denn die nächstfolgende Nacht werde sie meine Fesseln und Fußblöcke zerbrechen, und mich, trotz aller Hindernisse, in Freiheit setzen und an einen Ort bringen, wo meine Feinde, ob auch noch so zahlreich und mächtig, mir nichts anhaben könnten.
Mir schien sie keine Zauberin, sondern ein Engel, den der Himmel zu meiner Rettung gesendet hatte. Ich erwartete den Abend, und in der Stille der Mitternacht kam sie und sagte mir, ich möge die Spitze eines Rohres, das sie mir in die Hand gab, ergreifen und ihr folgen.
Ich wußte erst nicht, was ich thun sollte; aber die Noth war groß, und so erhob ich die Füße, um ihr nachzugehen. Ich fühlte mich von den Ketten und Fußeisen befreit, alle Thüren des Gefängnisses standen weit offen, und die Gefangnen und Wächter lagen im tiefsten Schlaf begraben.
Als wir auf die Gasse kamen, breitete meine Führerin einen Mantel auf dem Boden aus, und indem sie mir befahl, mich darauf zu stellen, sagte sie, ich möge gutes Muthes sein und meine Gebete für diesmal unterlassen. Dies schien mir ein böses Zeichen, und ich merkte jetzt, daß sie mich durch die Luft entführen wollte; obwol ich nun auch als gut unterrichteter Christ alle diese Zaubereien für Possen hielt, wofür man sie auch halten muß, so raubte mir doch die Furcht vor dem Tode alle Besinnung. Kurz und gut, ich stellte mich ohne Weiteres auf die Mitte des Mantels. Sie murmelte einige unverständliche Worte, der Mantel fing an, sich in die Luft zu erheben, und meine Angst war so heftig, daß ich im Stillen jeden Heiligen anrief, der mir nur einfiel.
Sie mußte wol meine Furcht bemerken und mein Beten muthmaßen, denn sie befahl mir von Neuem, dies zu unterlassen. Wehe mir Unglücklichem! dachte ich, was kann ich noch Gutes hoffen, da mir verboten wird, Gott darum anzurufen, von dem doch jedes Gute kommt? Ich schloß nun die Augen und ließ mich von den Teufeln fortführen, denn sie und keine andern sind die Postpferde der Zauberer. Nachdem wir, wie mich dünkt, ungefähr vier Stunden geflogen waren, befand ich mich bei der ersten Morgendämmerung in einem ganz fremden Lande.
Der Mantel ließ sich zur Erde nieder und meine Führerin sprach: Du bist nun an einem Orte, Freund Rutilio, wo kein Mensch auf der Welt Dir Etwas anhaben kann.
Indem sie dies sagte, fing sie an, mich auf eine, nicht sehr zurückhaltende Art zu umarmen. Ich stieß sie mit meinen Armen von mir und soviel ich jetzt sehen konnte, hatte Diejenige, welche mich umarmte, die Gestalt eines Wolfes. Bei diesem Anblick erstarrte mir das Blut, meine Sinne verwirrten sich und mein starker Muth fiel gänzlich zu Boden; aber wie es zu geschehen pflegt, daß in einer großen Gefahr die Furcht Kräfte der Verzweiflung entwickelt, so ging es auch mir: ich griff in der Verwirrung nach einem Messer, das ich zufällig im Gürtel trug, und stieß es voll Wuth und Grimm Der in die Brust, die ich für eine Wölfin hielt und von der nun, indem sie zu Boden fiel, jene scheußliche Gestalt wich; die unglückliche Zauberin lag todt und in Blut gebadet zu meinen Füßen.
Bedenkt nun, meine Freunde, in welcher Lage ich mich befand; in einem unbekannten Lande und ohne menschlichen Beistand. Ich wartete mehrere Stunden auf den Tag, aber er kam nicht, und keine Spur der aufgehenden Sonne war am Horizont zu entdecken. Ich entfernte mich von dem Leichnam, denn seine Nähe erregte mir Schauder und Grauen; ich wendete oft die Augen nach dem Himmel, um den Gang der Sterne zu beobachten, und nach ihrem Stand schien mir, es müsse schon Tag sein.
Indem ich noch meine Betrachtungen darüber anstellte, däuchte es mir, als hörte ich sprechen und Menschen dem Orte näher kommen, wo ich war; ich hatte mich auch nicht getäuscht. Ich ging ihnen entgegen und bat sie in meiner toscanischen Sprache, sie möchten mir sagen, welch ein Land dieses sei, und einer von ihnen antwortete mir gleichfalls auf italienisch:
›Dies Land ist Norwegen; aber wer bist Du, der dies fragt, und in einer Sprache, die in dieser Gegend nur so Wenige verstehen?‹
›Ich bin,‹ erwiederte ich, ›ein Unglückseliger, der, um dem Tode zu entfliehen, ihm in die Arme lief.‹ Und darauf erzählte ich ihnen mit wenig Worten von meiner Reise und auch von dein Tode der Zauberin.
Der, welcher mich angeredet hatte, schien mich zu bemitleiden und sprach: ›Du kannst dem Himmel nicht genug danken, guter Freund, daß er Dich aus der Gewalt dieser bösartigen Zauberin befreit hat, von denen es in diesen nördlichen Ländern eine große Menge giebt. Man sagt von ihnen, daß sie sich in Wölfe verwandeln, sowol die Männer als die Weiber; denn von beiden Geschlechtern sind viele Zauberer und bösartige Hexen.‹
Wie dies möglich sein kann, begreife ich nicht, und als katholischer Christ glaube ich nicht daran; aber die Erfahrung lehrte mir das Gegentheil. Die einzige Art, wie ich es mir erklären kann, ist folgende: daß alle diese Verwandlungen eine Täuschung des bösen Geistes sind, welche Gott zur Strafe solcher fluchwürdigen Menschen zuläßt.
Ich fragte den Mann, welche Stunde es wol sein möge; denn es schien mir, die Nacht sei sehr lang und der Tag wolle gar nicht anbrechen.
Er antwortete, in diesen entfernten Gegenden theile sich das Jahr in vier Abtheilungen, drei Monate sei völlige Nacht und die Sonne lasse sich gar nicht auf der Erde blicken, dann folgen drei Monate der Dämmerung, wo es weder ganz dunkel noch ganz hell sei, und dann wäre drei Monate fortwährend heller Tag, wo die Sonne gar nicht untergehe, auf diese folgte dann wieder eine dreimonatliche Dämmerung, und die jetzige Jahreszeit sei gerade die Dämmerung vor dem langen Tage. Auf die Sonne zu warten, das sei also für jetzt eine vergebliche Hoffnung, und diese würde es auch sein, wenn ich glaubte, ich könne bald wieder in mein Vaterland zurückkehren; denn dies wäre nur möglich in der Jahreszeit des fortwährenden Tages, weil dann Schiffe aus diesen Ländern mit Kaufmannswaaren nach England, Frankreich und Italien absegelten. Er fragte mich, ob ich irgend Etwas gelernt hätte, womit ich mir meinen Unterhalt verdienen könne bis zu der Jahreszeit, wo es mir möglich sein würde, wieder nach meiner Heimath zurückzukehren.
Ich sagte ihm, ich wäre ein Tänzer, ein großer Künstler in allerlei Sprüngen und zugleich erfahren in der Taschenspielerei.
Der Mensch lachte von Herzen und versicherte, alle diese Gewerbe, oder Künste, oder wie ich es nennen wollte, wären in Norwegen und allen diesen Ländern gar nicht üblich. Er fragte, ob ich wol die Kunst des Goldschmieds lernen mochte?
Ich antwortete, ich wäre geschickt genug, um Alles zu begreifen, was er mich lehren würde.
›So komm denn mit mir, Bruder,‹ sprach er; ›doch es wäre wol gut, daß wir jene Elende erst begrüben.‹
Wir thaten es, und er führte mich dann in eine Stadt, wo die Leute alle mit angezündeten Kienfackeln in den Händen durch die Straßen gingen, um ihre Geschäfte zu besorgen.
Ich fragte ihn unterwegs: ›Wie in aller Welt, oder wann seid denn Ihr in dies Land gekommen, denn Ihr scheint mir doch ein Italiener?‹
Er erzählte mir, sein Großvater habe sich, da er in wichtigen Handelsgeschäften von Italien nach Norwegen reiste, hier verheirathet und hernach allen seinen Kindern seine Sprache gelehrt; diese Sitte habe sich dann in seiner ganzen Familie von Einem auf den Andern fortgepflanzt bis zu ihm. ›Ich bin einer von seinen vier Enkeln,‹ so schloß er seine Erzählung, ›und als hier eingeboren und ansässig, bin ich aus Liebe zu meiner Frau und meinen Kindern ganz unter diesem Volke eingebürgert und denke weder an Italien noch an die Verwandten, die mein Vater dort noch haben soll.‹
Wollte ich jetzt das Haus beschreiben, in welches er mich führte, seine Frau und Kinder und die Diener, deren er viele hatte, seinen großen Reichthum und die freundliche Aufnahme, die ich hier fand, so würde ich mit meiner Geschichte nicht zu Ende kommen. Es ist genug, wenn ich sage, daß ich seine Kunst lernte und in einigen Monaten mir durch meine Arbeit mein Brot erwerben konnte.
Unterdeß näherte sich die Jahreszeit des langen Tages, und mein Herr und Lehrer, denn ich kann ihn wol so nennen, machte Anstalten, eine große Menge seiner Waaren nach einigen nahe gelegenen Inseln und andern weit entfernten zu bringen. Ich begleitete ihn, theils aus Neugierde, wie auch um Einiges, was ich auf eigne Rechnung verfertigt hatte, zu verkaufen.
Auf dieser Reise sah ich Dinge, welche des Staunens und der Bewunderung würdig sind, und andere, die mir Vergnügen machten und über die ich lachen mußte. Ich beobachtete Sitten und lernte nie gesehene und bei keinem andern Volke übliche Gebräuche kennen. Kurz, nach zwei Monaten überfiel uns ein Sturm, der, nachdem er beinahe vierzig Tage gedauert hatte, uns an die Insel schleuderte, die wir heute verlassen haben. Unser Schiff ward an dem Felsen zerschmettert, und ich war der Einzige, der mit dem Leben davon kam.«