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Eine neue Maschine und ein verspielter Junge – Eine wichtige Verbesserung – Der tiefe Sinn im kindlichen Spiel – Wie der Luftreifen erfunden wurde – Ein jugendliches Genie
Es war um das Jahr 1712 herum, da war in England zwei wackeren Handwerkern, dem Schmiede- und Schlossermeister Thomas Newcomen und dem Glaser John Cawley, beide aus dem Orte Darmouth in der Grafschaft Devonshire, die Herstellung einer neuartigen Maschine gelungen, die zu den merkwürdigsten Dingen gehörte, die es für jene Zeit überhaupt gab, nämlich einer Dampfmaschine. Was vielen Gelehrten und Ingenieuren nicht gelungen war, die Kraft des gespannten Dampfes für die Zwecke der menschlichen Arbeit vermittels geeigneter maschineller Vorrichtungen nutzbar zu machen, das hatten tatsächlich jene beiden einfachen Handwerker zustandegebracht.
Die von ihnen gebaute Maschine war die erste brauchbare Dampfmaschine und gelangte in dem Kohlenbergwerk des Grubenbesitzers Back in Wolverhampton zur Aufstellung, wo sie zum Auspumpen von Grubenwasser verwandt wurde. Freilich war die Newcomensche Dampfmaschine noch ein ziemlich roher und ungefüger Geselle und von der Vollendung, die ihr späterhin der große James Watt gegeben hat, noch recht weit entfernt. Sie stellte eine sogenannte atmosphärische Dampfmaschine dar, bei der Dampfdruck und Luftdruck gemeinsam wirkten, und war noch vieler Verbesserungen bedürftig.
Eine solche Verbesserung der Maschine nun kam auf sehr merkwürdige Weise zustande. An der Maschine befanden sich unter anderem auch zwei Hähne, durch die der Zustrom des Dampfes und des Kühlwassers nach dem Zylinder reguliert wurde, zu welchem Zweck die Hähne abwechselnd geöffnet und geschlossen werden mußten. Diese Funktionen automatisch auszuführen, so weit war die Dampfmaschine jener beiden Meister doch noch nicht vorgeschritten; das Öffnen und Schließen mußte vielmehr von einem Arbeiter mit der Hand ausgeführt werden, was eine zwar einfache, aber auch sehr langweilige und ermüdende Tätigkeit war.
Mit dieser Arbeit hatte Newcomen einen Knaben beauftragt, Humphry Potter hieß er, denn jene einfache Funktion bedurfte weder der Kraft noch der Intelligenz eines Erwachsenen. Der kleine Potter waltete für wenig Geld auch getreulich seines Amtes. Doch lieber freilich hätte er sich den Spielen seiner Altersgenossen gewidmet, die ihm viel interessanter dünkten als das ewige monotone Öffnen und Schließen der beiden vertrackten Hähne. Was also tun? Auf den Verdienst konnte er nicht verzichten, aber gespielt hätte er auch gern. Ja, wenn sich die beiden Hähne von selbst öffnen und schließen könnten, ebenso wie sich doch die Hebel und Stangen, Räder und Kolben der großen Maschine von selbst bewegten, dann, ja dann freilich …!
Dieser Gedanke durchzuckte das Gehirn des Jungen wie ein Blitz. Warum sollte er die Hähne nicht veranlassen können, sich ebenso automatisch zu bewegen wie alles andere, was an der Maschine geschah? Gedacht, getan. Durch Schnüre verband er die beiden Hähne derart mit dem auf- und abgehenden Balancier der Maschine, daß dieser die Schnüre abwechselnd nach oben und nach unten zog und dadurch die mit den Schnüren verbundenen Hähne abwechselnd öffnete und schloß. Hurra! der Versuch gelang über alles Erwarten gut, die Hähne und mit ihnen die gesamte Maschine funktionierten vermittels der Schnurvorrichtung ganz von selbst und ebensogut, ja sogar noch besser, weil regelmäßiger und exakter, als es durch ihre Betätigung mit der Hand geschehen war, und Humphry konnte sich, ohne seine Aufgabe zu vernachlässigen und ohne Einbuße an Verdienst befürchten zu müssen, mit seinen Spielkameraden vergnügen.
Freilich wurde die Untat bald entdeckt, und der Meister mag den verspielten Jungen, der einfach von der Arbeit fortlief, zunächst hart angelassen haben. Höchlichst erstaunt aber war er, als er konstatierte, daß Hähne und Maschine auch ohnedies zur vollen Zufriedenheit arbeiteten, und als er die Ursache dieser merkwürdigen Erscheinung und damit die von dem jungen Potter erfundene Vorrichtung wahrnahm, da ging auch ihm ein Licht auf. Es war ihm sofort klar, daß die von dem verspielten Jungen ausgeheckte Hilfsvorrichtung eine wertvolle Verbesserung der Maschine darstellte, die diese in einer wichtigen Funktion von der Hilfe der Menschenhand unabhängig machte und dadurch deren Zuverlässigkeit und Selbsttätigkeit bedeutend erhöhte. Schließlich wurden die Schnüre durch kleine Gestänge ersetzt, die jene automatischen Bewegungen noch besser ausführten. So hatte die Lust zum Spiel aus einem Jungen von zwölf Jahren einen Erfinder gemacht, der in der Entwicklungsgeschichte der Dampfmaschine nie vergessen werden wird.
Der hier geschilderte Vorfall zeigt, daß die erfinderische Fähigkeit schon im jungen Menschen, schon im Kinde ruht. Und das ist auch nicht weiter verwunderlich. Im Gegenteil, das Kind ist sogar der Erfinder schlechtweg, da es in seiner allmählichen geistigen Entwicklung, angeregt durch Spiel und Trieb und durch die mancherlei Notwendigkeiten seines jungen Daseins, die Erfindungen der Menschheit zum Teil wiederholt. Eins der wichtigsten und wertvollsten Ergebnisse der modernen biologischen Wissenschaft, das sogenannte phylogenetische Grundgesetz, besagt, daß das menschliche Individuum im Embryonalzustand alle die verschiedenen Formen und Entwicklungsphasen durchmacht, die der Mensch in seiner Artentwicklung, also in dem Aufstieg von den frühesten Formen seiner morphologischen Beschaffenheit bis zur heutigen Menschheitsstufe, im Lauf der Jahrmillionen zurückgelegt hat.
Und ebenso können wir zweifellos sagen, daß der Mensch als Kind und in seiner kindlichen Entwicklung, in der allmählichen Ausbildung seines Geistes, seiner Anschauungsweisen und Fähigkeiten, die ganze Kulturentwicklung der Menschheit in allen ihren Phasen und Stufen durchgeht und dabei auch die Erfindungsgeschichte der Menschheit zu einem großen Teil wiederholt. Das Kind, das zum erstenmal einen harten, schweren und widerstandsfähigen Körper, ein Stück Holz, eine Klapper, einen Löffel in die Hand bekommt und mit diesem voll Lust und Spiel auf den Tisch schlägt, hat damit die Wirkungsweise des Hammers erfahren und die Erfindung dieses wichtigsten aller Werkzeuge für seine kleine Person gemacht; das Kind, das zum erstenmal auf eine Fußbank gelangt und, sich auf dieser aufrichtend, plötzlich über den Tisch gucken kann, hat damit das Prinzip von Treppe und Leiter von neuem erfunden, und in zahllosen anderen Fällen schafft und findet es so selbst die für sein junges Dasein wertvollen und zweckmäßigen Formen heraus, erweist es sich ohne allen Anspruch auf Patentfähigkeit als Erfinder. Was der Mensch in den ur- und vorgeschichtlichen Entwicklungsstufen der Kultur in den bitteren Notwendigkeiten des Lebens und im Kampf ums Dasein vor ungezählten Zehntausenden von Jahren erfand, die ersten und primitivsten Werkzeuge und technischen Anwendungsweisen, das erfindet durch Spiel und Notwendigkeit das Kind von neuem. Vielleicht würde die Betrachtung und wissenschaftliche Erforschung dieser Seite der kindlichen Betätigung sehr wertvolle Aufschlüsse zur Psychologie des Kindes überhaupt liefern, würde vielleicht auch den Zusammenhang zwischen Spiel und Erfindungstrieb aufdecken und manchen Rückschluß auf die Psychologie des Urmenschen zulassen.
Also das Kind ist der Erfinder schlechtweg, und daher kann es uns auch nicht wundern, daß das kindliche Spiel auch zu Erfindungen im höheren technischen Sinne, sozusagen im Sinne der Patentfähigkeit, führt, wie wir es an der Erfindungstat des jungen Humphry Potter soeben sahen. Und diese ist keineswegs der einzige Fall, wo aus kindlichem Spiel eine bedeutsame Erfindung hervorgegangen ist. Auch eine der wichtigsten Erfindungen der modernen Verkehrstechnik, nämlich die Erfindung des Pneumatiks, ist auf ganz ähnliche Weise erfolgt. Das ging folgendermaßen zu: In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war das Fahrrad, das »Veloziped«, wie man es damals noch nannte, aufgekommen, zumeist als Dreirad, erst späterhin als Zweirad in Form des Hochrades gebaut und zunächst noch mehr ein Kinderspielzeug, das seine spätere Bedeutung und Entwicklung als Sport- und praktisches Verkehrsmittel noch kaum ahnen ließ. Schon damals war die Bereifung des Vehikels ein Problem; man verwandte als solche eine Art Vollgummi, der seine Dienste denn auch recht und schlecht, zumeist allerdings mehr schlecht als recht, tat.
Ein solches Dreirad hatte auch der irische Tierarzt Dunlop aus Belfast seinem Sohn zum Geschenk gemacht, der mit dem neuen Fahrzeug alsbald fleißig auf den Straßen seiner Vaterstadt herumkutschierte. Das Vergnügen war nun allerdings mehr interessant als schön. Denn auf dem holperigen Pflaster Belfasts war der junge Radler einem dauernden Schütteln ausgesetzt, und der Vollgummireifen war nur wenig geeignet, dieses Übel zu mildern. Nannten doch die Engländer damals die neuartigen Fahrzeuge bezeichnenderweise noch » bone-shakers«, Knochenschüttler, und der junge Dunlop hatte die Berechtigung dieser Bezeichnung oftmals schmerzlich am eigenen Leibe zu spüren.
Zusammen mit seinem Vater suchte er dem Übel ein Ende zu machen, und die beiden kamen auf den Gedanken, daß sich dieser Zweck vielleicht erreichen ließe, wenn eine elastischere Bereifung als der Vollgummi um die Räder gelegt würde. Und als man den Blick suchend in der Runde schweifen ließ, da kamen sie auf den Gedanken, daß ein aufgepumpter Gasschlauch vielleicht eine solche gewünschte elastische Bereifung sein könne. Der Versuch wurde gemacht. Ein mit Hilfe einer Luftpumpe aufgeblasener und nur sehr primitiv verschlossener Gasschlauch statt des Vollgummireifens um das Rad gelegt, und – wie mit einem Schlage waren die unangenehmen Erschütterungen beim Fahren beseitigt oder doch wenigstens auf ein Minimum vermindert.
Der überraschende Erfolg ließ Dunlop die große praktische Bedeutung der Verbesserung erkennen und veranlaßte ihn, nachdem er sie noch etwas verbessert hatte, den Patentschutz dafür nachzusuchen. Das war die Erfindung des Pneumatiks, geboren aus kindlichem Spiel, um einem Übelstand beim Spielen abzuhelfen, aber dazu berufen, eine Grundlage moderner Verkehrstechnik zu werden, von der sowohl das Fahrrad wie das Automobil ihren Ausgangspunkt genommen haben, die beide niemals ohne den Pneumatik auch nur annähernd das hätten werden können, was sie in der verhältnismäßig kurzen Zeit seit jener Erfindungstat für alle Welt geworden sind.
Ein höchst berühmtes Beispiel der erfinderischen Fähigkeit eines kindlichen Geistes, das sogar in der selbständigen Auffindung einer wissenschaftlichen Erkenntnis bestand, hat uns der große Mathematiker Karl Friedrich Gauß hinterlassen. Als Neunjähriger besuchte der kleine Gauß die Volksschule seiner Vaterstadt Braunschweig, und in der Rechenstunde gab der Lehrer eines Tages den etwa hundert Schülern der Klasse die Aufgabe auf, die Summe aller Zahlen von 1 bis 100 auszurechnen. Er tat das allerdings weniger aus Unterrichtsgründen, als weil er selbst für eine schriftliche Arbeit, die er während der Unterrichtsstunde fertigstellen wollte, ungestört Zeit zu haben wünschte.
Natürlich glaubte er die Kinder für mindestens eine Stunde mit der gestellten Aufgabe beschäftigt und war daher aufs höchste verblüfft, als schon nach wenigen Minuten der kleine Gauß an das Katheder trat und ihm die Rechentafel mit dem fertigen Resultat und den klassischen Worten im Braunschweiger Dialekt: »Da ligget se!« auf den Tisch legte. Möglich, daß der gestrenge Präzeptor zunächst der Meinung war, daß der kleine Rechner in den wenigen Minuten wohl weiter nichts als irgendeinen blühenden Unsinn zusammengerechnet habe, da er sich sonst die Schnelligkeit des Verfahrens nicht erklären konnte; doch bei näherem Zusehen erlebte er ein Wunder. Das Resultat war richtig, aber freilich nicht in der Art errechnet, wie es der Lehrer vorausgesetzt hatte und wie es alle anderen Schüler der Klasse taten, also durch mühsames Addieren der aufgegebenen Zahlen, sondern nach eigener Methode, die viel schneller zum Ziel führte. Der kleine Gauß hatte, sowie die Aufgabe gestellt war, einen Zusammenhang gesehen und die Ausrechnung in der folgenden Weise vorgenommen:
1, | 2, | 3, | ................ | 50 |
100, | 99, | 98, | ................ | 51 |
|
||||
101, | 101, | 101, | 101 |
Er hatte also zunächst die Zahlen 1 bis 50 in einer Reihe hingeschrieben, dann in umgekehrter Reihenfolge darunter die Zahlen von 51 bis 100 und dadurch 50 Summen von je 101 erhalten. Das Gesamtresultat also mußte 50 × 101 = 5050 sein, was sich in einer Minute ausrechnen ließ, und damit war die ganze Aufgabe gelöst. Diesen Zusammenhang hatte der Neunjährige sofort herausgefunden und zur Anwendung gebracht. Natürlich hatte er damit nichts Neues gefunden, wenn seine Methode sicher auch dem Lehrer selbst unbekannt war. Wohl aber hatte er diese wissenschaftliche Methode für sich selbst gefunden und damit eine Probe erfinderischen Genies gegeben, wie sie in ihrer Art ganz einzig dasteht. Jener Lehrer, den der kleine Gauß durch die schnelle Lösung so sehr überraschte, nahm daraufhin Veranlassung, die Aufmerksamkeit Höhergestellter auf das junge Genie zu lenken und diesem die Wege zu ebnen, die Karl Friedrich Gauß schließlich zu der unbestrittenen Stellung des größten Mathematikers aller Zeiten oder, wie ihn seine Kollegen nannten, des Fürsten der Mathematiker führen sollten.