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Der spanische Barbar erzählt seinen Gästen seine Lebensgeschichte.
Die Abendmahlzeit wurde schnell herbeigeschafft und währte nur kurze Zeit; aber sie war anmuthig, weil sie ohne Beängstigung genossen wurde. Die Kienfackeln waren indeß erneuert, und obwol sie die Höhle mit Rauch erfüllten, verbreiteten sie doch zugleich eine wohlthätige Wärme. Das Geschirr war weder silbern noch von Thon, die kleinen Hände des Jünglings und des jungen Mädchens waren die Schüsseln, und einige Baumrinden, die etwas feiner waren als Kork, vertraten die Stelle der Becher. Kein süßer Wein schmückte die Tafel; doch statt seiner ein reines, klares und sehr frisches Wasser.
Clelia war eingeschlafen; denn das hohe Alter erfreut sich lieber des Schlummers, als selbst der angenehmsten Unterhaltung. Die Frau des Wilden brachte sie in dem innern Gemach zur Ruhe und bereitete ihr von Fellen sowohl Kissen als Decke; dann setzte sie sich wieder bei den Andern hin, zu welchen der Spanier in castilianischer Sprache also zu reden begann:
»Obwol es billig wäre, meine lieben Gäste, daß ich etwas von euerm Stand und euern Schicksalen wüßte, ehe ich euch die meinigen mittheile, so will ich sie euch dennoch erzählen, um euch gefällig zu sein, und ihr werdet mir gewiß auch die eurigen nicht verhehlen, nachdem ihr die meinigen vernommen.
Ich wurde durch ein günstiges Schicksal in Spanien geboren, in einer der vorzüglichsten Provinzen. Die Eltern, von denen ich entsprossen bin, waren vom mittlern Adelstande. Ich wurde wie ein reicher junger Mann erzogen; ich wurde in die alten Sprachen eingeweiht, welche die Pforte zu allen übrigen Wissenschaften sind. Mein Gestirn, wenn auch nicht den Studien zuwider, zog mich doch mehr zu den Waffen.
Ich war in meinen Jünglingsjahren weder mit der Ceres noch mit dem Bacchus vertraut, und darum blieb ich auch gegen Venus gleichgültig. Von meiner angebornen Neigung hingerissen, verließ ich mein Vaterland und zog in den Krieg, den der große Kaiser Karl der Fünfte damals gegen einige deutsche Fürsten führte. Mars war mir gewogen; ich erwarb den Namen eines tapfern Soldaten, und der Kaiser ehrte mich. Ich hatte Freunde und lernte Freigebigkeit und edle Sitte; denn diese Tugenden werden in der Schule des christlichen Mars gelehrt.
Ich kehrte reich und geehrt in mein Vaterland zurück, mit dem Vorsatz, einige Zeit dort zu bleiben und mich der Gesellschaft meiner Eltern, die noch lebten, und einiger Freunde aus früherer Zeit zu erfreuen. Aber die, welche Fortuna genannt wird, und von der ich nicht weiß wie ich sie nennen soll, beneidete mir meine Ruhe, drehte ihr Rad herum und stürzte mich von dem Gipfel, auf dem ich so sicher zu stehen glaubte, in die Tiefe des Elends, in welchem ich mich jetzt erblicke. Das Werkzeug, dessen sie sich dazu bediente, war ein Cavalier, der zweite Sohn eines Granden, der seine Besitzungen in unsrer Nachbarschaft hatte.
Dieser kam nämlich einst in unsern Ort, um einem Feste beizuwohnen, und da er auf dem Platz in einem Kreise von Rittern und Edeln stand, unter denen ich auch war, sprach er, sich zu mir wendend, mit stolzer, spöttischer Geberde:
›Du bist brav, Sennor Antonio; das Leben in Flandern und Italien hat ihm aufgeholfen; denn er nimmt sich wahrlich gut aus, und ich verhehle es den Menschen nicht, daß ich ihm gewogen bin.‹
Ich antwortete, denn ich bin eben dieser Antonio: ›Ich küsse Euer Excellenz tausend Mal die Hand für die Gnade, welche Ihr mir erzeigt. Excellenz handelt nur wie es Euch geziemt, indem Ihr Eure Landsleute und Diener ehret, aber bei alle dem möge Euer Gnaden wissen, daß ich so reichliche Ausstattung schon mit mir nach Flandern nahm, und edle Gesinnung schon mit auf die Welt brachte. Deshalb verdiene ich weder gelobt noch verhöhnt zu werden, und so gut oder schlimm ich sein mag, bin ich Euer ergebner Diener, und bitte Euer Gnaden, mich so zu ehren, wie ich es verdiene.‹
Ein Edelmann, der neben mir stand und mein sehr guter Freund war, sagte mir, und nicht so leise, daß jener Cavalier es nicht hätte hören können: ›Überlegt Eure Reden, Antonio; denn jenem Herrn geben wir hier zu Lande nicht Excellenz.‹
Worauf der Cavalier, ehe ich noch antworten konnte, erwiederte: ›Antonio, der gute Mensch, drückt sich gut aus; er redet auf italienische Art mit mir, wo sie statt gnädiger Herr, Excellenz sagen.‹
›Ich kenne wohl,‹ sprach ich, ›die Gebräuche und Sitten jeder feinen Lebensart, und da ich Euer Excellenz Excellenz nannte, that ich es nicht auf italienische Weise; denn ich setzte voraus, daß Einem, der mich nach spanischer Weise Du nennt, doch wol dieser Titel nach spanischer Weise gebühren müsse; und ich, der ich der Sohn meiner Werke und von adeligen Eltern geboren bin, kann es fordern, von jeder Excellenz »mein Herr« genannt zu werden. Und wer etwas Anderes sagen wollte,‹ und bei diesen Worten legte ich die Hand an den Degen, ›ist weit davon entfernt, wohlerzogen zu sein.‹
Also gesagt und gethan zugleich, gab ich ihm zwei tüchtige Schwertstreiche auf den Kopf, die ihn dergestalt betäubten, daß er nicht wußte wie ihm geschehen war.
Er konnte seine Fassung nicht wiederfinden, ich behauptete indeß meinen Platz, indem ich ruhig, mit dem Degen in der Hand, stehen blieb. Da jenen die Betäubung verlassen hatte, zog er seinen Degen, um mit edler Entschlossenheit seinen Schimpf zu rächen; aber ich gestattete ihm nicht, seine ehrenvolle Absicht ins Werk zu setzen, noch erlaubte es ihm das Blut, welches aus einer der beiden Wunden seinem Kopfe entströmte.
Die Umstehenden waren in Aufruhr und wollten vereint auf mich losgehen. Ich entfloh in das Haus meiner Eltern und erzählte ihnen den Vorfall. Da sie nun die Gefahr, in der ich mich befand, wohl erkannten, versahen sie mich mit Geld und einem tüchtigen Pferde, und riethen mir, auf meine Sicherheit zu denken; denn ich hatte mir durch diese That viele und mächtige Feinde erworben.
Ich folgte ihrem Rathe und erreichte in zwei Tagen die Grenze von Aragonien, wo ich etwas von meiner übergroßen Eile ausruhte. Kurz und gut, ich begab mich mit fast eben so großer Schnelligkeit nach Deutschland, wo ich wieder in die Dienste des Kaisers trat. Dort erhielt ich die Nachricht, daß mein Feind und viele seiner Anhänger mich suchten, um mich aus der Welt zu schaffen, auf welche Art es auch sein möge; und ich fürchtete mich vor dieser Gefahr, wie ich wol Grund dazu hatte.
Ich kehrte nach Spanien zurück, denn es gibt keinen bessern Zufluchtsort, als den, welchen das Haus des Feindes darbeut. Ich sah in der Nacht meine Eltern, die mich wieder mit Geld und Juwelen versorgten, womit ich nach Lissabon ging und mich auf ein Schiff begab, das für England segelfertig lag, und worin ich einige Engländer traf, die, von Wißbegierde angetrieben, nach Spanien gekommen waren und nun, da sie das ganze Land oder doch die bedeutendsten Städte gesehen hatten, in ihr Vaterland zurückkehrten.
Nachdem wir unter Segel gegangen waren, trug es sich zu, daß ich wegen einer unbedeutenden Sache mit einem englischen Matrosen in Streit gerieth und mich genöthigt sah, ihm eine Ohrfeige zu geben. Dieser Schlag erweckte den Zorn der übrigen Matrosen und der ganzen Mannschaft, welche nun anfingen, mit allen Waffen und Geräthen, die ihnen in die Hände kamen, nach mir zu werfen, Ich zog mich auf das Hintertheil des Schiffes zurück und rief einen englischen Ritter zu meiner Vertheidigung auf, den ich vor mich stellte und dessen Schutz mir soviel nutzte, daß ich nicht sogleich das Leben verlor. Die übrigen Ritter beruhigten den Haufen, dieser gab aber nur unter der Bedingung nach, daß ich ins Meer geworfen würde oder daß sie mir die Schaluppe oder das Boot des Schiffes gäben, worin ich nach Spanien zurückkehren könne, oder wohin der Himmel mich führen wollte.
So geschah es, sie gaben mir die Barke, versorgten mich mit zwei Steinkrügen voll Wasser und einem mit gedörrtem Fleisch, wie mit einem Vorrath Schiffszwieback. Ich dankte meinen Beschützern für diesen Dienst und setzte mich, mit zwei Rudern versehen, in meine Barke; das Schiff entfernte sich nach und nach, die dunkle Nacht stieg herauf, und ich war ganz allein inmitten der unendlichen Gewässer, ohne einen andern Weg erwählen zu können, als den, auf welchen Wind und Fluth mich trieben.
Ich erhob die Augen zum Himmel und empfahl mich Gott mit so großer Andacht, als mir nur möglich war. Ich blickte nach dem Nordstern, denn nur dadurch konnte ich erkennen, in welcher Richtung ich fortgetrieben ward; aber ich wußte nicht, in welcher Gegend ich mich befand.
Sechs Tage und sechs Nächte schwamm ich auf diese Weise, mehr der Barmherzigkeit des Himmels, als der Stärke meiner Arme vertrauend, die nun ermüdeten, und von der beständigen Arbeit gänzlich der Kräfte beraubt, die Ruder nicht mehr halten konnten; ich zog sie aus den Pflöcken und legte sie in das Schiff, um sie wieder zu gebrauchen, wenn die See es zuließ und meine Kräfte zurückkehrten.
Ich legte mich ganz ausgestreckt auf den Rücken in das Schiff hin, und schloß die Augen, und es war kein Heiliger im Himmel, den ich nicht in dem Innersten meines Herzens um seinen Beistand anrief. Und mitten in dieser Bedrängniß, mitten in dieser Noth, kaum ist es zu glauben, überfiel mich ein so tiefer Schlaf, daß jede Empfindung meinen Sinnen entschwand und ich in Betäubung versank. So groß ist die Macht, mit der die Natur ihre Rechte fordert; aber im Traum stellte mir meine Einbildungskraft den Tod unter tausend fürchterlichen Bildern vor, alle im Wasser. In einigen war es mir, als wenn Wölfe mich verzehrten oder wilde Thiere mich zerbissen; so daß wachend oder schlafend mein Leben nur einem verlängerten Tode glich.
Aus diesem nicht sanften Schlummer wurde ich fürchterlich erweckt durch eine ungeheure Meereswelle, die über meine Barke wegging und sie ganz mit Wasser füllte. Ich erkannte sogleich die Gefahr, gab, so gut ich konnte, das Wasser dem Wasser zurück, und fing wieder an, die Ruder zu gebrauchen, welche mir aber gar nichts nutzen konnten; denn ich sah, wie das Meer sich erhob, vom Südwind geängstigt und gepeitscht, der in jenen Regionen mehr als auf andern Meeren seine Macht auszuüben scheint. Ich erkannte, daß es thöricht sein würde, mein schlechtes Fahrzeug seiner Wuth entgegenzusetzen und mit meinen erschöpften und schwachen Kräften seiner Macht zu trotzen; so zog ich denn die Ruder wieder zurück und ließ das Schiff treiben, wohin Wind und Wellen wollten.
Ich erneuerte meine Gebete, denen ich Gelübde zufügte, und vermehrte das Wasser des Meeres mit dem, was meine Augen vergossen; alles dies nicht aus Furcht vor dem Tode, der mir so nahe war, sondern aus Furcht vor der Strafe, die meine bösen Thaten verdienten.
Endlich, ich weiß nicht, wie, viel Tage und Nächte verflossen sein mochten, in denen ich auf dem Meere umhergeschleudert ward, kam ich an eine Insel, unbewohnt von Menschen, aber voll von Wölfen, die in großen Heerden dort herumliefen. Ich begab mich unter den Schutz eines Felsen, der vom Ufer herüberragte, und wollte aus Furcht vor den wilden Thieren, die ich gesehen hatte, das Land nicht betreten. Ich aß von dem durchnäßten Zwieback, denn Hunger und Noth scheuen nichts. Die Nacht kam und war weniger dunkel als die vorhergehende, und die See schien sich zu beruhigen. Ich schaute nach dem Himmel, und das Licht der Sterne schien ein ruhiges Meer und stille Luft zu versprechen.
Als ich so um mich blickte, schien es mir in der zweifelhaften Dämmerung, als wenn der Fels, der mir zur Schutzwehr diente, auf seinem Gipfel von allen den Wölfen wimmelte, die ich am Ufer gesehen hatte, und als wenn einer von ihnen (und so war es auch wirklich) mit lauter, deutlicher Stimme und in spanischer Sprache also zu mir redete:
›Spanier, mach' daß Du fortkommst, und suche wo anders Dein Glück, wenn Du hier nicht sterben willst, in Stücke gerissen von unsern Klauen und Zähnen. Frage nicht, wer Dir dies sagt; sondern danke dem Himmel dafür, daß Du Mitleid, selbst unter wilden Thieren gefunden hast.‹
Ob ich hierüber erstaunte oder nicht, das überlasse ich euch zu beurtheilen; aber meine Verwirrung war nicht so groß, daß ich mich nicht schnell genug gefaßt hätte, um diesem Rathe zu folgen. Ich band die Ruderpflöcke, befestigte die Ruder, strengte meine Arme an und gelangte wieder ins offne Meer hinaus. Aber da es häufig geschieht, daß Unglück und Kummer das Gedächtniß des Leidenden schwächen, so weiß ich auch nicht zu sagen, wie viele Tage ich noch auf dem Meere umhergetrieben ward, in jedem Augenblick nicht einen, sondern tausendfachen Tod leidend, bis meine Barke, von dem Arm eines fürchterlichen Sturmes ergriffen, an diese Insel geschleudert ward, an derselben Stelle, wo der Eingang in diese Höhle ist, durch welchen ihr hereingekommen seid.
Das Boot ward im Innern der Höhle fast auf trocknes Land geworfen, aber die Brandung kam zurück und nahm es wieder mit sich; da ich dies sah, sprang ich hinaus und klammerte mich mit den Nägeln in den Sand, damit mich die Wogen nicht von Neuem fortreißen möchten; obwol das Meer mir nun mit der Bark auf immer die Hoffnung zu entfliehen raubte, so freute ich mich doch der veränderten Todesart, und daß ich auf dem Lande war; denn so lange das Leben währt, stirbt auch die Hoffnung nicht.«
Bis hieher kam der spanische Barbar, denn diesen Namen gab ihm seine Tracht, in seiner Erzählung, als aus dem innern Gemach, wo die alte Clelia war, schmerzliche Seufzer und Klagelaute ertönten. Sogleich liefen Auristela, Periander und alle übrigen mit Licht hinzu, um zu sehen, was es sei, und sie fanden Clelia, den Rücken an den Fels gelehnt, auf den Fellen sitzend und mit fast gebrochenen Augen zum Himmel emporschauen.
Auristela ging zu ihr und sprach mit betrübter, klagender Stimme: »Was ist das, meine geliebte Pflegerin? Ist es möglich, daß Du mich in dieser Einsamkeit verlassen willst, und zu einer Zeit, wo ich Deines guten Rathes am meisten bedarf?«
Clelia kam etwas wieder zu sich und sprach, indem sie Auristela bei der Hand faßte: »Sieh, Herzenskind, wie es mir ergeht! Ich wünschte, mein Leben hätte sich erhalten, bis das Deinige sich des verdienten Friedens erfreute; aber da der Himmel es nicht erlaubt, so füge ich mich seinem Willen, und gebe ihm freudig meinen Geist hin. Nur um Eins bitte ich Dich, meine Gebieterin: wenn das gute Glück es so fügen will, (und gebe es der Himmel!) daß Du wieder in Deine Rechte eingesetzt wirst, und meine Eltern leben alsdann noch, oder Jemand aus meiner Verwandtschaft, daß Du ihnen sagst, wie ich als Christin gestorben bin, in dem Glauben Jesu Christi, welcher derselbe ist, den die heilige römisch-katholische Kirche bekennt; und damit genug, denn mir fehlt der Athem.«
Nachdem sie dies gesagt hatte und oft den Namen Jesu ausgesprochen, drückte ihre Augen des Todes Dunkel zu, und bei diesem Anblick verschlossen sich die der Auristela in einer tiefen Ohnmacht. Periander und alle Umstehenden vergossen häufige Thränen, und Periander eilte hinzu, um Auristela beizustehen. Sie kam wieder zu sich, weinte heftig und sprach unter tiefen Seufzern so rührende Worte, die auch die Felsen zum Mitleid bewegen mußten.
Es wurde beschlossen, Clelia am folgenden Tage zu begraben, und der junge Wilde wachte mit seiner Schwester bei der Leiche, während die übrigen sich zur Ruhe legten, für die kurze Zeit, welche die Nacht noch dauerte.